Manhattan ist wieder sicher. Sogar das rauhere Brooklyn wird zur Spielwiese der Mittelschicht. Dafür werden in New York ganze Bevölkerungsschichten kriminalisiert.
American Reflexxx ist stilistisch eng verwandt mit dem berühmt gewordenen Video „10 Hours of Walking in NYC as a Woman“, in dem eine versteckte Kamera einer unauffällig gekleideten Frau folgt, die durch die Straßen von New York läuft. Das Video zeigt, wie sie einer nicht abreißenden Reihe von Belästigungen ausgesetzt ist, von der gewöhnlichen Anmache bis zur handfesten Androhung von Gewalt.
Als es zuerst global mediale Aufmerksamkeit fand (es hat inzwischen über 40 Millionen Views auf Youtube), wurde darauf hingewiesen, dass fast jeder der Männer, die sich in dem Video der Belästigung schuldig machten, schwarz waren. Daraus den Schluss zu ziehen, die Macher hatten rassistische Absichten gehabt, ist sicher falsch – vielmehr dürfte es sich um aufrichtige Liberale handeln. Prompt hatten sich auch die Verantwortlichen entschuldigt und beteuert, dass sie genauso viele weiße Männer filmten. Bei denen aber stimmte die Bild- und Tonqualität meistens nicht.
Ebenso falsch ist es natürlich, den Schluss zu ziehen, insbesondere Schwarze neigten eben zur frauenfeindlichen Belästigung. Die Journalistin Liza Featherstone wies damals darauf hin, dass einer Umfrage von ABC News/ Washington Post zufolge ein Viertel aller Frauen an ihrem Arbeitsplatz sexuell belästigt worden sind. Das deutet stark darauf hin, dass gehobenere soziale Schichten so etwas einfach lieber hinter verschlossenen Türen als in der Öffentlichkeit tun.
Beide dieser Ansichten führen jedoch in die Irre, weil sie auf der moralischen Ebene des Verhaltens von Individuen verharren. Damit gerät der gesellschaftliche Kontext aus den Blick, in dem dieses Video entstanden ist und der ihm gegen den Willen der Macher eine zwiespältige Bedeutung verleiht.
NYC war nicht nur eines der ersten Orte der Welt, der in den 1970er-Jahren im Zuge einer „Schuldenkrise“ in den Genuss von radikalen neoliberalen Reformen gekommen ist. Es war auch eine entscheidende Komponente der „moral panic“ über eine außer Kontrolle geratene Unterschicht, die sich in jener Zeit zu entfalten begann und die politische Transformation der nächsten Jahrzehnte ankündigte.
Dieses Phantasma von New York als einem nihilistischen Moloch, dessen moralische Verwahrlosung es zunehmend vom amerikanischen Mainstream entfernte, war so einflussreich, dass es Motiv zahlloser Filme geworden ist, von Die Klapperschlange bis Sieben. Die andere Seite dieses Narrativs ist der Fetisch, der unter Kulturschaffenden aus diesen wilden Jahren New Yorks gemacht wird, die mit dem sterilen Konsumtempel für Superreiche kontrastiert werden, der Manhattan heute ist.
Das alte New York ist die Welt von Taxi Driver, einem Film der um einiges komplexer und besser ist als Easy Rider, unter anderem weil er, ohne sich mit ihnen gemein zu machen, liberale und konservative Ängste verbindet: das verwahrloste urbane Lumpenproletariat steht nicht im Gegensatz zum traditionellen amerikanischen Heartland, sondern zu jungen Mitgliedern der wohlmeinenden, progressiven Elite, die für den Wahlkampf von McGovern arbeiten, dem damaligen demokratischen Präsidentschaftskanditaten und der Hoffnung der Linksliberalen. Travis Bickle steht auf Pornos und er ist ein moralisierender Faschist, der davon träumt, mit Gewalt den Schmutz von der Straße zu spülen.
Emblematisch für den Wandel, den New York durchgemacht hat, ist der Times Square: einst ein oft romantisiertes Zentrum der illegalen Sexindustrie und der Pornokinos, heute ein geleckter, touristischer Ort in der Hand großer Konzerne. Früher war diese Gegend wild und frei – und sehr ungastlich für Frauen. Eine Studie aus den späten 70ern über die 42nd Street, auf welcher der Times Square liegt, besagte, dass 90 Prozent der Passanten dort Männer waren.[1]
Entsprechende Maßnahmen mussten also ergriffen werden, um diese Straße in die sichere Heimat der teuersten Immobilien der Welt zu verwandeln, die sie heute ist. New York hatte ein Kriminalitätsproblem, keine Frage. Die Art und Weise aber, auf die dieses Problem angegangen wurde, war und ist bis heute von einem Verlangen geleitet, die Straße unter Kontrolle zu bekommen.
Der sogenannten „Broken-Windows-Theorie“ zufolge lässt sich die Kriminalität in besonderen „Problemvierteln“ am besten bekämpfen, indem eine allgemeine Atmosphäre von Recht und Ordnung hergestellt wird. Schon vereinzelte Anzeichen von Ordnungslosigkeit, wie etwa Bettler, zerbrochene Fenster oder öffentlicher Alkohol- und Drogenkonsum, könnten dazu führen, dass ein Viertel „kippt“, was zu einem rasanten Anstieg „echter“ Kriminalität führen würde. Die beiden Sozialwissenschaftler Wilson und Kelling (ersterer ein prominenter Vertreter jener Gruppe von Intellektuellen, die sich „Neokonservativ“ nennt) formulieren diese These 1982 zum ersten Mal in einem viel beachteten Artikel im The Atlantic.[2]
Deutlich machten sie allerdings auch die Konsequenzen, die sich daraus für die Arbeit der Polizei ergeben. Diese dürfe nicht nur zur Aufgabe haben, wirkliche Kriminalität zu bekämpfen. Vielmehr müsse sie ständige Präsenz auf der Straße zeigen und dort alle Verhaltensweisen regulieren, die die öffentliche Ordnung gefährden könnten. Polizeiarbeit habe nicht nur die Aufgabe der Strafverfolgung, sondern auch die der Disziplinierung der Bevölkerung.
Aus dem akademischen Ghetto in die Realität gelangte die „Broken-Windows-Theorie“ zuerst in New York. Auf den Wogen einer sich im ganzen Land durchsetzenden Tendenz zur „tough on crime“-Politik entschloss man sich, auch in New York hart durchzugreifen. Wilsons und Kellings Theorie wurde zur offiziellen Strategie erhoben. Bis heute bestimmt sie die Polizeiarbeit in New York. Die umstrittenen „stop-and-frisk“ Gesetze, die es der New Yorker Polizei erlauben, ohne den geringsten Verdacht Menschen auf der Straße anzuhalten und zu durchsuchen, sind ein aktueller Ausdruck der Theorie, die Polizei dürfe sich nicht auf das Bekämpfen von Verbrechen beschränken. Statistiken zeigen: 55 Prozent der von der Polizei angehaltenen sind schwarz, 30 Prozent sind Latinos und nur 10 Prozent sind weiß. Über 80 Prozent sind völlig unschuldig.[3]
Heute ist es in New York streng verboten, auf der Straße Bier zu trinken oder in Parks zu rauchen. Doch dies sind nur Symptome eines langen Projektes der Wiederinbesitznahme der Stadt. Manhattan ist wieder sicher. Sogar das rauhere Brooklyn wird zur niedlichen Spielwiese der Mittelschicht – zu dem Preis, dass ganze Bevölkerungsschichten kriminalisiert und einer polizeilichen Dauerbelästigung ausgesetzt werden. Wie durch eine unsichtbare Hand geleitet, gehen die wohlmeinenden Reformbemühungen der Elite zielgerichtet auf die Kosten „gewisser Teile der Gesellschaft.“
Wer denkt, an dieser Stelle würde dramatisiert werden, der sei an Eric Garner erinnert. Garner erstickte im vergangenen Jahr in New York vor laufender Handykamera, während mehrere Polizeibeamte ihn am Boden fixierten. Er war eines jener zahlreichen und weit publizierten schwarzen Opfern von Polizeigewalt, die im Schatten von Ferguson und Trayvon Martin das Thema wieder zur Kenntnis der Öffentlichkeit gebracht hatten. Eric Garners Beitrag zu dieser Debatte war der berühmt gewordene Satz „I can´t breath!“, den er unzählige Male wiederholt hatte, während er zu Boden gedrückt wurde.
An jenem Tag war die Polizei auf ihn aufmerksam geworden, weil er versucht hatte einen Streit zu schlichten, an dem er selbst nicht beteiligt gewesen war. Man kann sich die Frage stellen, warum er sich nicht widerstandslos festnehmen lies, sondern stattdessen protestierte (aber keinen physischen Widerstand leistete). Als läge seine ganze Würde darin, in diesem Augenblick nicht in Handschellen gelegt zu werden. Es mag daran gelegen haben, dass sich Garner zu dem Zeitpunkt auf Kaution befand. Seine schweren Verbrechen: Verkauf unbesteuerter Zigaretten, Autofahren ohne Führerschein, Marihuanabesitz, sowie der Versuch, sich vor der Polizei als eine andere Person auszugeben. Seit 1980 war er dreißig Mal festgenommen worden.
Unbesteuerte Zigaretten zu verkaufen ist sicher ein Verbrechen, dem sich ein robuster Rechtsstaat mit aller gebührender Härte widmen muss. Doch die Zeichen mehren sich, dass das gnadenlose broken-windows-policing, dem gewisse Bevölkerungsgruppen seit Jahrzehnten ausgesetzt sind, schon seit langem untragbare, nicht nur psychologische Wunden schlägt.
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