Mursi und der Westen
Die westliche Berichterstattung liefert ein Zerrbild der Lage in Ägypten. Denn die Konfliktlinie verläuft nicht zwischen zwei gleich großen Parteien liberaler und islamistischer Prägung. Auch die Verteufelung der Muslimbruderschaft führt zu keinem Erkenntnisgewinn.
Von Dennis Walkenhorst
Kaum ein Thema kann sich momentan größerer medialer Beliebtheit erfreuen als die aktuellen politischen Problemlagen der Region des Nahen Ostens. Neben dem scheinbar endlos oszillierenden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, hat vor allem das Lieblingskind der westlichen Medien, die so genannte “Arabellion”, auch ein knappes Jahr nach ihrem vorläufigen Abschluss kaum etwas an ihrer ursprünglichen Faszination eingebüßt. Besonders das Missverhältnis zwischen den (vermeintlich) kommunizierten Forderungen der jugendlichen Protestanten nach demokratischen Grundrechten und den gegenwärtig zu beobachtenden politischen Realitäten schürt das Feuer in den Argusaugen der westlichen politischen Beobachter.
Im Fokus steht der ägyptische Präsident Mohammed Mursi, der als Vertreter der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit den politischen Arm der Muslim-Bruderschaft vertritt. Neben den von ihm bislang angeschobenen Reformen, die eine Machtausweitung seiner Befugnisse gegenüber der noch immer von den Kadern des alten Mubarak-Regimes durchsetzten Justiz beinhalteten, ist es vor allem seine teilweise an der Sharia orientierte Verfassungsvorlage, die auf westlicher Seite für Empörung und Entsetzen sorgt.
Dabei scheint es ein offenes, aber gleichsam nur schwer erträgliches Geheimnis zu sein, dass sich innerhalb des Votums am 15. Dezember eine Mehrheit für den von Mursi vorgelegten Verfassungsentwurf finden wird. Schon im Vorhinein, quasi präventiv, begeben sich die westlichen Medien in die Startlöcher der offenen Verurteilung: “Spiel mit dem Feuer” , “der neue Pharao”, “generell ungesunde Tendenzen” werden ausgemacht. Doch die eingeschränkte und ideologisch verblendete westliche Perspektive verkennt einige elementare politische Realitäten der Region oder – was noch viel schlimmer wäre – ignoriert sie bewusst.
Die nach dem Sturz des Mubarak-Regimes abgehaltenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen jedenfalls brachten realistische Abbilder der politischen Stimmungslage innerhalb Ägyptens hervor. An dem Grad der Repräsentativität und den freiheitlichen und fairen Bedingungen gab es keinen Zweifel. Besonders das Ergebnis der Parlamentswahlen ergab ein Bild, das sich aus einer dominanten Muslim-Bruderschaft, erschreckend starken Salafisten und einigen liberalen Kräften, quasi als “Randnotiz”, zusammensetzen sollte. Darüber hinaus können die Parlamentswahlen auch als Wendepunkt in der Wahrnehmung durch die westlichen Medien interpretiert werden. Die naive, geradezu euphorische Begeisterung für die vermeintlich anrollende Demokratisierungswelle erstarrte schlagartig, offene Verzweiflung und unverhohlene Kritik dominierten den Diskurs. Wie konnten die Kinder nur ihre eigene Revolution verraten?
Es ist vor allem die politische Rolle der Muslim-Bruderschaft, die Aufschluss über diese “ungesunden” Entwicklungen gibt. Trotz systematischer Unterdrückung infolge eines offiziellen Verbots durch die Diktaturen Nassers, as-Sadats und Mubaraks, operierte sie innerhalb des ägyptischen Staatsgebietes jahrzehntelang als einzig ernstzunehmende soziale Hilfsorganisation, gründete Krankenhäuser und Gesundheitszentren, widmete sich der Armutsbekämpfung und spendete religiösen Trost und wirtschaftliche Beihilfe für einen großen Teil der exkludierten ägyptischen Bevölkerung.
Gerade aufgrund dieser Übernahme essentiell notwendiger Funktionen, die der ägyptische Staat selbst nur in unzureichendem Maße aufrechterhalten konnte, festigte sich das innerägyptische Bild der Muslim-Bruderschaft als Organisation mit einem “wahrhaftigen” Interesse an den Problemlagen des ägyptischen Volkes, als Sozialdienstleister und “Kitt”, der die ägyptische Gesellschaft im innersten zusammenhält und den sozialen Frieden bewahrt. Kann es da noch verwundern, dass der politische Arm einer solchen Organisation bei den ersten freien Parlamentswahlen einen solch überwältigenden Erfolg einfährt?
Diese Umstände zu ignorieren, zeugt von einer unermesslichen Arroganz. Die Konfliktlinie innerhalb Ägyptens liegt nicht, wie gerne von den westlichen Medien dargestellt, zwischen zwei gleich großen Parteien liberaler und islamistischer Prägung. Der viel zentralere Konflikt liegt zwischen den noch immer in großem Umfang vertretenen Kadern der alten Mubarak-Diktatur und den erstarkten Muslim-Brüdern. Der momentane Stillstand innerhalb der ägyptischen Politik wird auch durch die sich gegenseitig behindernden Rollen dieser beiden Lager verursacht.
Erst wenn Mursi klare Strukturen geschaffen hat, um wirklich “durchregieren” zu können, kann sich seine Politik einer Bewertung unterziehen. Die Muslim-Brüder sind hier in der Verantwortung, doch die bisherigen Äußerungen Mursis sowie der ausgeprägte Pragmatismus, den diese Organisation innerhalb ihrer Entwicklung immer wieder unter Beweis gestellt hat, lassen eine potentielle Errichtung eines islamistischen “Gottesstaates” eher als ein konstruiertes Schreckgespenst der westlichen Medienwelt erscheinen – ebenso wie die dramatische Überhöhung des in nackten Zahlen eher geringen Widerstandes gegen die Regierung Mursi. Die Proteste einer Minderheit werden zur “wahren” Stimme der Revolution hochstilisiert, der Glaube an Demokratie und Mehrheitswillen weicht schleichend einem Verständnis von liberaler Diktatur und einem westlichen “Erziehungsauftrag”. Die Enttäuschung schlägt in offenen Hass um.
Und übrigens: Wer nun als westlicher Beobachter und aufrechter Verfechter von Freiheit und Demokratie den Blick ein wenig weiter Richtung Osten richtet, den wird es erst recht grausen. Denn die Rolle, die die Muslim-Bruderschaft für Ägypten einnimmt, kann nahezu identisch auf eine ihrer Ableger, die in den palästinensischen Autonomie-Gebieten operierende Hamas, übertragen werden. Wenn also im stetig schwelenden Nahost-Konflikt von israelischer Seite davon die Rede ist, dass es so lange keinen Frieden geben wird, wie die Hamas existiert und eine zentrale Rolle einnimmt, dann erwarten uns wohl weitere Jahrzehnte in Begleitung eines altbekannten Konfliktes.
Dennis Walkenhorst ist Politikwissenschaftler und Doktorand an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology der Universität Bielefeld und bloggt auf Alltagsbeobachtungen
Danke für den Artikel, endlich mal glaubhafte Informationen, die ich bei “unseren” Staatsmedien vergeblich suche.
In der vermeintlichen Arabischen Revolution sehen viele Meinungsführer der westlichen Medienlandschaft eine Chance für eine Markterweiterung von CocaCola, MercedesBenz, Cucci, Prada und andere. Würden westliche Marken in der arabischen Region stärker Fuß fassen, würden Absatzzahlen steigen und damit die Aktienkurse. Wenn nun die Sharia und damit der Glaube ein größeres Gewicht bekommt, als die freie Meinung, können sich westliche Denkweisen, die sich in Gier und “Habenwollen” ausdrücken, leider nicht entwickeln. Insofern versucht die westliche Presse die Sharia Interessen gelenkt zu verteufeln.
Eine schöne Betrachtung ohne die aufgesetzte Brille des Wunschdenkens und der Klischees, wie sie gerade in dieser Region von vielen selten abgenommen wird. In ihrer jetzigen Form und unter diesen Verhältnissen werden Hamas und Muslimbrüderschaft nicht so schnell der Vergangenheit angehören. Was tun?
> eine Chance für eine Markterweiterung von CocaCola, MercedesBenz,
> Cucci, Prada und andere.
Genau das ist es. Dieser US-amerikanische Blick, welcher auch in Europa dominiert und das Grundgerüst der EU ist. Freie Märkte für die starken Marken.
Auch ich möchte mich für den erhellenden Artikel bedanken! Und ich schließe mich ebenso den bisherigen Kommentaren an.