Whistleblower
Staatsfeinde der Postdemokratie

Whistleblower sind zu einem Problem für das postdemokratische System geworden. Denn sie machen Schein und Sein des Politbetriebs für jedermann sichtbar. Das bekamen nun auch die Betreiber von Netzpolitik.org zu spüren.

Foto: acidpolly / flickr / CC BY-NC-SA 2.0

Von Rainer Schreiber und Jens Wernicke

Die kritische Online-Plattform „Netzpolitik.org“ wagte es doch glatt, Auszüge aus Dokumenten des Verfassungsschutzes ins Netz zu stellen, dazu noch einen Bericht bezüglich einer V-Mann-Affäre im Dunstkreis der rechtsterroristischen NSU – ein Fall, über den auch die SZ und die ARD schon berichtet hatten. „Netzpolitik.org“ reiht sich damit ein in eine netzgestützte Welle des kritischen Journalismus, der die staatliche Geheimniskrämerei nicht mehr so einfach hinnehmen will und auf seinen demokratischen Informationsrechten und -pflichten gegenüber den viel beschworenen „Wählern“ besteht. Die Retourkutsche kam postwendend: Der Generalbundesanwalt hat gegen Verantwortliche der Plattform nun ein Strafverfahren wegen Landesverrats eingeleitet; im schlimmsten Fall droht diesen damit Haft.

So überraschend die aktuelle Anklage für die Betroffenen und die kritische Medienwelt kam, so offensichtlich reiht sie sich ein in eine systematische politische Strategie im Umgang mit „Enthüllern“, die auf dem vermeintlichen Recht der demokratischen Öffentlichkeit auf Aufklärung über alle wichtigen politischen Vorgänge und Beurteilungen bestehen. Der Eklat um Markus Beckedahl und Konsorten ist da nur die Spitze des Eisberges.

Ende November 2010 landete die Web-Plattform „Wikileaks“ ihren bis dahin größten Coup. Nach den Enthüllungen über die geheimen Beurteilungen, die amerikanische Diplomaten über die politischen Akteure der restlichen Welt als Dossiers angelegt hatten, schien bei der konzertierten kapitalistischen Staatenwelt der Ernstfall ausgebrochen zu sein: „Amazon“ kündigte „Wikileaks“ auf Druck der US-Regierung die Internet-Plattform, der zentrale Server in Paris wurde abgeschaltet, „Paypal“ beabsichtigte zunächst, die Konten des Netzwerks aufzulösen; die Spender und Unterstützer wurden mit Strafverfolgung bedroht.

Der „Kopf“ von Wikileaks, Julian Assange, wähnte sich seines Lebens nicht mehr sicher, wechselte ständig den Aufenthaltsort und floh in Großbritannien schließlich in die ecuadorianische Botschaft, um nicht verhaftet und in Schweden wegen eines Vergewaltigungsvorwurfs vor Gericht gestellt zu werden, den selbst die Gruppe feministischer Frauen in der schwedischen Sozialdemokratie, aus deren Reihen das angebliche Opfer stammt und die bestimmt keiner Sympathien für Vergewaltiger verdächtigt werden kann, als „überzogen“ und Werk einer „übereifrigen Staatsanwältin“ ansahen. Was immer von diesen Anschuldigungen wahr, überzogen oder gar gefälscht sein mag: Nachdenklich stimmen könnte einen zumindest, dass Assange exponierten Vertretern der amerikanischen Rechten gar als Schwerverbrecher gilt, der die Todesstrafe verdient habe.

Der US-Gefreite Bradley Manning wurde im August 2013 zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem er mehr als drei Jahre zuvor rund eine Viertelmillion geheimer Dokumente an WikiLeaks weitergegeben hatte, darunter die Kriegstagebücher aus Afghanistan und dem Irak, die Botschaftsdepeschen sowie ein Video, das zeigt, wie ein US-Kampfhubschrauber über Bagdad tödliche Jagd auf Zivilisten macht. 250 führende Wissenschaftler beklagten die „entwürdigende und unmenschliche Behandlung“ von Manning, der während der Untersuchungshaft 23 Stunden täglich allein in seiner Mini-Zelle verbringen, nackt schlafen und morgens nackt vor die Zellentür zur Kontrolle treten musste.

Und Edward Snowden, der im September 2013 unerlaubte Einblicke in die Überwachungs- und Spionagetätigkeit insbesondere der amerikanischen und britischen Geheimdienste gegeben hatte, konnte sich dem wutentbrannten Zugriff der US-Regierung nur entziehen, indem er Russlands Asylangebot annahm und dort auf inzwischen unbestimmte Zeit untertauchte.

Die als „Verräter“ gebrandmarkten Publizisten von als „Staatsgeheimnisse“ deklarierten politischen „Insider“-Informationen werden stets und überall unnachsichtig verfolgt und so hart wie nur möglich bestraft – das war und ist die Botschaft. Und jeder Staat, der es wagt, die Feinde des US-amerikanischen Weltpolizisten zu beherbergen und dadurch vor dessen rücksichtslosem Zugriff zu schützen, zieht sich die bleibende Feindschaft der Supermacht zu. Auch da gibt es nichts zu deuteln und jeder weiß, „wo der Hammer hängt“.

Wie stellten sich die deutschen Qualitätsmedien, vorgeblich Hüter der bürgerlichen Freiheitsrechte, zu diesem totalitären Anspruch auf politische Lufthoheit über jegliche Veröffentlichung von Vorgängen, Beurteilungen und Absprachen innerhalb des Staatsapparats, aber auch seiner militärischen und geheimdienstlichen Aktionen? Ziemlich eindeutig: Plötzlich wusste die konzertierte Journaille, dass Geheimnisse zum Staat gehören wie das Kruzifix zum Christentum und warnte vor der „Unkontrollierbarkeit“ ausgerechnet eines regierungskritischen Netzwerks, das sich eben die Kontrolle staatlicher Machenschaften durch deren Entlarvung auf die Fahnen geschrieben hatte.

Insbesondere konservative Politiker zeigten umgehend „Verständnis“ dafür, dass man einem „Verräter“ wie Snowden das nicht so einfach durchgehen lassen konnte. Ausgeschlossen war daher für die deutsche Regierung von vornherein, dass man diesem unzuverlässigen Subjekt Schutz anbietet und dadurch womöglich ein ungutes Licht auf die Vasallentreue der Merkel-Mannschaft fallen könnte. Die Überwachung der eigenen Regierungstelefone, Handys etc.? Eine Ungeschicklichkeit unter Freunden, vielleicht ärgerlich, aber eine Lappalie auf jeden Fall. Snowden hingegen muss für seinen schmählichen Verrat bezahlen, das war allen klar.

Dieser ganze Wahnsinn legt nur einen Schluss nahe: Wikileaks und überhaupt alle Personen, die sich die Veröffentlichung geheimer politischer Absprachen, Aussagen und Aktivitäten zur Aufgabe gemacht haben, sollen offensichtlich mit allen juristischen und womöglich auch geheimdienstlichen Mitteln zur Strecke gebracht werden. Warum? Wer nun versucht ist, die zum Teil eher banalen Enthüllungen über die hinter vorgehaltener Hand getroffenen, manchmal geradezu pennälerhaften US-amerikanischen Einschätzungen von Politikern befreundeter oder verfeindeter Staaten als „Peanuts“ abzutun und abgeklärt darauf zu bestehen, dass doch eh jeder wisse, wie in der Diplomatie seit Menschengedenken gelogen und geheuchelt werde, der übersieht den zentralen Punkt:

Das System des inzwischen fast weltweit etablierten Kapitalismus in Gestalt seiner zentralen politischen Sachwalter, die die überall gleichen „Sachzwänge“ im Rahmen verschiedener politischer Strukturen abarbeiten, gab und gibt zu erkennen, dass es selbst und niemand sonst, also ganz allein nach seinen Kriterien festzulegen gedenkt, was die Bevölkerung zu wissen und zu glauben hat und was nicht. Die politischen Machteliten der globalen Staatenwelt, seien sie Protagonisten demokratischer oder autoritärer Herrschaftsmethoden, wollen exklusiv darüber entscheiden, wie sie ihre internationale Politik, ihre weitreichenden Kontroll- und Überwachungstätigkeiten, ihre Beziehungen untereinander, zu befreundeten oder auch verfeindeten Machthabern, darzustellen gedenken, also was sie ihre Bevölkerung glauben machen wollen.

Während die hiesige Medienlandschaft, was diesen Standpunkt angeht, in den autoritär verwalteten, „neuen“ kapitalistischen Staaten wie China und Russland schnell fündig wird, in der Welt der Rohstoff-Diktaturen und arabischen Potentaten sowieso, will sie dergleichen im demokratischen Kapitalismus Europas und der USA nur schwerlich, als „Exzess“ oder „Ausnahme“, entdecken. Dabei zeigen gerade die umfassenden globalen Kontrollaktivitäten der USA, die sich dabei der Unterstützung der Geheimdienste „befreundeter“ Staaten selbst dann bedienen, wenn genau diese ausspioniert werden sollen, dass der grundsätzliche Standpunkt sich vom demokratischen Procedere kaum beeindrucken lässt: Alle modernen Staaten der Welt wollen und brauchen die Kontrolle der „öffentlichen Meinung“, alle wollen wissen, was ihre Bürger denken und wo sich Opposition regen könnte, und sei sie noch so unbedeutend und schwach.

Die damit kontrastierende öffentlichkeitswirksame Selbstdarstellung der Politik als bürgernah und demokratisch kontrolliert kommt dem Bild der „Bühne“ nahe, das der Politikwissenschaftler Murray Edelman in den sechziger Jahren in seiner Studie „Politik als Ritual“ als Versinnbildlichung seiner zentralen Forschungsergebnisse bemühte: Die Machteliten führen für das Wahlvolk ein Theaterstück auf, hinter dessen Kulissen die eigentlichen Entscheidungen getroffen, „die Fäden gezogen“ werden: in Gestalt einer unerbittlichen „Sachzwanglogik“ – „die Märkte“, „die nationalen Sicherheitsinteressen“ -, die sich im komplexen Geflecht von Bürokratien, Konzernen, Militärapparaten, Wirtschaftseliten und politischen Lobbyisten als Resultat mächtiger Interessen durchsetzt.

In die gleiche Richtung argumentiert auch Colin Crouch, wenn er in seinem schmalen Büchlein „Postdemokratie“ andeutet, dass der „Wahlzirkus“ und die mediale Politikshow von Interessen getragen werden, die auf Macht und Eigentum beruhen und die selbst nicht zur Wahl stehen. Damit liegen in Wahrheit eben keine „Sachzwänge“ vor, die man umstandslos akzeptieren müsste wie das Wetter, sondern durch Recht und Gesetz eingerichtete gesellschaftliche Strukturen, politische Institutionen und ökonomische Eigentumsverhältnisse, die den einen Interessen, die sich daraus ergeben, dienen, den anderen hingegen das Leben schwer machen oder zerstören.

Noam Chomsky: Manufacturing Consent

Gerade deshalb aber legt die Politik auf den Schein ihrer Selbstinszenierung Wert: Die Bürger sollen glauben, dass permanent alles auf sie aus- und für sie eingerichtet wird, damit sie die Motivation, sich an der Legitimation der Politik zu beteiligen, nicht verlieren.

Deswegen ist es völlig nebensächlich, welche „Enthüllungen“ neuralgische Punkte der Geheimdiplomatie, der aktuellen Kriegspolitik oder aber nur moralische Einschätzungen des Privatlebens ausgewählter Selbstdarsteller des globalen Politikzirkus betreffen: In der schieren Möglichkeit der Offenlegung absichtlich verborgener Ziele, Beurteilungen und Taktiken wird offensichtlich die Gefährdung gesehen – was deutlich macht, dass diese Sorte Herrschaft zuviel Transparenz generell für schädlich erachtet, was eben ein Licht auf die „Sachzwänge“ und Zwecke wirft, die sie verfolgt und die nicht von ungefähr eine extrem ungleiche Verteilung von politischer Macht und ökonomischem Reichtum auf dem gesamten Globus, aber auch innerhalb der kapitalistischen Industriestaaten zur Folge haben. Doch genau so sollen diese Zustände eben nicht gesehen werden: Eher als „Probleme“, die trotz der selbstlosen und beherzten Bemühungen der politischen Führungsmannschaft bisher noch nicht gelöst werden konnten.

Und wenn „Wikileaks“ noch dazu ankündigt, Dokumente über die Machenschaften gewisser US-Banken vor dem Hintergrund der Finanzkrise ins Netz zu stellen und auffliegen lässt, wie die USA ausgerechnet die Führer der Inselstaaten, die als Folge des Klimawandels als erstes abzusaufen drohen, zur Beteiligung an der Blockade einer Klimaresolution „überredet“ hat, wird das aufklärerische Potential derartiger kritischer Internet-Veröffentlichungen deutlich: Diese Plattform mag zwar keine ökonomischen Zusammenhänge erklären und politischen Zwecksetzungen analysieren können – aber sie ist durchaus in der Lage, skeptische Fragen aufzuwerfen. Zum Beispiel durch die Offenlegung von Korruption und Lüge als durchgängig eingesetztes Instrument der politischen Herrschaft.

Und mit der Verfolgung von Wikileaks und allen „Enthüllern“ gibt die staatliche Macht der „Moral“ der Enthüllungen unfreiwillig recht: Politik ist ein schmutziges Geschäft von herrschaftssichernden Maßnahmen und Zwecken, über die das Volk nur das erfahren soll, was die Macht ins rechte Licht rückt. Mehr nicht.

Dafür wird dann im Zweifelsfall auch der ganze staatliche Apparat bemüht, der mit Propaganda, Verboten und Strafverfolgung dem Spuk ein Ende zu setzen versucht. Ganz rechtsstaatlich natürlich, wenn nicht – Wikileaks, Assange, Snowden und ihren Unterstützern sei Dank – hinterher anderes bekannt wird.

Rainer Schreiber, geboren 1955, ist Diplom-Soziologe und arbeitet in der beruflichen Bildung und Bildungsforschung, hat diverse Lehraufträge in den Bereichen Sozialpolitik und Sozialmanagement inne und publiziert zum Management Sozialer Organisationen, zum demographischen Wandel und zu regionaler Wirtschaftspolitik. Sein aktuelles Buch „Religion, Volk, Identität? Das Judentum in der Sackgasse des modernen Nationalismus“ erschien 2014 im Alibri-Verlag.

Jens Wernicke, geboren 1977, ist Gewerkschaftssekretär und freier Journalist. Er war Mitglied im SprecherInnenrat der StipendiatInnen der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie im Vorstand des freien zusammenschlusses von studentInnenschaften (fzs) e.V.  Er arbeitete unter anderem als Referent für Bildungs- und Hochschulpolitik für die Fraktion DIE LINKE. im Hessischen Landtag und ist aktuell Mitarbeiter bei den NachDenkSeiten. Auf Facebook ist er hier zu finden.

 

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5 Kommentare zu "Whistleblower
Staatsfeinde der Postdemokratie"

  1. Fx sagt:

    Die allgemeine Vokabel “kritisch” ist im Zusammenhang mit Netzpolitik.org nicht ganz angebracht. Tatsächlich vertritt die Plattform nur Mainstream-Positionen, die weitgehend an die Grünen angelehnt sind. Dieses Paket umfasst natürlich auch eine kritische Betrachtung der Bereiche IT und Datenschutz, worauf sich Netzpolitik zum Glück weitgehend beschränkt.

    Unabhängig davon verdient jeder nicht-faschistische Journalist eine breite Solidarität in so einem Fall des angeblichen Landesverrats.

  2. Traumschau sagt:

    Schaut euch das bitte mal an:

    “Kurze Internetrecherche genügt um zu erkennen, dahinter stecken die Elite und die Grünen
    Netzpolitik.org und der Landesverrat: Alles nur Show?”

    http://projekt-wahrheit.de/alle_artikel/politik/netzpolitik.org_und_der_landesverrat_alles_nur_show.html

    Ich enthalte mich eines Kommentars – jeder lese und bewerte das selbst …
    LG Traumschau

  3. anna sagt:

    Sie heisst btw Chelsea Manning.

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