Kaum einer kennt sie: Die Masin-Brüder sorgten einst für die spektakulärste Flucht, die es durch den Eisernen Vorhang, von Ost nach West gab.
Von Norbert Haenschke
Angesichts eines missglückten Pistolenattentates auf Erich Honecker im Jahr 1982 ist es nicht ganz abwegig zu fragen, was denn geschehen wäre, wenn der Attentäter – Paul Eßling – Erfolg gehabt hätte und ihm anschließend noch die Flucht nach Westberlin geglückt wäre.
Hätte Bonn ihm wegen der in der DDR drohenden Todesstrafe Asyl gewährt oder hätten ihn die Westalliierten ausgeliefert, um in jedem Fall eine Eskalation des kalten Krieges zu vermeiden? Würde man heute politisches Motiv für so eine Tat akzeptieren oder den Schützen als blutrünstigen Möchtegernhelden betrachten, der das Regime am Ende gestützt und der Opposition geschadet habe? Allein: Das Attentat, bei dem ein Leibwächter Honeckers schwer verletzt wurde, geschah aus dem Affekt und war nicht politisch motiviert.
Für unser Nachbarland Tschechien sind das alles nicht nur theoretische Erörterungen.
Dort gab es in den fünfziger Jahren die Brüder Josef und Ctirad Masin, die den Sprengstoff für einen Anschlag auf den stalinistischen Präsidenten Klement Gottwald bereits besorgt hatten. Als Angehörige der ehemaligen Oberschicht erlebten die Brüder den stalinistischen Terror dieser Zeit aus nächster Nähe: viele von denen, die über Nacht auf Nimmerwiedersehen verschwanden oder in Schauprozessen zum Tode verurteilt wurden, waren Bekannte oder Freunde der Masin-Familie.
Ihre tatsächlich durchgeführten Anschläge waren allerdings um etliche Nummern kleiner, die Opfer vor allem einfache Polizisten und Volksmilizionäre. Sie verfassten keine Bekennerschreiben, sondern verließen sich darauf, dass ihre Aktionen als Partisanenkampf anerkannt würden. Genau deshalb kann man in ihnen – analog zur Ostberliner Gladow-Bande – auch Gewaltverbrecher mit lediglich vorgeschobenen politischen Zielen sehen, wie es der ostdeutsche True-Crime-Autor Wolfgang Mittmann tat.
Dagegen spricht allerdings die große Unterstützung, die sie von Militärveteranen aus dem Umfeld ihres Vaters erhielten. Dieser, Josef Masin senior, hatte unter anderem am Attentat auf SS-Statthalter Reinhard Heydrich mitgewirkt, war hingerichtet und in der CSR posthum zum General befördert worden. Dieses Umfeld sorgte auch dafür, dass pubertäre Jungenträume wie das Attentat auf Gottwald oder ein Grenzdurchbruch mit einem selbstgebauten Panzerfahrzeug zugunsten durchführbarer, exakt geplanter Anschläge fallen gelassen wurden. Gewaltfreier Widerstand lag wohl außerhalb der Vorstellungswelt der militärisch geprägten Brüder. Der wurde aber – wie das Schicksal der Bürgerrechtlerin Milada Horáková zeigt – seinerzeit ebenfalls als Hochverrat eingestuft und mit dem Tode bestraft.
Im Herbst 1953 machten sich die Brüder dann mit 3 Freunden auf die Flucht Richtung Westberlin, um bei der erwarteten Eskalation des Kalten Krieges auf der “richtigen” Seite zu stehen. Diese Wild-West-Flucht begründete ihren Heldenmythos, da sie erst durch Schüsse auf Polizisten die größte Fahndungsaktion der DDR-Volkspolizei auslösten und ihr dann scheinbar mühelos entkamen; trotz eines Aufgebots von tausenden Volkspolizisten und sowjetischen Soldaten. Dabei tötete die Masin-Gruppe drei ihrer Verfolger während der Flucht, noch einmal so viele wurden irrtümlich von eigenen Kollegen unter Feuer genommen. Nur zwei der Flüchtenden wurden gestellt. Erst deren Geständnisse führten dann zur Aufklärung der in der Tschechoslowakei verübten Taten.
Die Masins und ihr verbliebener Begleiter, Milan Paumer, schlossen sich in Erwartung einer bevorstehenden Invasion der US-Armee an. Glücklicherweise kam es nicht zu einem „Vietnam in Europa“, sondern – mit großer Verspätung – zu friedlichen Revolutionen.
In Tschechien wurde den Masins 1995 – sechs Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – Straffreiheit zugesichert, Terrorurteile gegen ihre Verwandten und Helfer aufgehoben. Die Kontroverse „Helden oder Mörder?“ spaltet seitdem die Gesellschaft, glühenden Verehren stehen erbitterte Gegner gegenüber.
Manchen Tschechen der jungen Generation sagt der Name „Masin“ inzwischen genauso wenig wie ihren deutschen Altersgenossen. Vermutlich wird die Debatte über die Frage der Legitimität des bewaffneten antikommunistischen Widerstandes eher absterben als endgültig entschieden zu werden. Von den Betroffenen lebt mittlerweile nur noch Josef Masin, der am heutigen Freitag 81 Jahre alt wird.