Als die Mauer fiel und die Geschichte endete

Ein Vierteljahrhundert ist der Mauerfall nun her. Grund genug für viele Medien, eine Rückschau zu halten. Das Jubiläum war aber nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Attitüden, Klischees und von fukuyamascher Ende-der-Geschichte-Arroganz.

Mauerfall

Foto: PercyGermany / Flickr / CC BY-NC-ND 2.0

Von Roberto de Lapuente

Die Gänsehaut war eine häufig benutzte Redensart dieser Tage. Viele hatten nämlich vor 25 Jahren eine. Natürlich, man konnte nur schwer kalt bleiben, als man die Bilder der Menschen sah, die aus ihrem Land strömten. Man freute sich für sie. Ganz sicher war das ein historischer Moment. Gänsehaut inklusive. Eine Rückschau aber fast nur mit Gänsehäuten zu gestalten, jeden befragten Zeitgenossen auf den damaligen Zustand seiner Epidermis zu reduzieren, ist dann doch etwas wenig. Aber der Mauerfall scheint im Rückblick keine historische Größe mehr zu sein, sondern ein emotionaler Zustand. »Wo waren Sie, als die Mauer fiel«, war die zu klärende Frage schlechthin. Gerade so, als könnte man aus dem individuellen Standort von befragten Nostalgikern irgendetwas Gehaltvolles ableiten. Die Emotion war der Hauptgegenstand des medialen Jubelfestes.

Doch die Inhalte, die das Jubiläum in den Medien gebar, waren aber nicht ausschließlich was fürs Herz. Man machte eindeutig, dass die Ostdeutschen nun die Ankunft in einem Status Quo erreicht hätten, der der beste aller bisherigen Status ist. Für sie sei endlich eine neue Welt angebrochen. Die Bevormundung endgültig überwunden. Sie hätten ihr Ziel erreicht. Also den Westen, die Bundesrepublik. Seien aufgenommen worden. Als ob die Zusammenführung der beiden Deutschländer unter westlicher Ägide immer schon das letzte Ziel gewesen sei. An dieser Sichtweise hält man so krampfhaft fest, dass es schon fast wie ein Glaubensbekenntnis wirkt. Insofern ist der Gebrauch des theologischen Begriffes »Eschatologie« durchaus berechtigt. Und was war denn Fukuyama anderes als ein eschatologischer Prophet des Kapitalismus, einer, der die endgültige Ankunft des Menschen am Ende seiner Geschichte postuliert hat?

Und genau dieser Fukuyama schimmerte dieser Tage überall durch. Wie das Ende des kommunistischen Blocks das Ende der Weltgeschichte markierte, so verklärt man retrospektiv die Ankunft des Ostens in der Bundesrepublik mit einem Ende der deutschen Geschichte. Jetzt gäbe es keine Kämpfe mehr, denn wir haben ja bekanntlich das beste Deutschland aller Zeiten erreicht. Wir müssten in diesem Land keine Zukunft mehr machen, wir sind schon in ihr angekommen. Klassenkampf ist daher unnötig geworden, denn am Ende der Geschichte gibt es ja nichts mehr zu sagen, zu streiten, zu verändern. Die Lokführer wissen das noch nicht. Sie werden es lernen. »Ostdeutsche, jammert nicht, ihr habt es doch geschafft. 25 Jahre nach dem Mauerfall geht es euch so gut wie nie.« Die Deutschen sind so glücklich wie nie. Haben Vertrauen wie nie. Die Regierung ist die beste aller Zeiten. Wenn das mal keine Erfolgsgeschichte ist.

Dass Westdeutschland und seine Weltanschauung der verdiente Sieger nach dem Mauerfall sind, ließen die Medien bei ihrer Rückschau allzu deutlich werden. Dass die Menschen im Osten etwaige andere Pläne hatten, weiß heute kaum noch jemand. Für die Klitterung zum Jubiläum hat es so auszusehen, als habe man die Ossis mit offenen Armen empfangen und sie wie Flüchtlinge aufgenommen. Als habe man sie langsam integriert und demokratiefest gemacht. Und als wollten sie genau diese Folgen, als haben sie im Osten damit angefangen, auf die Straßen zu gehen, um im Westen anzukommen. Wo gedenkt man derer, die ihren Staat auf reformierte Weise erhalten wollten? Wo denen, die eine Konföderation anstrebten? Warum gibt man nicht Grass das Wort, der Tagebuch über die damaligen Ereignisse führte und als damaliger Zeitgenosse längst nicht so überzeugt, so selbstsicher und optimistisch war?

Aber das hieße natürlich auch, einen anderen Blick auf die Ostdeutschen zu werfen. In den Rückblicken waren sie nur als Klischee vorhanden. Entweder so blöde wie die Volkspolizisten im ARD-Film »Bornholmer Straße« oder zu Rebellen mutierte Dummköpfe, die endlich für ihre Freiheit aufstanden. Über die Lebensleistungen der Menschen jenes Staates, der vor einem Vierteljahrhundert den Anfang seines Endes nahm, verloren sie kein Wort. Wieder mal nicht. Auch die DDR hatte unter viel schlechteren Vorzeichen einen Krieg zu verdauen. War das keine Leistung? Zumal die geographischen Nachteile nicht unbeträchtlich waren? Monika Maron fragte sich in einem Essay, warum die Westdeutschen ihr »eigenes Wohlergehen nur noch als eine gerechte Folge ihrer ehrlichen Arbeit ansahen, nicht aber auch als einen geographischen Glücksfall. Läge Schwaben an der Oder, läge Leipzig am Rhein, wäre alles anders gelaufen. Sähe Deutschlands Karte so aus, hätte es 1989 vielleicht Demonstrationen nicht in Leipzig, sondern in Stuttgart gegeben.

Die geschichtliche Verarbeitung des Mauerfalls, die die Medien da betrieben, war ein klassischer Fall von Geschichte, die der Gewinner nicht nur schreibt, sondern auch zu seinen Gunsten ausnutzt. Der Kapitalismus, wie er heute ist, sei nach dieser Lesart das Ziel aller Träume gewesen. So und nicht anders wollten es die Menschen damals haben. Und man erzählte von damals und ließ durchscheinen, dass man mit dem Zustand der jetzigen Republik kein Problem habe. Nur vielleicht mit der Linkspartei und einem Ministerpräsidenten in Wartestellung, der zwar aus dem Westen kommt, aber auch aus dem SED-Sumpf stammen könnte. Die soziale Schieflage, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, der deutlich wachsende Atlantizismus und die Kriegsbereitschaft, alles kein Problem. Denn früher war alles noch viel schlimmer für die Deutschen. Jetzt aber ist alles stimmig. Es geht voran … rückwärts nimmer.

Es war ein bisschen so, als habe der Westen seinen Triumph über den Osten gefeiert. Der Kolonialherr die Annexion glorifiziert. Dem Osten wurde man nicht gerecht. Er kommt in solchen Rückschauen nur als ein Entwicklungsland vor, das dankbar sein sollte, Anschluss gefunden zu haben. Die Ostdeutschen mögen zwar als Helden gefeiert werden in der Stunde des Jubiläums, aber zum Heldentum gehört ja bekanntlich kein Intellekt. Mut alleine reicht. Obgleich Helden, sind sie als Witzfiguren angelegt, als Menschen, die ein falsches Leben führten, alle ihre Alltagsziele in einem heute ungültigen Parallelkosmos erreichten und daher für die heutigen Beobachter wie tragische Figuren wirken, die ein großes Leben im Nichts führten. Die viel größeren Helden sind deswegen nämlich die Westdeutschen, die ihre Brüder und Schwestern erlöst haben aus ihrem Elend, aus ihrer unwirklichen Spielzeugwelt.

Man wirft den Ostdeutschen auch deswegen oft vor, dass sie ostalgisch befangen wären. Aber was waren die letzten Tage anderes als Westalgie? Die gegenteilige Verklärungspraxis dessen, was mancher Ostdeutsche auf seine Art betreibt? Ostalgie ist nur noch eine Sehnsucht, ein menschlicher Reflex, gerade wenn man gesagt bekommt, dass die eigene Vergangenheit nichts gegolten hat. Westalgie ist mehr als das. Sie ist keine Sehnsucht mehr, sondern Geltungssucht und Großmannssucht. Eine wirkliche Gefahr. Denn wer mit dem Nebel dieser Ideologie erklärt, dass die Geschichte ein Ende gefunden habe, der versucht den Menschen einzuflüstern, dass es keine fortschrittlichen Dynamiken mehr gibt. Der sagt ihnen auch, dass sie stillhalten können, weil sich bereits alles zum Besten gefügt hat.

Der Artikel erschien zuerst auf Ad Sinistram

Artikelbild: PercyGermany / Flickr / CC BY-NC-ND 2.0

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