Arbeitszeitverkürzung

Ein Manifest

Die Möglichkeiten einer alternativen Wirtschaftspolitik sind auch jetzt, 3 Jahre nach Beginn der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise in Europa immer noch ein Tabuthema. Das “Window of Opportunity”, von dem so viele nach Ausbruch der Krise sprachen, scheint wieder geschlossen zu sein. Restriktive Sparkurse neoliberaler Dogmatik sollen im EU-Raum nicht nur die Staatshaushalte sanieren, sondern auch die Massenarbeitslosigkeit, die bei jungen Menschen besonders hoch ist, beseitigen. Doch die Strategien des IWF; denen sich die Schuldnerstaaten unterwerfen müssen, scheitern grandios.

Gleichzeitig wird den Menschen, die vor allem in Griechenland und Spanien auf die Strasse gehen, um gegen die staatliche Kürzungspolitik zu protestieren, oft Uneinsichtigkeit, bestenfalls jedoch Sinnlosigkeit ihres Anliegens unterstellt, da sich der Protest eben gegen alternativlose Sachzwänge richte. Damit aber wird auch in der öffentlichen und medialen Debatte die Mär aufrecht erhalten, dass die derzeitige Wirtschaftspolitik letztendlich doch der einzig richtige Weg sei.

Doch gerade das Problem der Massenarbeitslosigkeit, das man längst nicht mehr mit orthodoxen wirtschaftspolitischen Maßnahmen in den Griff bekommt, ist die entscheidende Ursache für den Druck auf Löhne und Sozialleistungen. Die “Armee der Reservearbeiter” erlaubt es Unternehmern, die Arbeitnehmer und Arbeitslosen gegeneinander auszuspielen, und Rekordgewinne einzufahren.

Zum Vergleich: das Arbeitsvolumen des gesamtdeutschen Arbeitsmarktes der Bundesrebublik (ohne DDR) hat von 1960 bis 2008 nur um 2,7 % zugenommen, zugleich ist das Potenzial der Erwerbspersonen aber um 69 % von 26,3 Millionen auf 44,4 Millionen Personen gewachsen. Gleichzeitig setzen die Arbeitgeberverbände seit Ende der 1990er Jahre vielerorts wieder Arbeitszeitverlängerungen durch. So wurde die Arbeitszeit teilweise (Beamte in Bayern, Thüringen und Hessen) sogar auf bis zu 42 Stunden die Woche verlängert.

Ein Lösungsansatz, dessen Zeit in der postindustriellen Ära eigentlich schon längst gekommen ist, ja bereits von John Maynard Keynes aufgegriffen wurde, ist aber im Gegenteil die Arbeitszeitverkürzung. Im folgenden wird dazu eine in drei Teile gegliederte Stellungnahme von den Ökonomen Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat präsentiert.

Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit

Von Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat

Der Kapitalismus, oder besser gesagt, das freie Unternehmertum wird auf die Dauer außerstande sein, die Arbeitslosigkeit zu steuern (die sich wegen des technischen Fortschritts immer mehr zu einem chronischen Übel auswächst), um zwischen der Produktion und der Kaufkraft des Volkes ein gesundes Gleichgewicht zu halten.“ (Albert Einstein)

Massenarbeitslosigkeit in Deutschland

Seit Mitte der 1970er Jahre herrscht in Deutschland Massenarbeitslosigkeit. Das marktwirtschaftlich-kapitalistische System und die jeweils herrschende Politik waren nicht in der Lage, für Vollbeschäftigung zu sorgen. Die jüngsten Zahlen sprechen – trotz statistischer Tricks beim Ausweis der Erwerbslosenzahlen – eine deutliche Sprache. Seit der Wiedervereinigung waren von 1991 bis 2010 jahresdurchschnittlich in Deutschland fast 3,8 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Diesen registrierten Arbeitslosen sind alle die Menschen hinzuzurechnen, die sich wegen Aussichtslosigkeit nicht mehr bei den Arbeitsagenturen melden oder nicht mitgezählt werden, weil sie sich z.B. in Arbeitsbeschaffungs-, Eingliederungs- und Weiterbildungsmaßnahmen oder in Ein-Euro-Jobs befinden.

Die tatsächliche Arbeitslosigkeit ist demnach viel höher. Zu der offiziellen jahresdurchschnittlichen Arbeitslosenzahl von 3,2 Millionen in 2010 müssten demnach noch rund 1,7 Millionen verdeckte und sich in der stillen Reserve befindliche Arbeitslose addiert werden. Hinzu kommt die unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung von etwa zwei Millionen Menschen, die rund einer Million zusätzlicher Vollzeitstellen entspricht. Insgesamt lag damit
die Beschäftigungslücke an deutschen Arbeitsmärkten im Jahr 2010 bei rund 5,9 Millionen fehlender Arbeitsplätze. Eine katastrophale Arbeitsmarktsituation.

Rechnet man dazu auch noch die vielen prekären Arbeitsverhältnisse der Solo- und Scheinselbstständigen innerhalb der Zahl der insgesamt Selbstständigen und mithelfenden Familienmitglieder, die 2010 bei gut 4,4 Millionen lag, dann verdüstert sich das gesamte Bild noch zusätzlich. Seit 2000 gibt es in Deutschland sogar mehr Soloselbstständige als Selbstständige mit Beschäftigten.

Arbeitslosigkeit in der Krise – und nach der Krise

Vor diesem Hintergrund sind die jüngsten Verlautbarungen regierender Politikerinnen und Politiker zur Entwicklung an den Arbeitsmärkten, die von einem „Beschäftigungswunder“ sprechen, nur als zynisch zu verstehen. Richtig ist lediglich, dass 2009 im Zuge der schlimmsten weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise seit achtzig Jahren die schon vor der Krise bestehende Massenarbeitslosigkeit in Deutschland nicht weiter angestiegen ist. Ursächlich dafür waren:

· Vorübergehende Arbeitszeitverkürzungen wie der Abbau von Überstunden und Arbeitszeitkonten

· Ein massiver Aufbau von Kurzarbeit (in der Spitze waren 1,5 Millionen Beschäftigte davon betroffen)

· Ein weiterer Anstieg von Teilzeitbeschäftigung bei einem gleichzeitigen Rückgang von Vollzeitbeschäftigung.

Die Unternehmen haben durch „Horten von Arbeitskräften“ einen Rückgang der Stundenproduktivität in den Unternehmen hingenommen. Insgesamt konnte der als Folge eines Rückgangs des Bruttoinlandsprodukts um 4,7 Prozent erwartete Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert werden. Für diese Art „Überbrückung“ der Krise zahlten
allerdings hauptsächlich die Beschäftigten (durch geringere Einkommen) und der Staat mit einer erhöhten Staatsverschuldung. Die Arbeitgeber dagegen sparten durch Kurzarbeit und Vermeidung von Entlassungen nicht nur die Kosten der Sozialpläne, sondern auch den beträchtlichen Aufwand, der bei Wiedereinstellungen nach der Krise entstanden wäre.

Das „Personalhalten“ durch eine vorübergehende Arbeitszeitverkürzung ist aber nicht gleichzusetzen mit der notwendigen kollektiven Verkürzung der Arbeitszeit. Außerdem basierte das praktizierte „Personalhalten“ auf einem „Insider-Modell“. Die Beschäftigten hatten vor der Krise durch Überstunden enorme Guthaben auf Arbeitszeitkonten aufgebaut, von denen in der Krise gezehrt werden konnte. Diese ausgesprochen kapitalfreundliche Arbeitszeitflexibilität führt im Ergebnis dazu, dass die Arbeitslosen (Outsider) immer geringere Chancen haben, überhaupt noch eine Beschäftigung zu finden.

Es ist symptomatisch, dass im konjunkturellen Aufschwung die Arbeitszeiten der Vollzeitbeschäftigten schon wieder auf über 40 Wochenstunden angestiegen sind und sich dem hohen Vorkrisenniveau annähern. Jeder zehnte Erwerbstätige gab 2009 an, gewöhnlich sogar mehr als 48 Stunden pro Woche zu arbeiten.

Neoliberale Apologeten aus Politik, Wissenschaft und Medien sprechen nicht nur fälschlich von einem „Beschäftigungswunder“, sondern sie versprechen sogar Vollbeschäftigung, die nicht mehr weit entfernt sei. Die Ursache liege in der demografischen Entwicklung. Infolge des Bevölkerungsrückgangs drohe bereits ein Fachkräftemangel. Deswegen müssten verstärkt Fachkräfte aus dem Ausland angeworben und die Arbeitszeiten verlängert werden. Dazu stellte eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Herbst 2010 fest, dass es in Deutschland zu einem Fachkräftemangel zumindest mittelfristig nicht kommen wird, sondern in manchen Branchen sogar eher mit einer „Fachkräfteschwemme“ zu rechnen sei.

Hierbei ist zu bedenken: „Den“ Arbeitsmarkt gibt es nicht, Arbeitsmärkte sind immer nur spezifizierte Teilmärkte auf denen zeitlich befristet Verknappungen auftreten können und trotzdem liegt insgesamt in einer Volkswirtschaft Massenarbeitslosigkeit vor. In Folge einer Überschussnachfrage nach Arbeit muss der Preis (Lohn) für die Arbeitskräfte stark steigen. Auch hierfür, stellt das DIW fest, gibt es derzeit keine Hinweise. Schließlich ist auch partieller Fachkräftemangel ein Indiz für vernachlässigte Aus- und Weiterbildung in der Vergangenheit.

Belastungen und Kosten der Arbeitslosigkeit

Arbeitslosigkeit bedeutet für den Einzelnen einen „Gewaltakt, ein(en) Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität“ (Oskar Negt). Arbeitslosigkeit ist Missachten von Kenntnissen und Fähigkeiten, die der Mensch in Familie, Schule, Ausbildung oder an einer Hochschule über Jahre erworben hat. Bei längerer Arbeitslosigkeit droht das erworbene Arbeitsvermögen zu verkümmern, letztlich kann es sogar zu Persönlichkeitsstörungen und
psychosomatischen Krankheiten kommen. Gleichzeitig ist Arbeitslosigkeit ein Zeugnis für die Unfähigkeit eines Systems und der herrschenden Politik, wenn Millionen von Menschen und deren produktives Potential in ein gesellschaftliches Abseits geschoben werden. Es ist ein Skandal ersten Ranges,

· dass Menschen gezwungen werden, sich in die Obhut einer Arbeitsmarktbürokratie zu begeben, die bei einem Defizit von mehreren Millionen Arbeitsplätzen kaum in der Lage ist, Arbeit zu vermitteln, und sich deshalb oftmals darauf beschränkt, die Arbeitslosen zu schikanieren und die Öffentlichkeit zu beschwichtigen;

· dass für die Verwaltung von Massenarbeitslosigkeit und für die Disziplinierung der Arbeitslosen gesellschaftliche Werte in beträchtlichem Umfang aufgewandt werden müssen, statt diese in Qualifizierung und Beschäftigungsförderung zu investieren;

· dass Millionen von Menschen, die arbeiten wollen, gegen ihren Willen zur Hartz IV-Tortur gedrängt und zu staatlichen Almosenempfängern degradiert und ihrer Menschenwürde beraubt werden.

Die Lasten der Arbeitslosigkeit treffen aber nicht nur den oder die Einzelne/n, sondern die gesamte Gesellschaft: Arbeitslosigkeit bedeutet nicht nur, dass der Einsatz menschlicher Arbeit begrenzt und Teile eines möglichen gesellschaftlichen Reichtums vergeudet werden, da die Gesamtwirtschaft bei Arbeitslosigkeit unter ihren Möglichkeiten lebt. Hinzu kommt, dass Arbeitslosigkeit mit einer enormen Belastung der öffentlichen Haushalte einhergeht.

Diese resultiert sowohl aus Mehrausgaben unmittelbar für Einkommensersatzleistungen (Arbeitslosengeld I und II), und mittelbar aus Mindereinnahmen durch Steuerausfälle und den Rückgang des Sozialbeitragsaufkommens. Die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit lagen laut Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Durchschnitt der Jahre 2001 bis 2007 bei rund 83 Milliarden Euro pro Jahr. Dazu kommen bisher nicht berechnete Kosten für die Gesellschaft aufgrund von Krankheit, Obdachlosigkeit, Kriminalität etc. in Folge von Arbeitslosigkeit und die Einnahmeausfälle im Konsumsektor der Wirtschaft aufgrund der niedrigen Einkommen der Arbeitslosen.

Arbeitslosigkeit diszipliniert die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften

Unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit leben die Beschäftigten mit der ständigen Angst, in die Erwerbslosigkeit abzurutschen. Diese Angst dominiert den Alltag und das Familienleben vieler lohnabhängig beschäftigter Menschen. In Deutschland leidet inzwischen jede/r Sechste unter Angst vor Arbeitsplatzverlust. Angst lähmt die Menschen, mindert ihre Kreativität und Leistungsfähigkeit und treibt sie zum Verzicht auf erworbene Rechte in der bloßen Hoffnung, so ihren Arbeitsplatz sichern zu können. Diese Entwicklung hat die
Verhandlungsmacht der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgeberverbänden nachhaltig geschwächt. So entstand sukzessive der Nährboden für alle möglichen Zugeständnisse bei der Lohnhöhe, bei der Arbeitszeit und bei den Sozialleistungen.

Zudem unterstützt die herrschende Politik einseitig das Interesse der Arbeitgeber an maximalem Profit. Hierfür steht besonders die „Agenda 2010“, die auf eine dauerhafte Spaltung der Gesellschaft in (noch) Beschäftigte und in Arbeitslose, in „brave“ und in „faule“, „arbeitsunwillige“ Menschen, die selbst an ihrem Schicksal der Erwerbslosigkeit Schuld seien, abstellt und das neoliberale Ziel verfolgt, in Deutschland einen breiten Niedriglohnsektor zu etablieren.

Es ist offensichtlich: Statt einer Machtbalance zwischen Kapital und Arbeit und einer zumindest neutralen
Verteilung der Wertschöpfungen sollte vielmehr ein Machtgefälle zu Gunsten der Kapitalseite als Dauerzustand erhalten und verstärkt werden. Statt Tarifverhandlungen auf Augenhöhe zu führen, sollten Unternehmer und ihre Verbände in die Lage versetzt werden, den Gewerkschaften, ihre Handlungsfähigkeit – das wichtigste Gut, das sie im Kapitalismus besitzen – schleichend zu nehmen und ihnen sogar die Ziele bei Tarifverhandlungen zu diktieren. Die Gewerkschaften wurden so in die Defensive gedrängt und in der Möglichkeit eingeschränkt, als wichtige gesellschaftliche Gestaltungskraft zu wirken und die Interessen der Lohn- und Gehaltsabhängigen wirkungsvoll wahrzunehmen.

Die markttheoretische Binsenweisheit, dass der Preis einer Ware bei Überangebot (Überproduktion) sinkt, gilt auch für den Arbeitsmarkt: Je größer das Angebot an Arbeitskraft (Arbeitslose) und je geringer die Nachfrage (offene Stellen), desto niedriger der Preis der Ware Arbeitskraft (die Löhne). Ja, es kommt sogar zu einer anormalen Arbeitsangebotsreaktion der abhängig Beschäftigten: Mit sinkendem Lohn weiten sie notgedrungen ihr Arbeitsangebot aus (Suche nach Zweitjobs, Bereitschaft zu Überstunden etc.), so dass das Angebot an Arbeit noch weiter steigt. Die Folge ist ein immer größer werdender Lohnverfall.

Unter diesen Bedingungen sind die Gewerkschaften kaum in der Lage, produktivitätsorientierte Reallohnsteigerungen durchzusetzen. Die Folgen des Systems der Umverteilung von unten nach oben liegen auf der Hand: sinkende Massenkaufkraft auf der einen und Kapitalüberschüsse auf der anderen Seite. Die Lohnquote sank allein von 2000 bis 2010 um 5,9 Prozentpunkte. Auf Basis der Lohnquote von 2000 belaufen sich die absoluten Verteilungsverluste für die abhängig Beschäftigten von 2000 bis 2010 auf insgesamt 789 Milliarden Euro. Dies führte in der sogenannten Realwirtschaft einerseits zu einem Nachfrage- und Beschäftigungsausfall und andererseits angesichts des überschüssigen und funktionslosen Kapitals zu Finanzspekulationen und schwerwiegenden Finanzkrisen, wie die jüngste Krise überdeutlich gezeigt hat.

Wachstum hielt mit der Produktivitätsentwicklung nicht mit

Die Bundesregierungen der letzten Zeit, ob rot-grüne, schwarz-rote oder schwarz-gelbe, versprachen zwar immer mehr Arbeitsplätze durch Wachstum, erreichten jedoch mit ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik allenfalls eine Zunahme an prekärer Beschäftigung. Die Massenarbeitslosigkeit wurde nicht beseitigt. Und sie konnte auch nicht beseitigt werden, da die Wachstumsreserven, wie die Graphik weiter unten zeigt, kontinuierlich sanken und die
Produktivitätsrate stets höher als die Wachstumsrate war.

Außerdem widerspricht eine reine Wachstumspolitik, die auch noch einseitig auf Exportexpansion setzt, jeglicher ökonomischen und ökologischen Vernunft. Sie ist amoralisch, kurzsichtig, krisenträchtig und auf Dauer zum Scheitern verurteilt. Erinnern wir uns: Die von purem Nationalismus getragene Politik der Expansion auf dem Rücken der Anderen war eine der Hauptursachen der ersten Weltwirtschaftskrise von 1929 und auch zur Zeit in der aktuellen Weltwirtschaftskrise spielen die enormen Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen der einzelnen Länder wieder eine wichtige Krisenrolle.

Selbst in den 1960er Jahren reichte das noch hohe reale Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik nicht mehr aus, um einen Rückgang des Arbeitsvolumens zu verhindern. Die Produktivitätsraten waren hier bereits höher als die Wachstumsraten. Ohne eine Verkürzung der durchschnittlichen Arbeitszeiten von einer 48-Stunden-Woche auf eine 40-Stunden-Woche, wäre selbst die kurze Phase der Vollbeschäftigung in der Nachkriegszeit nicht möglich gewesen.

Evident ist hierbei, dass zur Zeit einer vollbeschäftigten Wirtschaft die Arbeitszeiten reduziert und gleichzeitig die Einkommen erhöht, während in der langen Phase mit Massenarbeitslosigkeit die Arbeitszeiten verlängert und die Einkommen gesenkt wurden. Dieser Tatbestand erklärt sich aus der Stärke respektive einer Schwäche der Gewerkschaften. Ist Arbeit knapp, sind die Gewerkschaften in Tarifverhandlungen in einer starken Position und umgekehrt.

Das „goldene Zeitalter“ des Wachstums und des „Wirtschaftswunders“ konnte auf Dauer aber nicht aufrechterhalten werden. Die materiellen Grundlagen des Wachstums wurden immer mehr ausgeschöpft, und der Konsum stieß an relative Sättigungsgrenzen sowie das Wachstum selbst zunehmend auch an ökologische Grenzen. Hinzu kommt die Arbeitsplätze vernichtende Wirkung der anhaltenden Produktivitätsentwicklung. In der alten Bundesrepublik ist, wie schon erwähnt, selbst in der Phase des sogenannten „Wirtschaftswunders“ und der Zeit noch hoher Wachstumsraten, mit Ausnahme der 1980er Jahre, das Arbeitsvolumen gesunken.

Seit der deutschen Wiedervereinigung lagen die reale Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts im Jahresdurchschnitt nur noch bei knapp 1,2 Prozent und die Produktivitätssteigerung bei 1,5 Prozent. Wenn aber die Wachstumsrate geringer als die Wachstumsrate der Produktivität ausfällt, wird bei gleicher Arbeitszeit weniger Arbeitskraft benötigt und das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen, wie die folgende Graphik veranschaulicht, sinkt. Die Folge ist Arbeitslosigkeit. Auch in den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts wuchs das reale Bruttoinlandsprodukt jahresdurchschnittlich nur noch um 0,8 Prozent, während die Produktivität um 1,1 Prozent und damit das Arbeitsvolumen um 0,3 Prozentpunkte zurückging.

Veränderungsraten des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP), der Arbeitsproduktivität (AP) und des Arbeitsvolumens (AV) seit den 1960er Jahren bis heute (in Prozent)

Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen

Insgesamt sank in Deutschland somit sukzessive seit langem das Arbeitsvolumen. Dies zeigt auch der jüngste Trend: Zwischen 1991 und 2010 nahm die Zahl der Erwerbstätigen (abhängig Beschäftigte plus Selbstständige) zwar um gut 1,8 Millionen zu, das Arbeitsvolumen sank dagegen im gleichen Zeitraum um 2,360 Milliarden Stunden von 59,789 auf 57,429 Milliarden Stunden ab. Ursächlich hierfür ist der massive Ausbau der – zumeist von Frauen getätigten – Teilzeitarbeit.

Die Teilzeitquote (Anteil der Teilzeitbeschäftigten an allen abhängig Beschäftigten) erreichte 2010 den Höchststand von 34,8 Prozent. Dabei betrug die Wochenarbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten 38,24 Stunden, fast so viel wie 1975, und die der Teilzeitbeschäftigten nur 14,70 Stunden in der Woche. Dadurch reduzierte sich die durchschnittliche Arbeitszeit aller 36,1 Millionen abhängig Beschäftigter (davon 23,5 Millionen Vollzeitbeschäftigte und 12,6 Millionen Teilzeitbeschäftigte) auf inzwischen nur noch 30,1 Stunden pro Woche.

Insgesamt hat also schon eine massive Arbeitszeitverkürzung stattgefunden und zwar in doppelter Weise: Erstens durch eine starke Zunahme der Teilzeitbeschäftigung mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 14,70 Stunden. Und zweitens durch eine Senkung der Arbeitszeit auf Null für die 3,244 Millionen registrierten Arbeitslosen.

– Arbeitszeitverkürzung: Ein Manifest (Teil 2)

Print Friendly, PDF & Email
Filed in: Gesellschaft Tags: , , ,

Ähnliche Artikel:

<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Europäische Einigung</span><br/>Europa – Projekt in der Krise Europäische Einigung
Europa – Projekt in der Krise
<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Innovationen</span><br/>Der nützliche Staat Innovationen
Der nützliche Staat
<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Demokratie</span><br/>Institutionen des Wohlstands Demokratie
Institutionen des Wohlstands

7 Kommentare zu "Arbeitszeitverkürzung"

  1. querdenker sagt:

    Mit unserer jetzigen Wirtschaftsordnung ist es eben so eine Sache. Auf der einen Seite wird jeden Tag wieder deutlich das sie nicht perfekt ist, auf der anderen Seite lässt die Suche nach gleichwertigen oder besseren Alternativen immernoch auf Ergebnisse warten.
    Ich bin gespannt, wie sich das entwickeln wird.

  2. Tony Katz sagt:

    Deswegen benötigen wir ein anderes System. Der Kölner Erfinder Jörg Gastmann hat es vor 6 Jahren in seinem Buch “die Geldlawine” veröffentlicht. Auszüge: http://www.bandbreitenmodell.de
    Und eine Übersicht, warum das bandbreitenmodell auch als BGE 2.0 (basierend auf dem Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens, aber mit wesentlichen Verbesserungen bzw. Fehlervermeidungen) bezeichnet eine große Anzahl von derzeitigen Problemen löst:
    http://www.bandbreitenmodell.de/grundeinkommen

  3. Wissentlich sagt:

    Querdenker, es gibt sehr wohl praktikable Ansätze, von kleineren Modifikationen bis hin zum Systemumbruch, nehmen wir nur die Negative Einkommenssteuer (für das BGE ist die Zeit meines Erachtens noch nicht reif genug). Aber so lange Heerscharen von Lobbyisten und Bürokraten einen Wechsel in deren eigenem Interesse boykottieren, kann sich nichts ändern. Der erste Schritt zu Veränderungen besteht darin, diese manipulierenden und blockierenden Nutznießer zu entmachten, beispielsweise durch basalere Demokratie. Zum Topic: sehr empfehlenswerte Lektüre dazu ist Jeremy Rifkins “Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft”

Einen Kommentar hinterlassen

Kommentar abschicken

le-bohemien