Was sind eigentlich die Gründe der griechischen Krise? In neoklassischer Hinsicht ist der Staat vorbildlich aufgestellt. Aber warum werden dennoch Strukturreformen gefordert?
Von Frank Lübberding
Eigentlich ist es ganz einfach. Griechenland braucht Wirtschaftswachstum, um aus der Krise herauszukommen. Insofern müsste man jetzt darüber diskutieren, wie dieses Wirtschaftswachstum zu erreichen wäre. Etwa auf welcher Grundlage Unternehmen in Griechenland wieder investieren. Man könnte es mit den Strukturreformen versuchen, die in keiner Sonntagsrede fehlen dürfen. Wie wäre es mit den berühmten Arbeitsanreizen für Arbeitslose? Das kennen wir noch aus der deutschen Diskussion früherer Zeiten. Dort wurde die Höhe von Lohnersatzleistungen für die fehlende wirtschaftliche Dynamik verantwortlich gemacht. In Griechenland ist das allerdings kein Thema: Dort fallen Arbeitslose nach 12 Monaten aus den sozialen Sicherungssystemen heraus. Kein Vergleich mit dem Generositätsniveau des deutschen Sozialstaats, trotz der Agenda 2010. Daran kann es in Griechenland nicht liegen. Es ist in dieser Beziehung vorbildlich zu nennen, wenigstens aus der Perspektive von Neoklassikern. Woran liegt es dann?
An den Strukturdefiziten der griechischen Staatsverwaltung? Sicher fehlt es immer noch an funktionierenden Katasterämtern. Allerdings ist nicht sicher, ob das in China wirklich besser funktioniert – und die haben bekanntlich trotzdem Wirtschaftswachstum. Sind die Löhne im Vergleich zur Produktivität zu hoch? Niemand hat in den vergangenen Jahren ernsthaft den gelungenen Anpassungsprozess des griechischen Lohnniveaus an die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft bezweifelt. Oder ist das Rentenniveau für das fehlende Wirtschaftswachstum verantwortlich? Bekanntlich wurde in den vergangenen Tagen darüber viel geredet. Das Problem der Renten ist aber dummerweise eine Folge der ökonomischen Misere, nicht umgekehrt. In jeder Volkswirtschaft wird das Rentensystem unbezahlbar, wenn sie fünf Jahre lang in der Dauerkrise steckt. Warum das Rentenniveau für fehlende Unternehmensinvestitionen verantwortlich sein soll, ist angesichts dieser Fakten ein Rätsel. Oder werden Unternehmen von den überbordenden Kosten für andere Sozialsysteme behindert? Da wäre an die Krankenversicherung zu denken. Nur sind in Griechenland mittlerweile 25 % der Bevölkerung aus dem Krankenversicherungssystem herausgefallen. Angesichts dessen kann man nur feststellen: Eigenverantwortung wird in Griechenland groß geschrieben, sogar unter einer linken Regierung. Diese hat daran nämlich bis heute nichts geändert. Wahrscheinlich regieren in Deutschland die Kommunisten, weil dort an einem vergleichsweise generösen Sozialstaat festgehalten wird, während in Griechenland die Neoklassiker im linken Schafspelz an der Macht sind.
Dann bliebe noch die Kritik am griechischen Steuerwesen zu nennen. Das ist sehr großzügig, wenn man etwa die Logik des deutschen „Bundes der Steuerzahler“ anwendet. Ein regelrechtes Unternehmerparadies, wenn man die historisch überlieferte Großzügigkeit im Umgang mit Steuerschuldnern ernst nimmt. Unternehmensinvestitionen können also nicht am fiskalischen Zugriff des Staates scheitern. Dieser lässt den Unternehmern vielmehr jeden Spielraum, den sie wünschen. Im historischen Vergleich können damit eigentlich nur Luxemburg und Irland konkurrieren, die ebenfalls versuchten, die Belastung von Unternehmen möglichst gering zu halten.
Fassen wir also zusammen: In Griechenland sind alle Voraussetzungen gegeben, die sich ein Neoklassiker wünscht. Eine Bevölkerung, die nicht in der sozialen Hängematte liegt, sondern Eigenverantwortung lebt. Unternehmen, die von der Sozial- und Steuerpolitik kaum behelligt werden. Selbst der aufgeblähte Staatssektor war Ende 2014 kein Problem mehr gewesen, weil Griechenland den berühmten Primärüberschuss in seinem Staatshaushalt erwirtschaftet hatte. Daran kann es somit auch nicht gelegen haben. Trotzdem redet jeder kurz vor dem Grexit über Strukturreformen in Griechenland. Ob die leidige Korruption in Griechenland den Aufschwung verhindert? Sicher könnten uns Chinesen darüber ebenfalls Auskunft geben. Dort hat ihn die Korruption nicht verhindert. Übrigens auch nicht der Staatsbesitz an der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Oder geht es in der Debatte über Griechenland gar nicht um Wirtschaftswachstum, Unternehmensinvestitionen und ähnliches volkswirtschaftliches Gedöns? Um den Abbau der Staatsverschuldung, die Reduzierung der Arbeitslosigkeit, die Sicherung der sozialen Grundbedürfnisse der Bevölkerung? Wenn es darum ginge, müsste man darüber reden. Was aber in den Diskussionen keine Rolle spielt, denn ansonsten müsste man bemerken, woran es den Griechen nicht fehlt, um Unternehmensinvestitionen anzuregen: Etwa an der sozialpolitischen Eigenverantwortung der Bevölkerung oder der Entlastung der Unternehmen von Steuern und Sozialabgaben.
Vielleicht sollte man einmal darüber nachdenken, warum man bei Griechenland nicht zu schätzen weiß, was manche Ökonomen (etwa beim IWF, der EU-Kommission, der EZB) ansonsten so loben und als Voraussetzung für Wirtschaftswachstum betrachten. Plötzlich spielt das alles keine Rolle mehr. So ist diese Debatte um Griechenland ein Rätsel, wenn man sie ökonomisch betrachtet. Aber es könnte natürlich auch mit dem Euro zu tun haben. Nur den muss man nicht ökonomisch, sondern politisch diskutieren. Aber das hatten wir ja schon im Jahr 2012. Allerdings gibt es gegenüber damals einen Unterschied: Die heutige Regierung in Athen weiß genau, warum “unter diesen Bedingungen Griechenland zu einer Verelendungspolitik verurteilt (ist), die ökonomisch sinnlos, sozial katastrophal und politisch nicht zu rechtfertigen ist.”
Das ist halt dumm gelaufen. Jetzt müssen die Europäer in der Eurozone doch wegen der störrischen Griechen tatsächlich eine politische Entscheidung darüber treffen, was sie wollen. Die bisherige Eurozone als dysfunktionales Währungskuriosum gehört nicht mehr dazu. Gleichgültig übrigens, ob es zum Grexit kommen wird oder nicht. Sie wird sich danach politisch verändern müssen. Aber man kann natürlich auch weiterhin über Katasterämter, Steuerverwaltung, Renten und andere Strukturreformen in Griechenland diskutieren. Es wäre ja nicht ohne Komik, wenn der Euro an Katasterämtern scheitern sollte. Wahrscheinlich riskiert das aber nicht die Bundeskanzlerin. Das sähe in den zukünftigen Geschichtsbüchern schließlich etwas blöd aus.
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