Im Gespräch mit Oskar Lafontaine

„Meine Vision sind die Vereinigten Staaten von Europa“

Rücktritt vom Rücktritt? Das Kapitel Lafontaine scheint in der Bundespolitik noch nicht beendet zu sein.

Bild: Gunther Hißler, "Oskar Lafontaine". Some rights reserved.Es gibt genug Gründe, sich mit einem der letzten klassischen Sozialdemokraten näher zu befassen. Fernab von parteipolitischen Fragen sprachen Oliver Desoi und Sebastian Müller mit Oskar Lafontaine über die Zukunft Europas, der Nationalstaaten und der Demokratie vor dem Hintergrund der Finanzkrise und der ungebrochenen wirtschaftspolitischen Hegemonie des Neoliberalismus.

Oliver Desoi: Herr Lafontaine, in den frühen 90er Jahren sahen Sie die Idee des Nationalstaats für die Zukunftsgestaltung im Zeitalter der europäischen Integration als unzeitgemäß an. Würden Sie diese Auffassung im Kontext eines neoliberal definierten Europas heute revidieren?

Lafontaine: Der Nationalstaat wird weiterhin seine Rolle in Europa und in der Welt spielen. Die Zukunft gehört aber ohne Zweifel der europäischen Integration. Viele Aufgaben, angefangen vom Umweltschutz bis zur Friedenssicherung sind von einem einzelnen Nationalstaat nicht mehr zu bewältigen.

Oliver Desoi: Wie sieht Ihre Vision eines Europas in der Zukunft aus?

Lafontaine: Ich bleibe dabei, meine Vision für Europa sind die Vereinigten Staaten von Europa. Dabei sollte die kulturelle Selbständigkeit der einzelnen Stationen und Regionen erhalten bleiben. Sie ist der eigentliche Reichtum des alten Kontinents. In den Fragen die nur noch global entschieden werden können, Umweltschutz, Verteidigung, Weltwirtschaftsordnung sollte Europa mit einer Stimme sprechen.

Sebastian Müller: Wie sehen Sie die Zukunft der Staaten bzgl. ihrer Gesellschaftsverträge? Wäre das Absprechen der Fähigkeit nationalstaatlich initiierter Zukunftsgestaltung nicht auch eine Bankrotterklärung für die nationalen Demokratien?

Lafontaine: Die Linke will eine demokratische Erneuerung. Sie will eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Die politische Demokratie allein genügt nicht. Wir brauchen eine Wirtschaftsdemokratie, d.h. vor allem in den großen Produktionsbetrieben muss man den Arbeitnehmern das Eigentum geben, das sie selbst geschaffen haben. Als Gesellschafter ihrer Betriebe können sie die eigene Zukunft mitbestimmen.

Oliver Desoi: Das könnte zumindest ein Erklärungsansatz für die zunehmende Politikverdrossenheit und Wahlenthaltung in Deutschland und Europa sein…

Lafontaine: Die Politikverdrossenheit ist auch darauf zurückzuführen, dass die Menschen nicht mehr glauben, die Richtung der Politik in Deutschland und in Europa bestimmen zu können. Insbesondere nach der Finanzkrise halten sie sich an die alte Volksweisheit: „Geld regiert die Welt.“ Nur eine Demokratisierung der Wirtschaft und eine Vergesellschaftung der Finanzindustrie können die zunehmende Politikverdrossenheit stoppen.

Oliver Desoi: 1999 haben Sie in ihrer kurzen Zeit als Finanzminister zusammen mit Ihrem französischen Kollegen Dominique Strauss-Kahn eine keynesianische Finanz-  und Währungspolitik auf europäischer Ebene zu etablieren versucht. Was ist von diesem Vorhaben heute in Europa noch übriggeblieben?

Lafontaine: Nur durch eine keynesianische Finanz- und Währungspolitik konnte die Weltwirtschaft in der Finanzkrise vor dem Absturz bewahrt werden. Auf einmal waren alle europäischen Staaten für eine expansive Finanz- und Geldpolitik. Jetzt hat sich der Wind wieder gedreht. Griechenland zeigt, dass die alten ideologischen Rezepte weiter verfolgt werden. Bis zum nächsten Crash.

Sebastian Müller: Freut es Sie, dass Strauss-Kahn nun Chef des IWF ist?

Lafontaine: Seit Strauss-Kahn Chef des IWF ist, hat sich der IWF für die keynesianische Wirtschafts- und Währungspolitik geöffnet. Das ist für die von den Entscheidungen des IWF betroffenen Staaten ein Fortschritt. Allerdings droht auch hier der Rückfall in den Neoliberalismus.

Sebastian Müller: Eine weitere Frage zu Ihrer Vergangenheit in der SPD: Es gab mit dem Wahlsieg 1998 das berüchtigte Schröder-Blair-Papier und die Propagierung einer Politik des „dritten Weges“. Wenig später galt dies als ein Scheideweg nicht nur der deutschen Sozialdemokratie. Wie konnte es Ihrer Ansicht nach zu dieser neoliberalen „Revolution“ kommen? Welche Faktoren und Personen waren hierbei besonders maßgeblich?

Lafontaine: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist der Herren eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Dieses Goethe-Zitat beantwortet die Frage. Die große Mehrheit aller Parteien läuft dem Zeitgeist hinterher.

Sebastian Müller: Hat dieser Zeitgeist, die bis heute einflussreiche neoklassische Lehre – die seit Margaret Thatcher als alternativlos bezeichnet wurde – auch auf Sie Einfluss ausgeübt?

Lafontaine: Selbstverständlich hat sie auch auf mich Einfluss ausgeübt. Wenn alle dasselbe denken und sagen, dann ist die Versuchung groß, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen. Aber die Folgen dieser Irrlehren, ungleiche Verteilung, wachsende Arbeitslosigkeit, entlarven die neoklassische Lehre als Ideologie.

Oliver Desoi: Ist der Neoliberalismus nach der Finanzkrise nun an seinem Ende?

Lafontaine: Leider entstehen Vorurteils- und Denkstrukturen über viele Jahre. Daher können sie auch nicht von heute auf morgen abgebaut werden. Mit anderen Worten: Trotz der Finanzkrise hat der Neoliberalismus die kulturelle Hegemonie. Es wird daher leider zu weiteren Finanzkrisen kommen. Die Politik muss irgendwann die Kraft finden, die Finanzmärkte zu regulieren und den Satz „Geld regiert die Welt“ zu widerlegen.

Sebastian Müller: Herr Lafontaine, wir danken Ihnen für dieses Interview.

Artikelbild: Gunther Hißler, “Oskar Lafontaine”. Some rights reserved.

Zum Thema:

– „Der Titel gefährlichster Mann Europas ist im Nachhinein betrachtet ein Ehrentitel“

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3 Kommentare zu "Im Gespräch mit Oskar Lafontaine"

  1. AMUNO sagt:

    Hallo,

    schönes Interview. Ich las damals sehr aufmerksam “Mein Herz schlägt links” von Herrn Lafontaine. Fragt sich nur, ob er überhaupt noch politischen Einfluss nehmen kann.

    Gruß

    AMUNO

  2. gedankenfest sagt:

    Die Vereinigten Staaten von Europa?

    Ja, man arbeitet hart daran. Schon allein mit dem Euro. Und sind erst mal die Vereinigten Staaten von Europa da, gibt es wohl bald die Vereinigten Staaten der Welt. Wenn Afrika endlich mal in die Pötte kommt! Oder es gibt eben nicht die Vereinigten Staaten der Welt, sondern einen Konkurrenzkampf zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und denen von Europa. Jeder will schließlich die meiste Macht haben. Und dann fliegen die Bomben. Und dann steht da Afrika und lächelt. Wer zuletzt lacht, lacht schließlich am besten. Oder: wenn zwei sich streiten, freut sich der dritte. Geht es wirklich um Politik? Umweltschutz, Frieden etc.? Nunja, dafür gibt es ja schon sowas wie das Europäische Parlament. Nein, es geht nicht um Politik. Die Menschen, die Oberen unseres Landes, die sich die Vereinigten Staaten von Europa wünschen, haben ganz andere Motive.

    Und wer ist dann eigentlich der Obama der Vereinigten Staaten von Europa? Die Queen? Oder vielleicht doch Prinzessin Victoria? Oder wie wärs mit Guido Westerwelle? Ich sponsere ihm auch einen Englischkurs!

    Also, ganz ehrlich… hoffentlich nicht!

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