Neoliberale Faktenverdrehung

Wie bei “Spiegel-Online” der Bock zum Gärtner wird

Von Sebastian Müller

Im Online-Magazin Der Spiegel ist am heutigen Donnerstag ein Artikel mit dem etwas eigenartigen Titel Schwache US-Wirtschaft: Amerikas europäische Krankheit erschienen. Die dort von dem Autor aufgestellten Behauptungen zur Ursache der Krise der US-Wirtschaft sind schon nach einer oberflächlichen Bestandsaufnahme haarsträubend und spätestens nach dem zweiten Blick ein Paradebeispiel für neoliberale Meinungsmache.

Wenn Ökonomen einen Gastbeitrag in einem als renommiert erachteten Blatt oder Magazin schreiben, dann meint man, unabhängige und seriöse Expertise erwarten können. Glaubt man zumindest. Das Problem bei diesem Autor ist allerdings, dass es sich um Thomas Straubhaar handelt. Straubhaar ist Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) und – hier wird es interessant – Initiator des Hamburger Appells von 2005, sowie Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, eines einschlägig bekannten neoliberalen Think-Tanks. Die Botschafter jener “Initiative” scheinen beim Spiegel immer häufiger eine Plattform geboten zu bekommen.

Der Artikel entpuppt sich also als eine lupenreine PR-Aktion. Allein die dem Text zu entnehmende Begriffskonstellation “europäische Krankheit” ist merkwürdig; sie suggeriert einen Bezug zu der holländischen Krankheit, ohne aber, dass diese Analogie einen Sinn machen würde. Auf was Straubhaar anspielen möchte, stellt sich im Folgenden dar. Die auf staatlichen Interventionismus gestützte Wirtschaftspolitik Barack Obamas würde die ökonomische Krise der USA nicht bekämpfen, sondern weiter verschärfen, so seine These. Stattdessen solle sich die USA auf ihre angeblich ursprünglichen Tugenden, die die Garanten Amerikas beispiellosen Aufstieg waren, zurückbesinnen.

Der feste Glaube an die individuelle Leistungsfähigkeit, an Ideen, Mut, Willen und die eigene Kraft haben die USA nach ganz oben gebracht.

Diese Behauptung ist nicht mehr als eine unwissenschaftliche Verallgemeinerung und Phrasendrescherei. Doch ausgehend davon preist Straubhaar einen libertären Utilitarismus, um die neoliberale Ideologie in Stellung zu bringen:

Das Streben jedes einzelnen nach Glück wurde als entscheidende Grundlage für gesellschaftliches Wohlergehen verstanden, und nicht der Staat, der den Menschen etwas Gutes tut und wohlwollend für seine Untertanen sorgt. Und schon gar nicht der Sozialstaat, der für seine Bürger Sicherungsnetze ausbreitet.

Und weiter in der in Deutschland sowieso ständig wiederholten Litanei und Lobpreisung von Eigenverantwortlichkeit:

Im amerikanischen System war jeder für sich selbst und die Seinen verantwortlich – in guten wie in schlechten Zeiten. Niemand durfte mit staatlicher Hilfe rechnen. Auch nicht der Tellerwäscher, der es nicht schaffte und zum Obdachlosen wurde.

Das macht langsam stutzig. Straubhaar verkauft dem Leser eine völlig verklärte Sicht auf die amerikanische Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte. Er klammert (bewusst) völlig aus, dass es selbst in den USA durchaus immer wieder Phasen von staatlicher Interventions- und Sozialpolitik gab. Und zwar gerade deswegen, weil diese Politik spätestens mit den Erfahrungen der ersten Weltwirtschaftskrise, Ende der 20er Jahre, als notwendig erkannt wurde. Man erinnere an Theodor Roosevelts New Deal, an die Sozialpolitik Jimmy Carters und – an die lange Tradition einflussreicher, keynesianistischer US-Ökonomen. Der von Straubhaar abschätzig erwähnte Paul Krugman ist nicht der Erste.

Erst mit dem Aufstieg der Chicago-Boys unter Milton Friedman – und letztendlich mit der Ära Ronald Reagan – fanden die USA zu einer neoklassischen, ja phasenweise radikal-neoliberalen Wirtschaftspolitik zurück. Seit diesem Zeitpunkt nahm die gesellschaftliche Ungleichheit, die Spaltung zwischen Millionären und “obdachlosen Tellerwäschern” wieder stark zu. Und es war das wirtschaftsliberale Laissez-faire, das sowohl die damalige als auch die heutige Wirtschaftskrise heraufbeschworen hat.

Doch davon will die Riege neoliberaler Ökonomen nichts wissen. Von ihrem Elfenbeinturm fordern sie, wie in diesem Fall Straubhaar, die Krise mit den Ursachen der Krise zu bekämpfen. Um dies zu Untermauern, bedient sich Straubhaar auch noch der dreistesten Faktenverdrehung:

Die amerikanische Politik von heute setzt auf mehr Staat – und nicht auf Eigenverantwortung und Selbstbestimmung. Sie verabreicht dem Patienten noch einmal mehr und nicht etwa weniger von genau jenem Mittel, das zur Krise geführt hat.

Hier wird hartnäckig ignoriert, das vor allem gerade zu wenig Staat, d.h. die in diesem Fall ausbleibende Regulierung und Kontrolle der Finanzmärkte eine wesentliche Ursache der Finanzkrise waren. Staatliche bzw. keynesianische Konjunkturpolitik sind jedoch immer die Instrumente gewesen, die zu der Erholung von Volkswirtschaften nach Krisenzeiten beigetragen haben – sowohl in Europa, als auch in Amerika. Straubhaar will aber allen ernstes Mentalitätsunterschiede als Begründung heranziehen, um zu behaupten, “europäische Konjunkturmodelle” würden in den USA nicht funktionieren. Stattdesssen dies:

Maximiere die individuelle Freiheit und minimiere den staatlichen Einfluss, das war das so erfolgreiche oberste Gebot amerikanischen Glaubens. Entsprechend müssten eigenverantwortliches Tun oder Lassen die Regel und staatlicher Zwang die ungeliebte Ausnahme bleiben. Doch davon kann derzeit keine Rede sein. (…)Die Vermutung liegt nahe, dass ihr die Überzeugung an amerikanische Grundsätze verlorengegangen ist. Dass man den Selbstheilungskräften des privaten Sektors nicht mehr traut.

Spätestens jetzt traut man vor allem dem Verstand Straubhaars nicht mehr. Hat uns die Finanz- und Wirtschaftskrise jetzt nicht erneut gezeigt, dass die “unsichtbare Hand des Marktes”, seine “Selbstheilungskräfte” eben nicht existieren? Dass uns gerade unregulierte Märkte, als auch die grenzenlose Freiheit der Individuen und Marktakteure in die Krise geführt haben?

Genau eine solche Sichtweise wie die Straubhaars, hat auch eine  Ölkatastrophe wie die von BP am Golf von Mexiko begünstigt. Weil der Staat, noch auf Betreiben von George W. Bush – der mit der Öllobby im wahrsten Sinne des Wortes Vetternwirtschaft betrieb – die Ölkonzerne quasi nach belieben Schalten und Walten liess. Ohne Kontrolle und Beschränkung was Umwelt und Sicherheitsstandarts angeht.

Doch Straubhaars Suada wird noch unsäglicher, wenn er sämtliche gesellschaftliche Verwerfungen mit zynischem Sozialdarwinismus relativiert:

Wieso soll sich der Staat um den wirtschaftlichen (Miss-)Erfolg oder die Gesundheit einzelner kümmern? Wieso soll der eine für das Unglück oder die Krankheiten anderer zahlen?

Nach Auffassung Straubhaars gibt es hierfür keinen Grund, denn das würde nur den Glauben der Einzelnen an ihre Eigenverantwortung, sprich, den individuellen Freiheitsrechten, “also der Freiheit, selbständig entscheiden und eigenverantwortlich handeln zu können, zu reden, zu schreiben und zu glauben” im Wege stehen. Denn:

Nimmt man den Amerikanern diesen Glauben, zerstört man die Klammer, welche die heterogene amerikanische Gesellschaft zusammenhält. Es können Konflikte aufbrechen zwischen verschiedenen Teilen der Einwanderungsgesellschaft, die unterschwellig längst vorhanden sind.

Nicht nur, dass hier auf unerklärliche Weise, aber getreu der neoliberalen Theorie, Sozialstaatlichkeit und Freiheit als Widerspruch suggeriert werden – ebenso wird dabei behauptet, ein Sozialstaat wäre für Konflikte in der Gesellschaft verantwortlich, die in den USA tatsächlich längst vorhanden sind. Der Sozialstaat dient demnach nicht der Hegung sozialer Konflikte, sondern ist deren Urheber. Da scheint es auch völlig irrelevant zu sein, dass unzählige soziologische Studien einen direkten Wirkungszusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit sowie Armut einerseits, und Kriminalität und gesellschaftlichen Spannungen anderseits festgestellt haben. Und das in Staaten mit einem dichten sozialen Netz, zum Beispiel Schweden, diese Probleme in weitaus geringerem Maße bestehen.

Neben der Desavouierung Obamas Konjunktur- und Sozialpolitik (und damit auch der Gesundheitsreform) verfolgt der Autor mit diesem Artikel – im Sinne seiner Auftraggeber – das hoffentlich Unmögliche: Dem Leser die Quadratur des Kreises als Naturgesetz zu verkaufen. Und er beweist, das neoliberales Gedankengut – besonders im Spiegel – nicht auszurotten ist. Mehr noch, mit Thomas Straubhaar scheinen wir den ersten europäischen Aktivisten der “Tea-Party” unter uns zu haben.

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7 Kommentare zu "Neoliberale Faktenverdrehung"

  1. Für den SPIEGEL und andere “neoliberale Zeitschriften” war es ein Katastrophe, dass im Rahmen der FINANZKRISE Stimmen der Professoren Hankel, Nölling, Schachtschneider, Spethman und Starbatty wieder hörbar wurden; nicht zuletzt durch die Klage gegen das grundgesetzwidrige Euro-Rettungspaket.

    Es ist für den “neoliberalen Zeitgeist” geradezu eine Katastrophe, dass immer mehr Menschen den Missbrauch des GELDES erkennen, wozu auch Prof. Senf mit seinen Veröffentlichungen im Internet beigetragen hat.

    Davon muss abgelenkt werden; den Bürgern soll wieder das LÜGENGEBÄUDE eingeredet werden, als sei die WIRTSCHAFT eine Art “Naturgesetz”.

    Nicht unwichtig bei der Beurtielung der politischen Entwicklung sind die Ziele der AGENDA 21, auf die sich viele Nationen geeinigt hatten.

  2. mondoprinte sagt:

    “Wenn Ökonomen einen Gastbeitrag in einem als renommiert erachteten Blatt oder Magazin schreiben, dann erwartet man normalerweise unabhängige und seriöse Expertise.”
    Nicht wirklich, oder? ;-)
    Ansonsten sehr guter Artikel!

  3. @mondoprinte

    nein, ich erwarte es leider auch nicht mehr:-(

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