Entmoralisierung des Denkens

Geht mit einer sozialen und biologischen Evolution auch eine Evolution unseres psychischen Systems einher?

evolution

Foto: Kevin Dooley / Flickr / CC-BY 2.0

Von Florian Sander

Im Rahmen der soziologischen Systemtheorie wird die Position vertreten, dass sich mit dem Wandel von Stammesgesellschaften über die Ständegesellschaft hin zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaftsform eine Form der „Evolution des Sozialen“ vollzogen habe. Im Zuge derer habe die Gesellschaft Strukturen herausgebildet, die es ihr ermöglichen, im Laufe der Weltgeschichte auf die mit technologischer Entwicklung steigende Komplexität zu reagieren. Eine kontroverse, nicht unumstrittene Position in der Makrosoziologie.

Die Position verleitet aber auch zu einer Fragestellung anderer Art: Geht mit einer wie auch immer gearteten sozialen Evolution und einer – und dies ist wohl die allgemein am ehesten akzeptierte Evolutionstheorie – biologischen Evolution nicht auch eine Evolution unseres psychischen Systems einher? Dieser Frage soll an dieser Stelle aus einer sozialpsychologischen Perspektive nachgegangen werden.

Doch zunächst eine Vorbemerkung zu der hiesigen Terminologie. Aus der Perspektive einer soziologisch inspirierten Sozialpsychologie folge ich hier einem eher ungewöhnlichen Gedankengang. Ich versuche die vom Soziologen und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann entworfene Unterscheidung von System und Umwelt, die sich in dessen Systemtheorie traditionell auf die Ebenen von Gesellschaft, Organisation und Interaktion bezieht, auf die Ebene der Psyche zu übertragen.

Der Begriff des „psychischen Systems“ ist also in diesem Sinne zu verstehen: Er ist somit eine mikrosoziologische „Übersetzung“ des Terminus‘ der „Psyche“. Damit ist er explizit nicht mit dem auf den Psychologen Kurt Lewin zurückgehenden Begriff des „psychischen Spannungssystems“ gleichzusetzen, welcher, wollte man ihn in mikrosoziologische Terminologie übersetzen, eher für das (Spannungs-)Verhältnis zwischen psychischem System und sozialer Umwelt steht als für die Psyche selbst.

Was könnte eine Evolution psychischer Systeme ausmachen?

Die moderne Sozialpsychologie differenziert bei der Untersuchung und Ergründung menschlichen Verhaltens zwischen Dispositions- und Situationshypothese (die klinische Psychologie unternimmt diese Differenzierung speziell bei der Ursachenforschung zu psychischen Erkrankungen). Die Dispositionshypothese besagt, dass die Ursachen für mögliches (Fehl-)Verhalten in den persönlichen Eigenschaften und charakterlichen Merkmalen des Betreffenden zugrunde liegen. Dieser These hat die Sozialpsychologie die Situationshypothese gegenüber gestellt, die (Fehl-)Verhalten als durch Dynamiken einer bestimmten sozialen Situation verursacht ansieht.

Ein beliebtes Beispiel zur plastischen Erläuterung dieser Unterscheidung ist die Hannah-Arendt-These von der „Banalität des Bösen“, die sie als Beobachterin des israelischen Prozesses gegen den NS-Funktionär Adolf Eichmann entwickelt hat.  Ausgehend von dieser These sind Massenmörder nicht zwingend abartige, sadistische Bestien, sondern mitunter völlig normale Menschen mit teilweise zutiefst biederem Naturell.

Bis heute jedoch spricht die allgemein übliche Alltagszurechnung eine andere Sprache: Menschen, die sich auf eine bestimmte Weise verhalten – sei es aus allgemeiner Sicht falsch, sei es richtig – werden stetig mit der Zurechnung von dementsprechend positiven oder negativen Persönlichkeitsdispositionen konfrontiert. Wer sich in einem bestimmten Kontext richtig verhält, der gilt mitunter als großzügig, mutig oder moralisch gut – wer dies nicht tut, etwa als kalt, sadistisch oder moralisch böse.

Sowohl in Alltagssituationen als aber auch in politischen Zusammenhängen führt dies mitunter allzu schnell zu einer Art laienhaftem „Psychologisieren“. Das mündet in der Unterstellung von allen möglichen positiven oder negativen Bewusstseinszuständen und am Ende womöglich gar in moralischen Urteilen. Oftmals sind es diese Urteile, die in der Folge einen Konflikt erst provozieren oder aufleben lassen: Auf Kritik an politischem Handeln wird mit Hass-Unterstellungen und laienhaftem Psychologisieren geantwortet, was die Grundlage für Emotionalisierung und ähnlich geartete Reaktionen schafft und dadurch Aggressionen und Konflikte unvermeidlich werden lässt.

Interaktionsbeziehungen und Kommunikationen, in denen dies nicht geschieht, sind oftmals von Sachlichkeit, Verständnis und differenziertem Denken geprägt. Doch was heißt das übersetzt in unsere hiesige, vertiefende Terminologie?

Berücksichtigung des Nichtwissens

An diesem Punkt kommt nun das Einbeziehen der Situationshypothese im Alltagsdenken ins Spiel, was gewährleistet wird durch das, was man als Soziologe als Beobachtung zweiter Ordnung oder als Empathie bezeichnen würde. Die Situationshypothese postuliert die Annahme, dass Verhalten durch den mittelbaren oder unmittelbaren situativen Kontext beeinflusst werden kann: Dazu zählen etwa soziale Rollen, kulturelle Institutionen, allgemein gültige Normen oder auch mehr oder weniger zufällige Gegebenheiten in kurzfristigen, vielleicht gar spontanen Interaktionen.

Die Situationshypothese – als präferierte Grundannahme von Sozialpsychologen – „entmoralisiert“ dadurch zugleich die von uns vorgenommenen Zurechnungen. Personen werden nicht mehr automatisch aufgrund ihres Verhaltens in moralische, gute oder böse Kategorien gepresst. Vielmehr wird einkalkuliert, dass ihr Handeln determiniert sein mag durch andere, dem Beobachter womöglich unbekannte Faktoren und deren Ergründung nicht automatisch möglich ist. Die Vorweg-Annahme eines solchen spezifischen Nichtwissens verhindert dadurch pauschale Vorverurteilung (oder auch pauschale Vorschusslorbeeren!) und ermöglicht dadurch eine sachliche, unvoreingenommene Herangehensweise.

Eine solche Herangehensweise von der Ebene der Soziologie oder der Sozialpsychologie auf unser Alltagshandeln zu übertragen, ist nicht einfach, aber erstrebenswert. Empathie bzw. Beobachtung zweiter Ordnung ist hierfür die Grundbedingung. Die im Volksmund gebräuchliche, damit in direktem Zusammenhang stehende Formulierung des „sich in jemanden Hineinversetzens“ ist dabei missverständlich, da sie in der wortwörtlichen Interpretation notwendige telepathische Fähigkeiten suggeriert.

Indizien psychischer Evolution

Doch so viel braucht es nicht. Vielmehr geht es um die Fähigkeit des „Beobachtens, wie andere beobachten“, also das Erkennen und Einbeziehen der Tatsache, dass es soziale Bedingungen gibt, die einen anderen zu einem bestimmten Handeln veranlassen könnten. Und, nicht zuletzt, dies auch immer einhergehend mit dem „Beobachten, wie man selbst beobachtet“, mit anderen Worten: Selbstreflexion. Selbstreflexion und Empathie sind vor diesem Hintergrund lediglich zwei Seiten einer Medaille, die Beobachtung zweiter Ordnung heißt. Diese Medaille ist es, die differenziertes Denken und dadurch auch Konfliktfähigkeit und soziale Integrationsfähigkeit gewährleistet.

Und diese Medaille ist es zugleich, die das auszumachen vermag, was an dieser Stelle mit „Evolution des psychischen Systems“ gemeint ist. Die Evolution der Psyche kommt in der Projizierung der Situationshypothese auf den Prozess unserer sozialen Alltagszurechnungen zum Ausdruck: Beobachtung zweiter Ordnung, die Fähigkeit zu Selbstreflexion und Empathie. Zudem ist auch das erstmalige analytische Erfassen dieses Vorgangs durch die Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert das primäre Indiz für das Auftreten psychischer Evolution.

All dies muss im positiven Sinne – wie paradox! – zu einer Entmoralisierung unseres Denkens führen. Das wiederum hätte ein Ende des unterkomplexen, durch einen primitiven Gut-Böse-Dualismus geprägten Schwarz-Weiß-Denkens zur Folge. Hierdurch wird zugleich – und dies ist das wahrhaft evolutionäre Element einer solchen Entwicklung – die Fähigkeit des psychischen Systems geschärft, mit Situationen, die Konfliktpotenzial bergen, so umzugehen, dass es Schaden vermeidet, sowohl für sich selbst als auch für die soziale Umwelt. Eigene und äußere Komplexität wird anerkannt, akzeptiert und nicht mehr zwingend reduziert.

Inwieweit das Vermitteln eines solchen, psychisch-evolutionär fortgeschrittenen Bewusstseins gewissermaßen „kybernetisch“ möglich, also auf der Makro-Ebene politisch und auf der Mikro-Ebene therapeutisch steuerbar möglich ist, vermag an dieser Stelle (noch) nicht zufriedenstellend beantwortet zu werden. In jedem Fall birgt sein Erkennen jedoch die Motivation, diesen Prozessen aufgeschlossen weiter nachzugehen – und Möglichkeiten ihrer Verwirklichung zu erforschen.

Der Artikel ist eine leicht gekürzte und überarbeitete Fassung von Zur Evolution psychischer Systeme auf dem Blog des Autors.

Artikelbild: Kevin Dooley / Flickr / CC-BY 2.0 / Modifiziert vom Original

Print Friendly, PDF & Email
Filed in: Gesellschaft Tags: , , , , , ,

Ähnliche Artikel:

<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Gender</span><br/>Die Phrase von der “Gleichheit der Geschlechter” Gender
Die Phrase von der “Gleichheit der Geschlechter”

2 Kommentare zu "Entmoralisierung des Denkens"

  1. Aurel Thun sagt:

    Humbug des Neoliberalen Florian Sander. Es ist eben gerade nicht so, dass in der neoliberalen Systemtheorie Luhmanns, die die Existenz jeder zentralen Steuerung der Gesellschaft leugnet und deshalb als Totschlagargument der “Bildung” gegen “Verschwörungstheorien” und damit auch gegen Imperialismus- und Propagandatheorien gebraucht wird, die Moral eine zu große und damit schädliche Rolle spiele. Man betrachte nur die das System stützenden und mit ihm in Einklang lebenden Spiesser um sich herum, die nichts gegen die NSA haben, weil sie “nichts zu verbergen haben”, die glauben, dass alles viel besser geworden sei, “seit Hitler tot ist” und denen der Krieg im Irak egal ist, weil “Fieden ist, wenn die Bomben woanders fallen”.Das einzige, was diese Spiesser stört und beunruhigt, sind die Flüchtlinge aus der Dritten Welt, weil die teilweise “Kopftücher tragen” und “von unseren Steuern leben”. Diese ganze Spiesserdenkweise ist eben nicht moralisch, sondern amoralisch. Florian Sander gedenkt sie übrigens zu nutzen, um die FDP wieder auf die Beine zu stellen, indem sie diese Denkweise bedient.

  2. zp sagt:

    Liest sich eher als Rechtfertigung des Versuchs geistiger Normierung, gerade im Psycho- und Sozialbereich.

    Einleuchtend finde ich das nicht und psychische Evolution? Heißt es nicht, die Gesellschaft verroht gerade???

Einen Kommentar hinterlassen

Kommentar abschicken

le-bohemien