Deutschland

Wo ist die Mitte?

Von Sebastian Müller

In Deutschland scheint sich das politische Koordinatensystem verschoben zu haben. Seit der neoliberalen Durchdringung unserer westlichen Gesellschaften muss über unser Wertesystem neu reflektiert werden.

Auch wenn es niemand offen auszusprechen vermag, die Mitte als Hort der bürgerlichen Vernunft bzw. des bürgerlichen Gewissens, scheint zu verwaisen – oder aber wieder einen reaktionären Schritt zurück in eine überwunden geglaubte Vergangenheit frühindustrieller Verhältnisse zu gehen. Das spiegelt sich auch in unseren Feuilletons und politischen Debatten wieder. Da tummeln sich „endgültige Intellektuelle“ wie Peter Sloterdijk oder Schreihälse wie Thilo Sarrazin und Guido Westerwelle, und betreiben mit offenen Ressentiments Aufwiegelei. Der Sozialstaat gerät in die Schusslinie, propagiert wird die ökonomische Freiheit des privatistischen Bourgeois, nicht mehr die Solidarität des politischen Citoyen.

Zu Recht bemerkt Albrecht von Lucke in seinem Essay “Propaganda der Ungleichheit“, dass sich weit über den Kreis der üblichen Verdächtigen (von Henryk M. Broder über Arnulf Baring bis Hans-Olaf Henkel und Ralph Giordano, die sich umgehend mit Thilo Sarrazins Sozialpolemik solidarisierten) hinaus, heute dezidiert in der Mitte der Gesellschaft ein tief sitzendes Ressentiment gegen ethnische Minderheiten und sozial Schwache Bahn bricht. Es “…werden durch selbst ernannte Eliten und „Leistungsträger“ Diskurse möglich, die man noch vor Kurzem nicht für möglich erachtet hätte. Letztlich zielen alle diese Positionen auf eines: die Relativierung des Gleichheits- und Gerechtigkeitsgebots, das im europäischen steuerfinanzierten Sozialstaat.”

Wer den Sozialstaat verteidigt und die neoliberalen, selbst ernannten Apologeten der bürgerlichen Mitte kritisiert, sei es nur aus pragmatischen Kalkül ob der gesellschaftlichen Notwendigkeit unser Sozialsysteme, wird als unverbesserlicher Linker desavouiert.

Die Sarrazins, Broders und Sloterdijks der libertär geprägten USA haben sich in der sogenannten Tea-Party versammelt, um dort gegen Obamas Gesundheitsreform anzukämpfen. Auch sie bedienen sich hierbei unsäglicher Ressentiments und bewusster Verzerrungen. Die radikale, erzkonservative Tea-Party erreicht auch große Teile der bürgerlichen “Mitte”, die die paranoide Angst vor einem amerikanischen Staatssozialismus teilen.

Die Gesellschaft lässt sich gerade in Krisenzeiten erfahrungsgemäß von solchen Brandrednern verführen, rechte Parolen haben dann Konjunktur. Aus dieser Warte wäre es also nicht verwunderlich, dass in unserer Finanz- und Wirtschaftskrise die gesellschaftliche Mitte nach rechts tendiert und auch Die Linke zum selben Zeitpunkt in den demoskopischen Umfragen kein Zuwachs erhielt.

Die Gesellschaft unterliegt also keineswegs einem Linksruck, wie es unablässig propagiert wird – selbst wenn die SPD zurzeit ihre Agenda-Reformen revidieren mag. Die Linke ist eben nicht Teil der Parteienlandschaft geworden, weil es einen gesellschaftspolitischen Trend nach links gegeben hätte. Sie ist entstanden, weil in großen Teilen der politischen und ökonomischen Elite, den sogenannten „Leistungsträgern“, das Verantwortungsbewusstsein für die sozial Schwachen schwindet. Vielmehr werden diese in der öffentlichen Debatte nur noch als wirtschaftlicher Ballast wahrgenommen.

Am deutlichsten wurde diese reaktionäre Sichtweise zuletzt in der Welt publiziert, die Westerwelle nicht umsonst zum einzigen Anwalt einer vergessenen Mitte geweiht hat. Mit dieser Wahrnehmung scheint man auch bei einer von Abstiegsängsten geplagten Mittelschicht auf offene Ohren zu stoßen.

Tatsächlich erodiert die Mittelschicht auch quantitativ – abgesehen von einer in den Raum gestellten Wertekodex-Verschiebung der gebildeten, staatsbürgerlichen Mitte. Eine DIW-Studie hat die Zunahme der Einkommensungleichheit und die stetig größer werdende Schere zwischen Arm und Reich erneut bestätigt.

Die ökonomische Mitte wurde und wird – von den politischen Eliten meist verschwiegen – durch den Abbau der Sozialsysteme und der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mittelfristig ebenso in Mitleidenschaft gezogen wie der unterste Rand der Gesellschaft. Erst durch die staatlichen Leistungen, die sozialen und partizipatorischen Rechte, die durch politische Bewegungen hart erkämpft wurden – und die nun wieder schrittweise beseitigt werden – konnte überhaupt erst eine breite Mittelschicht entstehen. In dieser Hinsicht ist die so oft zitierte Parole „Leistung muss sich (wieder) Lohnen“ an Zynismus kaum zu überbieten.

Desweiteren stellt sich die bereits angedeutete Frage, ob wir die Zeugen eines Niedergangs des wertkonservativen, und politisch kritischen Bildungsbürgertum werden. Mit der durch die Marktgesellschaft beschleunigten Auflösung gesellschaftlicher Kollektive geht womöglich die Erodierung gesellschaftlicher Grundkonsense – die der Kitt einer jeden Zivilgesellschaft sind – einher.

In Zeiten der Krise ist sich jeder selbst der Nächste, dass scheint man am Aufstand der Wohlbetuchten in Hamburg zu sehen, wo Eltern gegen die Schwarz-Grüne Schulreform und ein längeres gemeinsames Lernen Sturm laufen. Das scheint man an der Entrüstung zu sehen, die der Kauf der Steuersünder CDs seitens der Bundesregierung ausgelöst hat. Das sieht man nicht zuletzt an den historischen 15 Prozent, die die FDP bei der vergangenen Bundestagswahl erhielt.

Mit der Politik, die heute an den linken Rand des deutschen Fünfparteinsystems gedrängt wurde, erreichte man in den 70er Jahren unter der sozialliberalen Koalition von Willy Brandt und Helmut Schmidt gut 40% der deutschen Bevölkerung. Vorrangetrieben wurde der Ausbau des Sozialstaates und die Vertiefung demokratischer Rechte (“Mehr Demokratie wagen”).

Das also, was man Mitte nennt, ist nach rechts gerückt. Oder anders formuliert: das, was einmal die politische Mitte war, wird heute als links definiert. Bezeichnenderweise betrieb die SPD den Ausverkauf der Sozialdemokratie unter Gerhard Schröder mit dem Label „Neue Mitte“. Den Mächtigen, den neuen Bourgeois, den neoliberalen Eliten aus Politik und Wirtschaft, die in Wirklichkeit ausschließlich marktradikale und damit lediglich ihre eigenen Interessen vertreten, ist es mit massiver PR-Arbeit gelungen, diese Interessen als die der Mittelschicht zu verkaufen. Sie scheinen somit vorerst den Kampf um diese Mitte und damit um die Meinungsführerschaft gewonnen zu haben.

Das Bildungsbürgertum der Mitte sollte sich aber bewusst werden, welche Konsequenzen eine immer geringere Bereitschaft zur Solidarität ihrerseits mit sich bringen könnte. Sich selbst nicht mehr als Staatsbürger wahrzunehmen und sich dem Gesellschaftsvertrag zu entziehen, die Verweigerung also, ihren politischen und wirtschaftlichen Beitrag zum Umverteilungsstaat beizusteuern und ihn stattdessen aufzulösen (lassen), würde letztendlich den Weg zum eigenen Bedeutungsverlust weisen. Mit der Zerstörung der auf sozialen Ausgleich basierenden Zivilgesellschaft, bringt sich die bürgerliche Mitte selbst in Gefahr – sowohl psychisch als auch physisch.

Ja, es gibt ein Recht auf Eigentum (und seiner Mehrung), auf das heutzutage so sehr gepocht wird. Allerdings wird in unserer Verfassung ebenso erwähnt, das Eigentum verpflichtet – und das aus gutem Grund. Denn es gibt auch ein Naturrecht, und das kann zutage treten, wenn die Legalität der Eigentumsverhältnisse ihre Legitimität verlieren. Daher sollte sich die Mitte, als Achse unserer Gesellschaft, an die alten Werte der bürgerlichen Revolution erinnern: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – statt ihrer neoliberalen Pervertierung: Eigenverantwortung, Chancengerechtigkeit und Wachstum.

Zum Thema:

– Spätrömische Dekadenz

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