Die Krise in und um Griechenland ist zu einem Symptom geworden. Ob der Euroraum auseinanderbricht oder das „Friedensprojekt Europa“ dauerhaft Schaden nimmt oder sogar scheitert, ist ungewiss.
Von Dr. Klaus Funken
Auszuschließen ist beides nicht mehr. Fragen dieser Tragweite überhaupt zu stellen, galt lange Zeit für undenkbar. Europa befand sich doch – trotz aller Krisen und temporären Rückschlägen – auf dem erfolgversprechenden Weg einer immer weiter fortschreitenden Integration.
Aus dem Europa der „Sechs“, der sechs Länder, die sich 1957 zur „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)“ zusammengeschlossen hatten, wurde das Europa der „Achtundzwanzig“, der 28 Länder der „Europäischen Union (EU)“ von heute. Aus einer zunächst lockeren wirtschaftlichen Kooperation der Gründungsmitglieder in ausgewählten Sektoren (Kohle, Stahl, Landwirtschaft und Atom) wurde eine Union mit einem einheitlichen Binnenmarkt, der den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften – wenn auch noch nicht vollständig – verwirklichte. Anläufe zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik blieben dagegen in den Anfängen stecken.
Mit der gemeinsamen „Wirtschafts- und Währungsunion“, der Einführung des Euro als gemeinsamer Währung, wurde Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein weiterer strategischer Schritt auf dem Weg zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ getan, von denen, wie euphorisch immer wieder behauptet wird, die Gründungsväter der europäischen Gemeinschaft immer geträumt hatten. Eineinhalb Jahrzehnte nach der Einführung des Euros steckt Europa, nicht nur die Eurozone, sondern auch die Europäische Union in der schwersten Krise seit der Gründung der EWG 1957.
Eine tiefe Skepsis gegenüber dem weiteren Weg der europäischen Gemeinschaft hat die Menschen überall in Europa erfasst. Der Riss, der die Europäische Union spaltet, geht quer durch die europäische Gemeinschaft, er geht quer durch die sozialen Schichten, ja er geht quer durch die politische Klasse selbst. Die Krise geht damit weit über die Krisen hinaus, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft oder die später die Europäische Union immer wieder erschüttert hatten.
Krise mit Ansage
Die Frage ist, warum und wieso konnte es überhaupt zu einer solch zugespitzten Lage kommen? Die Antwort auf diese Frage fällt zunächst nicht schwer. Die Ursachen sind seit langem bekannt. Eine Währungsunion zu schaffen ohne eine politische Union mit zumindest gemeinsamer Wirtschafts-, Steuer-, Haushalts- und Sozialpolitik stand von vorneherein auf einer wackeligen Grundlage und war – wie viele Beobachter befürchteten – zum Scheitern verurteilt. Lange Zeit hatte auch die deutsche Bundesregierung diese Einschätzung geteilt und vor einer vorzeitigen Einführung einer gemeinsamen Währung gewarnt. Dass die Kohl-Regierung schließlich wider besseres Wissen der französischen Regierung, die einer schnellen Einführung des Euro den Vorzug gab, nachgegeben hat, war einer der größten politischen Fehler Kohls.
Es stellt sich im Nachhinein als grobe Fehleinschätzung heraus, anzunehmen, dass einer Währungsunion eine politische Union auf dem Fuße folgen werde, dass die gemeinsame Währung gleichsam Motor für die Vollendung der politischen Union sein könne. Die Krise heute ist exakt dieser Fehleinschätzung geschuldet. Die Euro-Krise war also vorhersehbar. Lediglich der Zeitpunkt des Ausbruchs der Krise blieb offen.
Handlungsoptionen
Wichtiger als die Krisenanalyse ist allerdings die Frage: Welche Handlungsoptionen sind heute – 5 Jahre nach Ausbruch der Krise – überhaupt möglich und welche sind angesichts der derzeitigen politischen Entwicklung in den einzelnen Mitgliedstaaten noch realistisch? In jedem Fall ist der Weg zurück in den Zustand der Währungsunion vor der Krise versperrt. Wie auch immer die Euro-Rettungs-Politik bewertet werden mag, es wurden seither Tatsachen geschaffen, an denen niemand vorbeikommt. Das fängt schon bei den milliardenschweren Hilfsprogrammen für die Krisenländer – allen voran Griechenland – an, die so oder so den europäischen Steuerzahlern teuer zu stehen kommen werden.
Kommt es zu einem Crash in der Eurozone, werden zweistellige Milliardenbeträge allein für Deutschland fällig. Zeitgleich sinkt die Bereitschaft der Bürger in allen europäischen Mitgliedstaaten zu solidarischem Handeln und den Krisenstaaten überhaupt noch beizustehen. Sowohl in den Krisenländern wie in den Gläubigerländern breitet sich eine Mentalität nach dem Motto „Rette sich wer kann“ aus.
Das provozierende Verhalten der neuen griechischen Regierung heizt diese ablehnende Haltung zusätzlich an. Während die Legitimationsbasis der Rettungspolitik schrumpft, werden erhebliche Opfer auf die europäischen Steuerzahler unvermeidbar zukommen, vielleicht sogar unter Umständen, die für die Regierungen höchst unangenehm sein können, nämlich dann, wenn die Eurozone implodiert. Dann wurden die Opfer umsonst gebracht und die Regierungen stehen mit leeren Händen da. Das macht die Lage der Europäischen Union so gefährlich.
Weitere Fragen stehen im Raum: Ist ein Zurück zum Maastricht-Vertrag, wie es auch heute noch vor allem von wissenschaftlicher Seite anempfohlen wird, überhaupt noch möglich? Wohl kaum. Weder rechtlich noch politisch wird es ein Zurück zu den Grundlagen des Maastrichter Vertrages geben können. Die Eurozone ist heute eine Haftungsunion, ob man das für gut befindet oder nicht. Ob sie eine Transferunion werden wird, bleibt abzuwarten. Politisch ist es geradezu ausgeschlossen, dass sich Regierungen heute bereit erklären, einen Maastricht-Reset zu wagen.
So bleiben vermutlich nur zwei Optionen: Die Eurozone wird – nach einer endlos quälenden „Politik des Schreckens ohne Ende“ – schließlich implodieren, zumindest sich verkleinern, oder es wird einen weiteren Schritt zu einer politischen Union, zu einem zentralistischen europäischen Bundesstaat, gegangen. Viele erhoffen Letzteres, wünschen, dass die Euro-Krise als „einmalige Chance“ genutzt wird, jetzt die politische Union endlich ins Werk zu setzen.
Die Frage bleibt: Sind die Bürgerinnen und Bürger reif und bereit für einen europäischen Bundesstaat mit zumindest gemeinsamer Wirtschafts-, Fiskal-, Haushalts- und Sozialpolitik, später dann auch mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, wie ihn Regierungen einiger – nicht aller – Staaten (auch die deutsche Bundesregierung) befürworten und zu verfolgen scheinen? Es sieht nicht danach aus. Werden diese Regierungen dann trotzdem den Weg zu einem europäischen Zentralstaat gehen? Vermutlich nicht. Die Zeiten sind vorbei, in denen Fragen der Europäischen Integration vornehmlich den politischen Eliten vorbehalten waren, die Bürgerinnen und Bürger Zaungäste blieben. Es ist nicht zuletzt diese selbstverschuldete Ausweglosigkeit, in die die Regierungen die Eurozone hinein manövriert haben, der die Lage so unberechenbar macht.
Zauberlehrlinge
Andersherum gefragt: Führt der durch die Finanzkrise hervorgerufene und zum Teil auch erzwungene Schritt zu einem europäischen Zentralstaat nicht in die Sackgasse? Ist es nicht der sichere Weg in eine völlig andere, nicht beabsichtige Richtung, nämlich ein Weg in die europäische Desintegration, den kaum jemand will, den viele allerdings befürchten? Haben sich die Euro-Retter nicht zu jenen „Zauberlehrlingen“ mutiert, die das, was sie in den Jahren seit 2010 entschieden haben, überhaupt richtig verstanden? Überblickten sie die Folgen, die ein der Bevölkerung aufgezwungener Weg zu einem europäischen Zentralstaat mit sich ziehen wird? Schlimmer noch, haben sie zwischenzeitlich die Kontrolle über den Prozess verloren, den sie seinerzeit in Gang gesetzt hatten? Steht Europa vor einem ungewollten, aber von den maßgeblichen europäischen Politikerinnen und Politiker tatsächlich bewirkten Scherbenhaufen, der ein völlig neues Nachdenken über die Zukunft des europäischen Kontinents erfordert und erzwingt? Grundsatzfragen drängen sich heute in den Vordergrund und grundsätzliche Antworten sind gefordert und werden von den Bürgerinnen und Bürgern überall in Europa erwartet.
Die Unruhe wächst
Die Unruhe ist mit Händen zu greifen. Wahlen drücken den aufgestauten Unmut aus. Parteien schießen aus dem Boden, die einer Re-Nationalisierung des Kontinents das Wort reden. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, welcher politischen Ausrichtung sie sind. Die griechische linksextreme Syriza-Partei eines Alexis Tsipras und der rechtsextreme Front National in Frankreich sind sich einig, dass der Einfluss europäischer Institutionen viel zu weit geht und zurückgedrängt werden sollte. Die linksextreme spanische Podemos-Bewegung und die rechtskonservative United Kingdom Independence Party (UKiP) eint ihr Kampf gegen „das Diktat aus Brüssel“.
Überall in Europa machen sich Bewegungen und Parteien breit, die weniger Europa, weniger Einfluss der EU Kommission, weniger Macht für die Europäischen Räte, für das Europaparlament oder für die Europäische Zentralbank fordern. Ihre Devise lautet: Zurück zu mehr nationaler Entscheidungsbefugnis, zu mehr nationaler Kontrolle, zu mehr nationaler Eigenständigkeit. Die grassierende Europa-Skepsis hat längst die Mitte der Gesellschaft erreicht.
Beschlüsse aus Brüssel werden zwischenzeitlich nur noch dann akzeptiert, wenn sie „dem Land nutzen“, Kompromisse abgelehnt, wenn sie nicht mit nationalen Interessen übereinstimmen. Eingegangene Verpflichtungen, Verträge und Vereinbarungen brauchen nicht mehr ernstgenommen, eingehalten werden, sie können „abgewählt“ werden, wie die neue griechische Regierung etwa behauptet. Marine Le Pen, die Vorsitzende des Front National bereitet den Ausstieg Frankreichs aus dem Euro vor. Podemos eifert der Syriza Partei nach und hofft auf einen ähnlichen Erfolg bei den nationalen Wahlen im Herbst. In Deutschland ist es die Partei „Die Linke“ und die rechtskonservative AfD (Alternative für Deutschland), die sich gegen Brüssel und das Diktat der Eurokraten positioniert.
Bemerkenswert, wenn nicht befremdlich, ja beunruhigend ist die Tatsache, dass die grundlegenden Fragen, die den Menschen auf den Nägeln brennen, in der politischen Klasse Europas kaum jemals thematisiert werden. Es scheint fast so, als ob die politischen Eliten ihnen geradezu ausweichen. Ausschließlich Entscheidungen im Detail werden öffentlich kommuniziert. Allein schon die Sprache und die in aller Regel irreführende Begrifflichkeit stoßen ab. Selbst Experten haben es schwer, den Durchblick zu bewahren. Es drängt sich geradezu der Eindruck auf, dass die hochartifiziellen Sprachschöpfungen der Eurokraten zu einer allgemeinen Sprachverwirrung betragen, die den Regierungen entgegenkommt. Der kaum nachvollziehbare Zickzack-Kurs etwa der deutschen Bundesregierung seit dem Ausbruch der Krise kann damit vortrefflich verschleiert werden. Durch Entscheidungen in dem kleinen Kreis der Regierungschefs – häufig unter „enormen Zeitdruck“ entstanden, wenn nicht gar von den Finanzmärkten „erzwungen“ – werden Fakten geschaffen, die den Bürgerinnen und Bürgern kaum einmal angemessen vermittelt werden, so dass bis auf wenige Eingeweihte das Ausmaß und die Reichweite der Entscheidungen verborgen bleiben. Dadurch wird das Misstrauen der Bevölkerung weiter geschürt.
Krisenauslöser
Unmittelbarer Anlass für die Krise waren akute, allerdings schwerwiegende Finanzsorgen eines kleinen Staates an der Peripherie Europas, Griechenland. Diese hatten sich in Folge der Lehman Brother-Pleite 2008 verschärft und traten 2010 manifest zu Tage. Allerdings waren die Finanzsorgen Griechenlands schon seit langem bekannt. Ein Ausweg war auch vor Ausbruch der Finanzkrise nicht ersichtlich. Und die griechischen Regierungen – seien sie nun sozialistisch oder konservativ ausgerichtet – machten keinerlei Anstalten, sich ernsthaft mit den Finanzproblemen ihres Landes zu befassen. So war ein immer weiteres Abgleiten des Landes erwartet worden. Neu war allenfalls das Tempo und das Ausmaß der Krise, in die das Land Anfang 2010 zu versinken drohte.
Ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro wurde von den Regierungen der Eurozone angesichts der weltweiten Finanzmarktkrise als zu gefährlich angesehen. Ein Dominoeffekt wurde befürchtet, der andere Eurostaaten hätte erfassen können und damit das Euroregime insgesamt gefährdet hätte. Die europäische Staatengemeinschaft sollte eingreifen (was dann auch geschah), um durch Hilfskredite einen Staatsbankrott zu vermeiden und Griechenland ein Verbleiben in der Eurozone zu ermöglichen. Über diese Einschätzung konnte man sehr unterschiedlicher Meinung sein. Das Land war von Anfang an nicht reif für eine Mitgliedschaft in der Eurozone. Die mit der Mitgliedschaft übernommen Verpflichtungen blieben für die Regierungen in Athen unverbindliche Absichtserklären, die je nach Lage erfüllt oder missachtet werden konnten. Hinzukam: Der „billige“ Euro lud geradezu zum ungehemmten Schuldenmachen ein, was Staat und Bürger dann auch ausgiebig taten.
Feststeht, dass aufgrund ihres starken Griechenland-Engagement die Interessen vor allem französischer und deutscher Banken massiv berührt waren. Milliarden von Forderungen standen im Raum. Ein Ausscheiden aus dem Euro und die Wiedereinführung der nationalen Währung hätte die griechische Regierung gezwungen, von seinen Gläubigern einen Forderungsverzicht zu verlangen. Angesichts der weltweiten Finanzmarktkrise und dem tiefen Misstrauen der Banken untereinander hätten die französische und die deutsche Regierung einspringen müssen und den möglichen Bankrott dieser Finanzinstitute zu vermeiden. Das wollte vor allem die französische Regierung vermeiden. Die Lasten aus der „Rettung“ Griechenlands wurden auf alle Eurostaaten abgewälzt.
Zwischenzeitlich haben sich europäische Banken als Gläubiger aus Griechenland fast vollständig herausgezogen. Beigetragen dazu hat freilich ein Schuldenschnitt in einem Volumen von gut 100 Milliarden Euro, der zulasten privater Gläubiger ging. Von den 322 Milliarden Euro griechischer Staatschulden werden heute 80 % von staatlichen, vorwiegend europäischen Institutionen – davon allein knapp 200 Milliarden von den „Rettungsschirmen“ der Eurozone – gehalten.
Chance oder Desaster
Die „Bewältigung“ der Staatsschuldenkrise Griechenlands seit dem Frühjahr 2010 hat die in Maastricht vereinbarten Grundlagen der Eurozone massiv verändert. Aus bilateralen Nothilfen für ein einzelnes Land wurde ein „Krisenabwehrmechanismus“ für die gesamte Eurozone entwickelt, der bei Einführung des Euros nicht vorgesehen, ja ausdrücklich ausgeschlossen worden war. Zwischenzeitlich sind dauerhafte, institutionelle Vorkehrungen und Regeln entstanden, deren Zielsetzung es ist, die „Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion“ durch Garantien der Gemeinschaft der Eurostaaten (Eurogruppe) zu gewährleisten und krisenhafte Zuspitzungen in einzelnen Mitgliedstaaten durch die Bereitstellung von Notkrediten zu vermeiden. Die Europäische Zentralbank steht vertragswidrig als Finanzier bankrotter Staaten bereit. Das neue Nothilfesystem sei, so wird den Bürgerinnen und Bürgern versichert, an „harte Auflagen zur Konsolidierung der Staatshaushalte und zur Durchführung von Strukturreformen geknüpft“.
Doch es blieben von Anfang an Zweifel, ob die „harten Auflagen“ auch wirklich durchgesetzt werden können. Der „Krisenfall Griechenland“ bestärkt diese Zweifel. Mehr noch: Der Schuldner Griechenland spielt zwischenzeitlich mit den Gläubigern nach Belieben Katz und Maus, ignoriert zuvor eingegangene Verpflichtungen, setzt ihm genehme Zeitpläne und Zahlungsbedingungen durch, droht mit „neuen strategischen Partnern”. Es drängt sich der fatale Eindruck auf, Ministerpräsident Alexis Tsipras säße am längeren Hebel und die Gläubiger, die Eurogruppe, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds, kuschten und tanzten nach seiner Pfeife. Der nun schon Monate dauernde K(r)ampf um die Einhaltung vereinbarter Verträge gibt ein schlimmes Beispiel ab und lässt für die Zukunft nichts Guts erwarten. Sollte das „Tsipras-Beispiel“ in anderen Ländern Schule machen, stehen Europa stürmische Zeiten bevor.
Feststeht: Mit der „Euro-Rettungspolitik“ haben die Eurostaaten einen völlig neuen Weg eingeschlagen, dessen Ende jetzt noch nicht abzusehen ist. In einer Mischung aus Unvermögen, mangelndem Standvermögen, Gleichgültigkeit und absichtsvollem Handeln wurde eine Regionalkrise dazu umfunktioniert, um eine europäische Währungszone mit neuer Zielsetzung zu schaffen. Die Unruhe der Bürgerinnen und Bürger über diesen Kurs ist in allen Ländern des Europäischen Union, nicht nur des Euroraumes, mit Händen zu greifen. Aus einem regional begrenzten Crash an der Peripherie des Kontinents ist eine europäische Legitimations- und Orientierungskrise geworden.
Zwischenzeitlich ist die Existenz der Europäischen Union, wie wir sie bislang kennen, in Gefahr. Innerhalb der Europäischen Union herrschen zwischen den Mitgliedstaaten – vor allem seit dem Versuch, das Euroregime gegen alle ökonomische Vernunft um jeden Preis zu retten – Unfrieden, Misstrauen, nicht selten offene Feindschaft, ja Hass. Aus dem Versprechen der Regierungen, aus der Eurozone eine Region der wirtschaftlichen und sozialen Prosperität, der Währungs- und Geldwertstabilität zu machen, droht ein Alptraum zu werden. Die angebliche Euro-Rettungspolitik ist nicht nur auf dem Wege, das Euroregime zu zerstören, selbst die geistig moralischen Fundamente des europäischen Einigungswerkes, wie sie nach dem 2. Weltkrieg am dem Beginn der fünfziger Jahre gelegt worden waren, geraten in Gefahr, vor allem dann, wenn die wirtschaftliche Krise weiter anhält und die Menschen das Vertrauen in die europäischen Institutionen endgültig verlieren. So ist die Krise in und um Griechenland zu einem Krisensymptom für die Zukunft der Europäischen Union geworden. Eine europäische Zeitenwende deutet sich.
Klaus Funken war langjähriger wirtschaftspolitischer Referent der SPD-Bundestagsfraktion sowie zwischen 1989 und 1995 Leiter der Büros der Friedrich Ebert Stiftung in Shanghai und London.
Sehr geehrter Herr Funken,
vielen Dank für Ihren Beitrag. Für mich sieht es so aus, als wäre hier (so gut wie) erstmals einer der politisch aktiv Tätigen in der Lage und willens, offen die aktuellen Probleme der EU zu diskutieren. Was bisher von „offizieller“ und „halb-offizieller“ Stellungnahme zu hören war, ist eher als Propaganda für das jeweilige Projekt, die jeweilige Person oder Partei zu werten, denn als eine offene Diskussion. Aus diesem Grund würde ich Ihren Beitrag gern aufnehmen und ein paar Argumente einwerfen, also die Diskussionsgelegenheit aufgreifen.
Aus meiner Perspektive kann man die angesprochenen Problemlagen nur dann verstehen, wenn das massive Demokratiedefizit, wie es in der EU-Politik seit geraumer Zeit vorherrscht, als zentral betrachtet wird. Nachdem die beiden Probe-Referenden zu einer EU-Verfassung (in Frankreich und den Niederlanden 2005) recht miese Ergebnisse brachte, haben die Regierungen offensichtlich beschlossen, dass ihre Völker noch nicht reif wären für diesen Prozess (wie es in Ihrem Artikel auch anklingt) und es daher ohne sie gehen muss. So wurde der Verfassungsentwurf flugs zu einem Vertrag umdefiniert und damit von der Zustimmung der Völker unabhängig. Schon hier zeigt sich, dass demokratische Grundsätze aufgegeben wurden, denn in einer Demokratie sind ja wohl Politiker per se dazu aufgerufen, die gewählten Programme abzuarbeiten, nicht aber, unbedingt eigene Vorstellung durchzusetzen, die diesen Programmen offen entgegen laufen.
Seit dieser Zeit sehen sich die Regierungen und die EU-Bürokratie (durchaus zurecht, wie ich denke) mit dem Vorwurf konfrontiert, sie agierten an ihren Wählern vorbei. Das „Europäische Projekt“ wird als eine Art Heiligtum betrachtet, ohne das eine weitere Entwicklung nicht mehr vorstellbar erscheint. Das ist aber natürlich aus mehreren Gründen Unsinn. Zunächst einmal kann das Projekt nur „fliegen“, falls und solange die „Leute auf der Straße“ es auch von Anfang an mittragen. „Verordnen“ lässt sich Solidarität nun mal grundsätzlich nicht. Außerdem war Europa auch vor dem Römischen Verfassungsvertrag bereits eine nach innen friedliche, prosperierende und wenig nationalistisch gesinnte Gruppe von Staaten. Der Nachdruck, mit dem die Völker zu weiterer Annäherung gebracht werden sollen, war und ist also eigentlich unnötig. Darüber hinaus muss man leider feststellen, dass ein solcher Druck meist auf den Ausübenden zurückfällt, also eher kontraproduktiv ist. Man benötigt für den Frieden und die Zusammenarbeit in Europa weder eine gemeinsame Währung, noch eine gemeinsame Zentralbank, noch eine zusätzliche, übernationale Bürokratie. Ordentlich umgesetzt würden sie auch nicht stören, sie sind aber nicht unbedingt notwendig.
Die zunehmenden wechselseitigen Antipathien in Euroland sind daher meines Erachtens nicht etwa auf traditionell nationalistische Stimmungen in den Völkern zurückzuführen (die es natürlich durchaus gibt, aber geringe Minderheiten darstellen), sondern geradezu auf das antidemokratische, autokratische Agieren der sich selbst so nennenden „Eliten“. In allen Zivilisationen der Vergangenheit war es aber ein untrügliches Zeichen von Niedergang, wenn die „Eliten“ sich allzu sehr von ihren Mitmenschen entfernten. An diesem Punkt sind wir historisch nun offensichtlich wieder angelangt, das politische System der westlichen Vormachtstellung ist im Absteigen begriffen, die G20 sind ein gutes Anzeichen dafür. Nun ist es aber für langjährige Machthaber vollkommen inakzeptabel, ihren eigenen Machtverlust hinzunehmen, sie wehren sich mit allen Mitteln allein schon gegen die entsprechende Vorstellung. Und dieses Wehren beschleunigt den Absturz nur noch zusätzlich.
Der wirklich bedrohliche Punkt hierbei ist aber, dass sich nahezu alle großen europäischen Parteien (in D also CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne, andere maßgebliche Parteien hatten wir nach dem 2. Weltkrieg nicht) darin einig zu sein scheinen, dass dem Wahlvolk nicht zu trauen ist und dieses daher „geführt“ werden müsse. Der eigentliche Souverän soll also abdanken und den Parteien das Ruder und das Denken überlassen. Dabei heißt es doch im GG: „Die Parteien wirken bei der Meinungsbildung mit“ und nicht etwa: „Die Parteien sind die maßgebliche Meinung“.
Dass bei alledem die ökonomischen und dabei vor allem finanziellen Fragen absolut in den Vordergrund traten, ist ein weiterer Hinweis auf die Ent-Demokratisierung. Denn anders als sonst in sozialen, kulturellen, politischen Prozessen, sind die (post-)modernen Wirtschaftsaktivitäten geradezu anti-demokratisch konstruiert. Wenn eine kleine Gruppe von Besitzern mitunter Hunderttausenden von Mitarbeitern vorschreiben darf, wie sich sie bis ins Detail hinein zu verhalten haben, dann ist das eindeutig das Gegenteil von Demokratie und kann jemandem nur dann einsichtig sein, wenn Eigentum und Geld grundsätzlich als das allerhöchste Gut angesehen wird, das vor allem anderen zu schützen ist. Wenn also etwa die linke (keineswegs aber „linksextreme“, das wäre etwas ganz anderes) Syriza heute darauf besteht, Verträge zu ändern, die genau diesem ökonomisierten Politikverständnis entgegentritt und stattdessen soziale Aspekte stärker in den Vordergrund rücken möchte, ist das sicher nicht als ein Vertragsbruch anzusehen, wie Sie meinen, sondern nur als ein demokratisch legitimierter Wunsch nach Neuverhandlung. Ein Vertragsbruch läge vor, wenn die bisherigen Verträge einfach aufgekündigt werden würden, und selbst das könnte man in einer Situation wie aktuell in Griechenland durchaus nachvollziehen. Syriza wünscht aber nur, neu zu verhandeln. Was sollte daran undemokratisch sein? Dass, ich zitiere, „die Eurogruppe, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds, kuschten und tanzten nach [der Syriza-] Pfeife“, kann auch nur behaupten, wer dem überbordenden Machtanspruch dieser „Institutionen“ uneingeschränkte Autorität verleihen möchte. Weder die Eurogruppe, noch die EZB und der IWF nun schon gar nicht, haben aber irgendeine demokratische Legitimation. Es handelt sich einfach um Verwaltungsinstrumente der herrschenden Politikerklassen, um sich international wechselseitig zu unterstützen und zu pseudo-legitimieren.
Wenn eine Politik wie die Merkel-Schäuble-Gabriel-Lagarde-Austerität so nachhaltig gescheitert ist wie in Griechenland (und, da Sie auch bereits an Podemos denken, in Spanien genauso), dann nutzt ein Beharren auf einmal unterzeichnete Verträge gar nichts, dann muss auf jeden Fall neu gedacht werden. Einen Plan zu verfolgen, nur weil er einmal gefasst wurde, ohne die bereits zutage getretenen Folgen zu berücksichtigen, ist nicht Stabilität sondern Starrsinn, die es therapeutisch zu behandeln gilt. Erneut würde eine solche Strategie aber voraussetzen, dass die politisch Verantwortlichen mental überhaupt in der Lage sind, eine potentielle Niederlage, ein eigenes Scheitern und einen Neuanfang konzeptionell für möglich zu halten. Genauso wie im Fall der Europa-Einigung ist eine solche Minimum-Flexibilität in der Selbstwahrnehmung aber offensichtlich nicht gegeben, weder in Berlin, noch in Paris, noch in Brüssel. Und, dies ist mein Fazit, an genau dieser Starrköpfigkeit und Inflexibilität droht das gesamte Projekt zu scheitern. Schade eigentlich, ich würde ein vereintes Europa auch gerne sehen (ich bin beileibe kein Anti-Europäer!), aber die Art, wie das gegenwärtige Brüssel organisiert ist, bedeutet das absolute Ende jeglicher grundlegender Demokratie.
Ich befürchte wirklich, dass dieses Politikdesaster auf US-amerikanischen Spuren wandelt, also auch hierbei dem Vorbild des Großen Bruders nacheifert, der ja mittels Geheimgefängnissen, Folter, Massenüberwachung, schießwütigen weißen Polizisten, Drohnenterror, der Privatisierung von Gefängnissen und Polizeiaufgaben, der Militarisierung der Polizei etc. auch auf genau diesem Gebiet Vorreiter spielt. Wenn wir nicht sehr aufpassen, landen wir in einer Oligarchie der Partei-„Eliten“ in trauter Gemeinschaft mit den Konzern-„Eliten“, wie das bei TIPP, CETA, TPP etc. bereits vorgedacht ist.
MfG, Thomas M.
Eine inhaltliche Ergänzung bietet:
http://www.geolitico.de/2015/06/23/die-moeglichkeiten-der-europaeer/