“Gelebte Weltkultur” als Leitkultur

Die kürzlich wiederbelebte deutsche Debatte um die Frage „Leitkultur – ja oder nein?“ treibt zuweilen seltsame Blüten. Versuch einer Definition.

Wird im Rahmen der Integration von Migranten von (zumeist) konservativer Seite die Forderung nach einer deutschen Leitkultur erhoben, so erhebt sich im Anschluss geradezu reflexartig der heftige Widerspruch von SPD, Grünen und Linken, die schon bei bloßer Erwähnung des Wortes zusammenzucken.

Soweit nichts Neues. Überraschter kann man aber sein, wenn sogar die sonst eher rational gepolte, liberale Seite des Spektrums in den politisch korrekten Aufschrei mit einstimmt. Noch überraschter ist man, wenn dieser Aufschrei nicht bloß aus der Ecke schallt, aus der man ihn kennt – ich denke hier an den linksliberalen Flügel um Vertreter wie Baum und Leutheusser-Schnarrenberger – sondern von bisher immer sachlich agierender und argumentierender Seite. Die LHG an der Uni Bielefeld veröffentlichte kürzlich diesen, von erstaunlicher Polemik durchzogenen Blogartikel: http://lhg.julis-bi.de/2010/10/20/leitkultur-sabbel-di-doot

Zunächst: Nicht alles an dem Artikel der LHG ist falsch. Es ist in der Tat irreführend wie kontraproduktiv, noch im 21. Jahrhundert eine Leitkultur an Religion, ob christlich, jüdisch oder auch islamisch, fest zu machen. Diejenigen Unionspolitiker, die dies versuchen, verschaffen Deutschland ein Glaubwürdigkeitsdefizit, das nur schwer wieder zu beseitigen wäre: Wie kann man von Muslimen eine Entpolitisierung des Islams – genau darum geht es – verlangen, wenn man im gleichen Atemzug versucht, das Christentum zu re-politisieren? Spätestens seit der Aufklärung sollten wir über derartige Versuche hinweg sein.

Gleichzeitig jedoch stellt man sich bei der Lektüre des Artikels auch die Frage: Wieso die polemisch und schenkelklopfend-humoristisch formulierte Abgrenzung von jeglicher Form von Leitkultur? Eine adäquatere Auseinandersetzung mit einem ohnehin schon viel zu emotional diskutierten Thema bestünde doch vielmehr darin, einen Begriff genau zu untersuchen und ggf. zu definieren, bevor man ihn pauschal ablehnt.

Betrachten wir den Begriff der „Leitkultur“ einmal genauer. Der erste Wortbestandteil entstammt dem Wort „leiten“. Nun wird niemand bestreiten wollen, dass mit einem Integrationsprozess immer auch ein Prozess der Leitung und vor allem der Anleitung verbunden ist, der die zu integrierende Person einweist in die integrierende Gesellschaft. Ausgeübt wird diese Leitung zumeist durch viele Akteure: Sprachlehrer, Nachbarn, alte und neue Freunde, Familie, Dolmetscher, Mitarbeiter von Wohlfahrtsverbänden und Ämtern usw. usf. Die (An-)Leitung ist etwas Alltägliches in der deutschen Integrationsarbeit.

Den problematischeren Bestandteil des Wortes macht der Begriff der „Kultur“ aus. Problematisch ist er aus einem einzigen Grund: Niemand weiß so recht, was er bedeutet. Mal steht Kultur für bürgerliche Kunst, mal für den politischen Kommunikationsraum („politische Kultur“), mal für Ernährungspräferenzen („Esskultur“), für Schimmelpilze, usw. usf. Welche Schlussfolgerungen müssen wir aus diesem Problem ziehen? Linke, Grüne und LHG schlagen vor, den Begriff pauschal abzulehnen und sich über ihn und all jene, die ihn verwenden möchten, lustig zu machen. Ich schlage vor, ihn politisch zu definieren und mit Bedeutung zu füllen.

Der amerikanische Soziologe John W. Meyer brachte einen auf seine Weise neuen Kulturbegriff in die Sozialwissenschaften ein, indem er die Theorie einer „Weltkultur“ (world culture) aufstellte. Dabei handelt es sich um die Annahme einer globalen Institutionalisierung von westlichen Prinzipien, die sich insbesondere im letzten Jahrhundert und gerade nach 1945 immer weiter ausgebreitet und dabei gesellschaftliche Strukturähnlichkeiten (Isomorphie) erzeugt haben.

Meyer und sein Team von der Universität Stanford bauten diese Annahme nicht nur zu einem in den Sozialwissenschaften viel diskutierten theoretischen Ansatz aus, sondern unterfütterten ihn auch empirisch mit zahlreichen Studien.  Diese wiesen nach, dass auch dort, wo westliche Institutionen wie Demokratie, Menschenrechte, Sozialstaatlichkeit, Gleichberechtigung und Emanzipation, Bildung etc. nicht in der Strukturebene vorzufinden sind, sie doch zumindest auf semantischer Ebene akzeptiert und postuliert werden müssen, um auf Legitimation der eigenen Gesellschaft oder des eigenen Staates hoffen zu können. So muss sich etwa selbst der theokratisch-repressive Iran den Anschein einer Demokratie geben und – wenn auch nur scheinbar faire – Wahlen durchführen, um der eigenen staatlichen Organisation gegenüber der westlich geprägten Weltkultur Legitimität zu verleihen.

Meyer und diejenigen Soziologen und Politikwissenschaftler, die sich in diesem, als Neo-Institutionalismus bezeichneten Theoriekontext verorten, haben nicht das Ziel einer Beschönigung. Im Gegenteil: Gerade die Unterscheidung zwischen einer semantischen Ebene, auf der die Prinzipien der Weltkultur global akzeptiert und artikuliert werden, und einer strukturellen Ebene, auf der sie längst nicht überall wiederzufinden sind, erlaubt die Offenlegung einer weltweiten Heuchelei, einer starken bis völligen Entkopplung zwischen Reden und Handeln. Und genau an diesem Punkt kehren wir wieder zu der hier aufgeworfenen Frage nach der Leitkultur zurück.

Fest steht also nun – und hier muss man alle Nationalisten sowie Rechts- und Nationalkonservative enttäuschen – dass die Leitkultur keine rein deutsche sein kann, sondern als Weltkultur das Produkt eines westlichen Wertehorizonts darstellt. Fest steht auch, dass sie nichts ist, was erst noch neu geschaffen werden müsste. Die soziale Konstruktion der Weltkultur, die sich selbst als universal gültig ansieht, wurde schon vor langer Zeit vollzogen und eine De-Institutionalisierung ist, wie die neo-institutionalistische Forschung beweist, nicht abzusehen.

Linken, Grünen sowie Liberaler Hochschulgruppe sei jedoch davon abgeraten, nun zu einem „Seht ihr, sage ich doch!“ anzusetzen. Die Anschlussfrage, wozu wir denn dann noch den Begriff der „Leitkultur“ brauchen, wenn wir doch schon in der Weltkultur leben, klärt sich mit Blick auf die zweite große Erkenntnis der neo-institutionalistischen Soziologie: Entkopplung, das Auseinanderklaffen von Reden und Handeln, ist auch hinsichtlich der deutschen Gesellschaft diagnostizierbar, wenn wir betrachten, wie Politik über Jahre hinweg dazu neigte, aus Angst vor „politischer Unkorrektheit“ Integrationsprobleme zu verschweigen und sich der Thematisierung von möglichen Maßnahmen gegen Integrationsverweigerer zu entziehen.

Deutschland bejaht zwar in Sonntagsreden weltkulturelle Prinzipien wie Toleranz, Emanzipation und Selbstbestimmung sowie Rechtsstaatlichkeit, schaut aber Problematiken wie inländerfeindlichem Rassismus, Unterdrückung von islamischen Frauen, antiquierten Männlichkeitsvorstellungen und Ghettoisierung mit der Folge steigender Migranten-Kriminalität schweigend zu.

Diese nicht wegdiskutierbare Heuchelei zeigt auf, welche Funktion ein Begriff der Leitkultur im Deutschland des 21. Jahrhunderts einnehmen kann und muss: Er muss Reden und Handeln eng koppeln. „Leitkultur“ muss definiert werden als „gelebte Weltkultur“, als ein Übergreifen der semantisch postulierten, globalen weltkulturellen Prinzipien auf die Ebene des nationalen, regionalen und lokalen politischen und gesellschaftlichen (Alltags-)Handelns. Und um damit eine weitere, in dem LHG-Artikel aufgeworfene Frage zu beantworten: Dies darf ein demokratischer Staat nicht nur einfordern – er muss es sogar!

Gerade Experten für politische Kommunikation, von denen es in der Bielefelder LHG ja einige gibt, sollten wissen: Möchte man etwas verändern, sprich altes Handeln durch neues Handeln ersetzen, so ist ein neuer Begriff dabei oft hilfreich, da er das Ansinnen in passender Weise symbolisiert. Der Begriff der „Leitkultur“ verbindet Prinzipien einerseits mit der für ihr selbstbewusstes Vertreten nötigen Bestimmtheit andererseits. Definierte man ihn darüber hinaus so, wie ich es hier versucht habe, so hätte er vielleicht durchaus das Potenzial, die deutsche Integrationsdebatte voranzubringen.

Florian Sander ist Bielefelder FDP-Ratsmitglied und Mitglied des Bielefelder Integrationsrats. Er ist Politikwissenschaftler und betrieb am Institut für Weltgesellschaft der Uni Bielefeld ein Forschungsprojekt zum Thema Weltkultur.

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8 Kommentare zu "“Gelebte Weltkultur” als Leitkultur"

  1. Aurel Thun sagt:

    Die übliche neoliberale Ideologie. Die “Weltleitkultur” ist natürlich nur im Westen entwickelt worden und wurde auch nur dort verwirklicht, im Iran natürlich nicht. “Demokratie”, “Menschenrechte”, “Frauenemanzipation”, “Rechtsstaatlichkeit” usw. sind natürlich “westliche Werte” und so gut, daß sie universell gelten. Deshalb ist es unsere moralische Pflicht als zivilisierte Westler, den Irak und Afghanistan mit ihnen zu beglücken, mit den bekannten Folgen. Was zählt dann noch das Völkerrecht vor solchen hehren Zielen? Die nichtwestlichen Kulturen taugen natürlich nicht als “Weltleitkultur”, weil ihnen die Menschenwürde, die Willensfreiheit, der Pluralismus unbekannt sind. Und warum? Weil sie irrational sind. Hier im Westen hat ja die Vernunft mit der Aufklärung gesiegt, das sieht man an solchen herausragenden Repräsentanten des Westens wie Ronald Reagan, George W. Bush und Ariel Scharon. Deshalb dürfen deren Länder Massenvernichtungswaffen besitzen und auch einsetzen, der Iran aber nicht, weil das dortige “Regime” ja “unberechenbar”, also irrational ist. Denken wir dies zuende: was ist ein Mensch ohne Ratio, ohne Vernunft? Weniger als ein Mensch, und nur äußerlich mehr als ein Tier. Das wußte schon Aristoteles, der deshalb die “Barbaren”, also die Nichtgriechen, als irrationale “natürliche Sklaven” kategorisierte, die auf sich selbst gestellt nur Tyranneien aufbauen können und deshalb zu ihrem Besten Sklaven der athenischen Demokratie werden sollen. Die spanische Scholastik rechtfertigte mit der gleichen Argumentationsweise die Conquista Amerikas, da die Indianer gente sin razón, Menschen ohne Vernunft seien, die mit ihrem Kannibalismus und ihren Menschenopfern das universelle Naturrecht brächen und die man deshalb zu ihrem Glück kolonisieren dürfe. Die Schätzungen der Opfer der Conquista gehen auf 100 Millionen. Und das waren nur die unmittelbar durch Massaker und katastrophale hygienische Bedingungen in der Zwangsarbeit für die Spanier an Seuchen umgekommenen, von den sozialen, ökonomischen und vor allem psychischen Folgen der Kolonisation durch den Westen ganz zu schweigen. Ist es überhaupt ein Zufall, daß die “failed states”, also die Staaten, denen es nicht gelungen ist, den “Rechtsstaat” nach westlichem Vorbild zu verwirklichen, in denen Korruption, Drogen- Waffen- und Menschenhandel, “ethnische” Konflikte, Diktatur und Frauenunterdrückung blühen, dieselben Länder sind, die von unserer edlen westlichen Zivilisation kolonisiert wurden? Liegt das daran, daß die Leute dort keine “Werte” und keine “Vernunft” haben, oder eher daran, daß das rassistische Völkergefängnis, in das unsere edle westliche Zivilisation diese Völker jahrhundertelang sperrte, keinen Gesellschaftsvertrag, der dem Rechtsstaat zugrunde legt, aufkommen ließ? Denn wenn wir unsere “entwickelten”, “erfolgreichen”, “starken” Staaten des Westens genauer betrachten, merken wir, daß sie den postkolonialen Ländern an Korruption in nichts nachstehen, um nur die prominenten Beispiele Konrad Adenauer, Franz Josef Strauß und Helmut Kohl zu nennen, von Angloamerika, der größetn Plutokratie der Welt, mal ganz zu schweigen. Wenn wir hier unseren Staat nicht als bestechlich, erpresserisch und betrügerisch wahrnehmen, so liegt das nur daran, daß wir Bourgeois sind. Vor dem Bourgeois, ebenso wie vor dem Facharbeiter, weicht die Staatsgewalt zurück (letzteres ist ein Verdienst der Gewerkschaften), denn sie weiß, daß er die Steuergelder erwirtschaftet, die ihm dann letztlich zugute kommen. Es ist dies der Gesellschaftsvertrag, und der hat nichts mit irgendwelchen “Werten” zu tun, sondern ist nur aus Kalkül entstanden, auch wenn die Westler selber an ihre eigene unendliche Heuchelei glauben. Der postkoloniale Staat respektiert genauso die winzige Kompradorenbourgeoisie oder Oligarchie in ihrem Land, aber die Massen der Farbigen sind ihm immer noch ein Objekt der Gefahr und der Ausbeutung wie zu kolonialen Zeiten. Der Imperialismus unserer westlichen Zivilisation sorgte und sorgt dafür, daß sich an diesem Verhältnis nichts ändert, Honduras ist dafür das jüngste Beispiel. Und so können westliche zivilisierte Menschen, die sich über die Frauenunterdrückung im Islam empören, in Ostasien für wenig Geld zwölfjährige Mädchen mißbrauchen.
    Noch ein Letztes: die Aufklärung für die Ideologie dieser “Weltleitkultur” heranzuziehen, ist ein Mißbrauch dieser großen Philosophen. Die Aufklärung hat IMMER gerade in den außereuropäischen Kulturen, im Islam, im Konfuzianismus, in Rousseaus edlem Wilden, in Montesquieus persischem Briefschreiber und in Diderots haitiatischen Weisen ihre Vorbilder für den wahren Universalismus gesucht, nämlich den von der ganzen Menschheit und am wengsten vom Westen entwickelten. Demokratie war zahlreichen indianischen und philippinischen Stämmen, den Kasachen und Kirgisen bekannt, die Menschenrechte waren in China schon längst erdacht worden, bevor der westliche Imperialismus all diese Völker in den Abgrund stieß. .

  2. Ja, eine durchaus gelungenen Kritik, die letztendlich pointiert darlegt, wieso Interventionismus nicht nur aus ethischen, sondern auch moralischen Gründen abzulehnen ist.
    Auch ich meinerseits stehe für das Konzept einer Leitkultur ein, die den jeweiligen Kulturkreis zu repräsentieren vermag, die aber keinesfalls einen missionarischen bzw. interventionistischen Charakter bekommen darf.

  3. Aurel Thun sagt:

    Nun ja, Sebastian, enn Du diese Art von Leitkultur vertrittst, so vertrittst Du enen Kulturelativismus. Der ist zwar besser als der falsche Universalismus der Neoliberalen und Neokonservativen, wie er in dem Artikel vertreten wird, aber letztlich spricht auch er den nichtwestlichen Kulturen die Idee der Menschenwürde ab. Stattdessen empfehle ich eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Islam, der chinesischen und indischen Philosphie, der afrikanischen und der lateinamerikanischen Sozialethik und Moralökonomie, um aus all diesen einen wirklich universellen ethischen Universalismus herauszuarbeiten, der als Weltleitkultur dienen könnte.

  4. Ich weiß auf was du hinaus willst, und ich denke, da sind wir größtenteils einer Meinung. Mir geht es aber gerade im dem speziellen Fall nicht um die Ausarbeitung und Diskussion um eine Weltleitkultur bzw. Universalismus, sondern um den spezifischen Fall Deutschland. Wenn ich gerade von Leitkultur spreche, dann spreche ich soeben von nationalen Befindlichkeiten. In einer bipolaren Welt gibt es sozusagen mehre Kulturräume und somit mehrere Leitkulturen. Deutschland bzw. Europa hat die ihre, und das ist m. E. auch völlig in Ordnung so. Es geht ja ursprünglich um Integrationspolitik. Und als integraler Faktor dient nunmal die Leitkultur. Bis hierhin stimme ich mit Florian Sander überein. Sobald dieses Moment allerdings interventionistisch wird, also eine aussenpolitische Dimension erlangt, dann wird es problematisch – da stimme ich mit Dir überein.

    D.h. im übrigen nicht, dass sich Kulturen, und die Kultur als Träger einer Gesellschaft sich nicht auch entwickeln könnte.

  5. Integration hat m. E. nichts mit dem Verlust der Menschenwürde zu tun! Wir reden ja nicht von Assimilation!

  6. Aurel Thun sagt:

    Nun ja, ich weiß nicht, ob diese Beschänkung auf nationale Befindlichkeiten und die Forderung nach einer nationalen bzw. europäischen Leitkultur innerhalb Deutschlands, auch wenn sie nicht in der Forderung nach einer sprachlichen, religiösen, rassischen Homogenität besteht, wie sie die von dem Neoliberalen Sander kritisierten Konservativen fordern, sondern aus einer rein politisch-rechtlichen, konstitutionell definierten, nicht genauso gefährlich ist. Wie Du sagst, es geht um Integration. Und insbesondere die islamisch sozialisierte Unterschicht Deutschlands solle sich an diese Leitkultur anpassen. Islamismus wird als deren absolute Antithese begriffen, von den Neokonservativen ebenso wie von den Neoliberalen wie Sander. Die Frage ist, ob man damit der muslimischen Minderheit in Deutschland Gerechtigkeit wiederfahren läßt, und ob diese Forderung nach Übernahme der Leitkultur überhaupt politisch klug wäre. Meines Erachtens haben die weitverbreitete Kriminalität und das angbliche Patriarchat innerhalb der muslimischen Minderheit keine religiös-kulturellen, sondern ausschließlich soziale Gründe. Der kulturalistische Determinismus wurde nicht zufällig im Apartheidsstaat Israel von Bernard Lewis entwickelt, um dann von Samuel Huntington neu aufgelegt und weiterverbreitet zu werden. Schon dieser Ursprung macht ihn verdächtig, zumal er erstens sie sozialen Ursachen von Gewalt und Fanatismus bei den Muslimen völlig unterschlägt, wo wir doch seit Marx wissen, daß die Religionen nur “Hilferufe der bedrängten Kreatur in einer herzlosen Welt” sind. Ich denke, daß man durchaus zu einer Verständigung mit den “islamistischen Terroristen” kommen kann, wenn man sich gegen den westlichen Imperialismus, der sie angegriffen und zu dem gemacht hat, was sie sind, wendet. Das ist nicht nur eine ethische Forderung nach Empathie und Verständnis für das Fremde, sondern auch ein Akt der politischen Klugheit, da ohne jenes eine Verständigung nicht möglich ist. Ohne Gerechtigkeit, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene, wird es keinen dauerhaften Frieden und keine Integration geben. Aber ich bezweifle, daß Sander zu diesem Schritt in der Lage sein könnte. Und auch die allgemein im Westen propagierte Frauenunterdrückung im Islam muß relativiert werden, wenn man muslimische Familienstrukturen genauer kennt. Es ist einfach eine Augabenteilung: der Mann übernimmt die “Außenpolitik” der Repräsentation der Familie nach außen, wobei sch die Frau ihm anscheinend unterordnet (und das ist das einzige, was Leute wie Sander von islamische Familien je gesehen haben), aber die “Innenpolitik”, die Leitung der innerfamiliären Angelegenheiten, übernimmt die Frau, wobei sich der Mann ihr unterordnet. Da dies die Privatsphäre betrifft, dringt es nicht nach außen.

  7. Aurel Thun sagt:

    Ich meinte mit Integration auch nicht den Verlust der Menschenwürde, sondern das hinter der Forderung nach Intergation stehende Absprechen einer Idee der Menschenwürde in den außerwestlichen Kulturen.

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