Germanwings-Absturz
Pathologisierung einer Katastrophe

Wie konnte es im Zuge des Germanwings-Absturzes zu den krassen Reaktionen in der Öffentlichkeit kommen? Und welche Auswirkungen haben sie gehabt? Der Versuch einer Aufarbeitung.

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Foto: Gerard van der Schaaf / flickr / CC BY 2.0

Von Friedo Karth

Gut anderthalb Monate ist es nun her, dass eine Germanwings-Maschine in den französischen Alpen abgestürzt ist. Die Geschehnisse um Flug 4U9525 lösten in der Öffentlichkeit Bestürzung über den Tod von 150 Passagieren und Besatzungsmitgliedern aus. Politik, Medien und Zivilgesellschaft nahmen Anteil in einem absurd vertrauten Katastrophen-Zeremoniell: eine Mischung aus aufrichtigem Mitgefühl, politischer Positionierung und ausschlachtendem Voyeurismus bestimmten in den ersten Stunden und Tagen die Schlagzeilen. Diese reflexartige Anteilnahme war kein neues Phänomen. Neu war hingegen die etwas zeitverzögert einsetzende Fassungslosigkeit darüber, dass Co-Pilot Andreas L. allen Indizien zufolge die Maschine absichtlich hatte abstürzen lassen. Der Schock saß tief nach diesem Vorfall. Was folgte, waren Versuche der Erklärung für das Geschehene. Meist hatten diese wenig mit der Tat selbst zu tun und bisweilen reichten sie an die Grenzen des Erträglichen heran.

Ich habe diesen Beitrag verfasst, weil auch ich Antworten gesucht habe. Allerdings weniger auf die Frage, was am 24. März passierte – das kann und das will ich nicht beantworten. Es geht mir um die Zeit danach. Wie konnte es in der Öffentlichkeit zu solch krassen Reaktionen kommen? Und welche Auswirkungen haben sie gehabt? Der Versuch einer Aufarbeitung.

Eine der gravierendsten Folgen des Absturzes und der anschließenden Debatte ist sicherlich, dass das Vertrauen in den Berufsstand und die Person des Piloten erschüttert worden ist. Flugzeugkapitäne und ihre Offiziere gelten zwar nicht als unfehlbar – deshalb arbeiten sie auch im Team, damit im Notfall einer für den anderen einspringen kann. Allerdings haben sie bisher ein hohes gesellschaftliches Ansehen genossen, vor allem aufgrund ihrer Zuverlässigkeit und ihrer Vertrauenswürdigkeit. Dieses Vertrauen ist notwendig, denn im Ernstfall schützen die Piloten die leibliche Unversehrtheit der ihnen anvertrauten Personen.

Dies gilt nicht nur für natürliche Gefahren wie Unwetter, sondern auch für direkte Angriffe auf das Flugzeug. Die Sicherheitsarchitektur nach dem 11. September wurde um die Person des Piloten errichtet. Das Cockpit mit seiner verstärkten Sicherheitstür und den Zugangssperren gleicht einem Schutzraum, der bei Gefahr gegen Eindringlinge abgesichert werden kann. Es liegt einzig im Ermessen des befehlshabenden Offiziers über Einlass in die Steuerzentrale des Flugzeugs zu entscheiden. Dass diese Architektur von einem der Verantwortlichen selbst missbraucht werden könnte, galt bisher als weitestgehend hypothetisches Szenario. Letztlich bleiben auch kaum andere Möglichkeiten, als die Integrität der Piloten vorauszusetzen, denn das Flugzeug muss schließlich von einem Menschen geflogen werden. Entsprechend tief saß der Schock. Wie konnte jemand das ihm gegenüber gebrachte Vertrauen so missbrauchen? Noch dazu ein Angehöriger einer der größten und angesehensten Luftfahrtkonzerne Europas?

Nachdem das „Wie?“ durch die Auswertung des Sprachrekorders aus dem Cockpit aus Sicht der Medien bereits drei Tage nach dem Ereignis abgeschlossen war, arbeiteten sich die Journalisten vor allem an der Frage nach dem „Warum?“ ab. Die Berichterstattung lässt sich hierbei grob in zwei Phasen einteilen. Die erste ist die Spekulationsphase, in der sich die Medien auf alles stürzen, was irgendwie verwertbar ist. Symptomatisch beschreibt dies der britische Reporter Mike McCarthy, der in Montabaur, der Heimatstadt von L., vom Medienmagazin ZAPP interviewt wurde: „Wie alle anderen auch sind wir hier, um alles über ihn herauszufinden, was möglich ist. Über den Mann und über das, was in seinem Kopf vorgegangen sein mag.“

Es ist eine Mischung aus gesicherten Informationen, Spekulationen und Halbwahrheiten, die in dieser Phase zu den Medienkonsumenten durchdringen. Immer wieder geht es dabei um L.s Krankengeschichte und seinen psychischen Zustand. Er habe für den Flugtag eine Krankschreibung gehabt. Außerdem sei er schon länger depressiv gewesen, habe seine Flugausbildung deswegen zeitweise unterbrochen. Was dies mit der eigentlichen Tat zu tun hat, bleibt meist undeutlich. Hierum geht es allerdings auch nicht. Die Logik der ersten Phase fragt nicht nach kausalen Zusammenhängen, sondern nach vagen Deutungsmustern, die vor allem Klicks und Quote generieren sollen. Da geht die Mitteilung der Staatsanwaltschaft Düsseldorf, dass es keine tragfähigen Hinweise über ein mögliches Motiv von L. gebe, weitestgehend unter.

Erst in der zweiten Phase werden die Töne vorsichtiger und es gibt erste Ansätze der Reflexion. In einschlägigen Talkrunden und in Presseinterviews kommen nun auch „Experten“ und Betroffene von psychischen Erkrankungen zu Wort. Sie mahnen zur Vorsicht vor voreiligen Schlüssen und weisen darauf hin, dass depressive Menschen in der Regel nicht zur Fremdgefährdung neigten, sondern eher empathisch und verantwortungsbewusst agierten. Aber auch sie beteiligen sich letztlich an den Spekulationen, versuchen Deutungsmuster zu liefern. Vielleicht habe L. Im Wahn gehandelt, eine unentdeckte dissoziale Störung.

Das eigentliche Problem all dieser Erklärungsversuche liegt darin, dass sie etwas erklären sollen, was eigentlich nicht erklärbar ist – in jedem Fall nicht aus einer so knappen zeitlichen Distanz. Dies liegt vor allem an der Wucht, mit der das Ereignis auf unser Weltbild prallt. Im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft kollidieren zwei völlig unterschiedliche Vorstellungen miteinander: das Idealbild des verantwortungsbewussten Piloten, dem wir unser Leben anvertrauen, mit dem eines Menschen, der das Leben nicht schützen wollte, sondern es genommen hat. Den Ausweg aus dieser verstörenden Paradoxie bildet eine konstruierte Pathologisierung, die unweigerlich Abgrenzung und Stigmatisierung mit sich bringt.

„Die hartnäckige Grenzziehung zwischen den Normalen und Anormalen, der jedes Individuum unterworfen ist, verewigt und verallgemeinert die zweiteilende Stigmatisierung und die Aussetzung des Aussätzigen.“ Diesen Satz schrieb der französische Philosoph Michel Foucault in den siebziger Jahren. Er untersuchte damals die Entstehungsbedingungen von Psychiatrien, Strafanstalten und Besserungshäusern. Eine seiner Hauptthesen lautet, dass die moderne Gesellschaft permanent damit beschäftigt ist, alles von der Norm zu stark abweichende zu identifizieren und abzusondern, um es dann in spezifischen Institutionen umzuerziehen. Das Individuum soll diszipliniert werden, um es wieder zu einem nützlichen Teil der Gesellschaft zu machen. Verbrecher gehören ins Gefängnis, schwer Erziehbare ins Erziehungsheim und Geisteskranke in die Psychiatrie. Die Ausgrenzung ist also ein Abwehrmechanismus gegen alles Anormale und Unnütze. Doch was hat diese Erkenntnis mit den Ereignissen um Flug 4U9525 zu tun?

Andreas L. war ein beruflicher Leistungsträger, gut ausgebildet und in verantwortungsvoller Position. Er lernte das Fliegen in einem Verein und war sportlich aktiv. L. war normal, „einer von uns“, hätten wohl viele gesagt. Mehr noch, er hatte das Zeug zu einem gesellschaftlichen Vorbild. Doch dann kamen der Tag des Absturzes und die allgemeine Fassungslosigkeit. Seitdem suchen die Medien nicht nur eine Antwort auf die Frage nach dem „Warum?“, sondern vor allem nach Indizien oder auch nur wagen Hinweisen, dass L. nicht normal gewesen ist. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. So wird eine Erzählung entworfen, in der L. nur noch ein Aussätziger, ein Fremdkörper ist, im besten Fall vielleicht noch der bemitleidenswerte psychisch Kranke, der nicht Herr seiner Sinne war.

Ich schreibe diese Zeilen nicht, um psychische Erkrankungen zu trivialisieren. Auch ich kann nicht ausschließen, dass L. tatsächlich eine Erkrankung hatte, die einen Einfluss auf die Geschehnisse am 24. März hatte. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass wir mit einer ausschließlich pathologisierenden Deutung des Ereignisses vor allem die Menschen treffen, die ohnehin mit dem Leben und einer ausgrenzenden Gesellschaft zu kämpfen haben. Begriffe wie Depression und psychische Erkrankung sind dank der Medienberichterstattung auf unabsehbare Zeit mit dem Absturz von Flug 4U9525 verbunden und damit auch mit Leid und Tod.

Gerade wegen der öffentlichen Debatte habe ich großen Respekt vor der Erklärung von Philip Bramley, der seinen Sohn bei dem Absturz der Germanwings-Maschine verloren hat. Auch er sagte zwar, dass Andreas L. krank gewesen sei, doch „falls es ein Motiv oder einen Grund gegeben hat, wollen wir es nicht hören. Es ist nicht relevant.“ Es sei jedoch relevant, dass sich so etwas nicht wiederhole. Bramley ging später in der Erklärung insbesondere auf die Verantwortung gegenüber den Piloten ein: „Ich glaube, die Fluggesellschaften sollten transparenter sein und um unsere besten Piloten sollte sich gut gekümmert werden.“ Bemerkenswert an dieser Aussage ist, dass es anders als in der bisherigen Berichterstattung nicht um die Kontrolle der Piloten, um die psychiatrische Begutachtung und die Feststellung der Arbeitsfähigkeit geht, sondern um Fürsorge. Nicht die Ausgrenzung, sondern die Hinwendung steht im Vordergrund.

Die Erklärung von Philip Bramley ist ein Hinweis darauf, dass wir bisher die falschen Fragen gestellt haben. Wenn Andreas L. das Flugzeug absichtlich hat abstürzen lassen, dann geht es nicht darum, was ihn letztlich dazu bewogen hat. Dies werden wir ohnehin nie mit Sicherheit sagen können. Wir können und sollten uns jedoch die Frage stellen, in was für einer Welt und in was für einer Umgebung er gelebt hat. Dazu gehören dann auch psychische Krankheiten, denn auch sie sind Teil einer sozialen Gesamtheit – aber eben auch nur ein Teil. Vielleicht stellen wir auf der Suche nach Antworten fest, dass das Ganze mehr mit uns und unseren Vorstellungen von der Gesellschaft zu tun hat, als uns lieb ist. Vermutlich wäre es schmerzhaft. Aber es wäre immerhin ein Anfang, um den Schock in unserem kollektiven Bewusstsein zu überwinden.

Friedo Karth  studiert zurzeit Critical and Cultural Theory an der Cardiff University. Vorher studierte er Politikwissenschaft in Hamburg.

Artikelbild: Gerard van der Schaaf / flickr / CC BY 2.0

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4 Kommentare zu "Germanwings-Absturz
Pathologisierung einer Katastrophe"

  1. walter dyroff sagt:

    -Wie konnte es im Zuge des Germanwings-Absturzes zu den krassen Reaktionen in der Öffentlichkeit kommen? –

    Möglicherweise hatte eine Seite ein Interesse daran.

    Ich möchte an Itavia-Flug 870 erinnern.

    Erst nach jahrelangen Ermittlungen wurde bekannt, dass das Flugzeug aufgrund eines Treffers durch eine militärische Luft-Luft-Rakete abgestürzt war.
    14 Jahre hat Rosario Priore, ehemaliger Untersuchungsrichter, um die Wahrheit gekämpft!!!

  2. Leander sagt:

    So einen langen Artikel, um uns zu sagen, es sei NICHT RELEVANT, warum der Pilot das Flugzeug bewusst hat abstürzen lassen? Ich fasse es nicht!

    Und was soll denn bittschön die Frage “in welcher Welt und Umgebung” er gelebt hat? Das ist doch mittlerweile alles bekannt! Und es ergibt sich daraus keinerlei Motiv oder Grund, außer eben dem, dass er krank / depressiv / irre gewesen sein muss – ja was denn sonst? Er hat den Sinkflug sogar mehr fach geprobt – wie deutlich muss denn noch sein, dass er irgendwie “neben der Kapp” war? Schließlich trifft der Leistungsstress alle Piloten gleichermaßen, dennoch kommen sie nicht auf die Idee, mal eben ein Flugzeug abstürzen zu lassen!

    • Peter sagt:

      All das kann ich nicht glauben. Dieser Aufsatz schreibt so viel Stuss und wärmt Vorurteile auf, dass man diesen besser nicht liest. Die Wirklichkeit wird vertuscht, von interessierter Seite. Wirkliche Fachleute zerlegen die Argumente, der Copilot hätte ruhig geatmet. Das ist technisch nicht möglich. Das Flugzeug wurde in soviele kleinste Teile zerlegt, die unmöglich von einem Aufprall wie diesen rühren können. Es müssen viele grosse Bauteile, gestaucht, Triebwerke, Fahrwerk auffindbar sein. Hier wird was ganz gewaltiges vertuscht. Ich meine, das Flugzeug wurde das Opfer eines Abschusses, ob absichtlich oder nicht, ist egal. Darauf deuten die Kleinstteile hin. Wer kann beweisen, ob nicht doch beide Piloten im Cockpit waren? Oder das Gegenteil? Warum werden ähnliche Vorfälle, die durch die Anstrengung der Piloten gerade mal noch glimpflich ausgegangen sind, verschwiegen? Warum streikten alle Piloten? Hängt das mit dem Kampf Boeing gegen Airbus zusammen? NSA Spionage?

      • Mike sagt:

        Erstens sind große Bauteile (z.B. das Fahrwerk) gefunden worden.
        Zweitens ist Ihre Argumentation aber auch völliger Quark. Wenn ein Flugzeug abgeschossen wird, bleiben erst recht viele große Teile übrig, die dafür nicht (wie hier) in einem überschaubaren Bereich landen, sondern nicht selten über 100 Quadratkilometer verstreut sind.
        Drittens sollten Sie sich schnellstmöglich einen Aluhut basteln.

        Zum Artikel: Ein so hohes gesellschaftliches Ansehen wie behauptet hatten Piloten schon lange nicht mehr. Sind (neben den genauso angesehenen Ärzten) überdurchschnittlich oft Alkohol-, Drogen- und/oder Medikamentenabhängig.

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