Ein Nachtrag zur Autoritarismus-These und unseres schwerwiegendsten Problems: der langsam Fahrt aufnehmenden Erosion demokratischer Verfasstheit auch in Westeuropa.
Von Giuseppe Navetta
Colin Crouchs Analyse und Begriff der Postdemokratie ist nun schon ein paar Jahre alt. Doch der charakterliche Wandel “westlicher” Demokratien ist leider immer noch nicht in breiteren Kreisen der Bevölkerung angekommen oder er wird, wie im Falle von Pegida & Co., in die reaktionäre Sackgasse umgeleitet.
Und bei aller Heterogenität der versammelt protestierenden dortigen Gruppen einigt sie in diesem Fall nicht nur ihre gemeinsame reaktionäre Haltung, sondern auch ihre mehr oder minder bewusste Komplizen- wie Handlangerschaft und ebenso ihre Instrumentalisierung zum Zwecke der Work- und Prisonfare-Regimes in Europa – sind es zum Teil doch die gleichen Bevölkerungsgruppen die ALG II und einen weiteren Abbau des Sozialstaates wie auch dem Ausbau des “Strafrechtsstaates” zustimmen (siehe auch: “Bestrafen der Armen” von Loïc Wacquant).
Ganz andere Bevölkerungsgruppen sind zumindest – so scheint es – habituell immer noch in der alten Erhardschen Welt beheimatet und einer Sozialpartnerschaft verpflichtet, die schon seit langem ein längst verblasster Mythos ist. Als adäquater Lösungsansatz hinsichtlich der sozialen Frage ist diese schon in den jungen Jahren der Bundesrepublik als nicht hinreichender Ansatz diskutiert worden – zumindest bis zur Denunziation von Viktor Agartz und der Beschließung des Bad Godesberger Programms der SPD. Ganz nach dem Motto: In Deutschland können die politischen, sozioökonomischen Zustände ja gar nicht wirklich erodieren, denn schließlich ist das Land ja Europas wirtschaftlicher Motor und für seine vertrauenswürdigen Institutionen und deren zuverlässige Administration bekannt – ungeachtet der alltagspolitischen Realität, die inzwischen auch ganz ohne verschwörungstheoretische Ausschmückungen und unsinniges Beiwerk, ein gänzlich anderes und erschreckendes Bild zeigt (siehe auch: “Der gekaufte Staat” von Kim Otto und Sascha Adamek oder dem “Schattenfinanzindex” des “Taxis Justice Network” und viele andere Beispiele).
Man könnte meinen, dass die Aufdeckung neuster neofaschistischer Verschwörungen samt Putschplänen in Italien vor ein paar Tagen, bei der auch Personen der “Strategie der Spannung” aus den sogenannten bleiernen Jahre wieder mitbeteiligt gewesen sein sollen, fast schon symbolischen Charakter hat.
Man sollte nie vergessen, dass die Befriedung des Nachkriegseuropas eben nicht nur auf den römischen Verträgen fußt, der Montanunion aufbaut, den kulturellen Fortschritten, sondern eben auch das jahrzehntelange Tolerieren faschistischer Diktaturen mit einschloss und ebenso das Infiltrieren rechtsradikaler Personen, Elemente und Organisationen während des Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit nach 1945 (vgl. Gladio oder zuvor Organisation Gehlen, die Militärjunta Griechenlands usw.) mit einschließt.
Das eine ernstzunehmende Erosion der Demokratie und die Auflösung der sozialen Kohäsionskräfte bis zur gesellschaftlichen Spaltung immer nur eine Art von Spezifika unterentwickelter oder einstmals sozialistischer Länder darstellen soll, für Westeuropa aber als unvorstellbar gilt – man betrachte nur die Unterstellung eines Kommentators hier an dieser Stelle, dass die Indizien autoritärer Tendenzen angeblich selektiv seien – ist angesichts der sozialen Realität Europas nicht mehr als ein wirkungsloses Placebo, das die “Krankheit” nicht aufhalten wird und eine Illusion, die wir vielleicht eines Tages alle teuer bezahlen werden.
Schon Pierre Bourdieu, der nun wirklich alles andere als paranoider Verschwörungstheoretiker war, erinnerte an diesen “Charakterwechsel” der politischen Verfasstheit und der Institutionen Europas in einem denkwürdigen Interview im Jahre 1996 mit Journalisten des Wochenmagazins “Der Spiegel”.