Offene Grenzen: Die libertäre Heuchelei

Bei Deutschlands Libertären und sogenannten „Klassisch-Liberalen“ scheint das Bedürfnis aufgekommen zu sein, etwas für die eigene Publicity zu tun. Zu lange wurde man als europäischer Ableger amerikanischer Tea-Party-Spinner abgetan.

Offene Grenzen

Open/Closed / Antti T. Nissinen / CC BY 2.0

Von Florian Sander

Mit Cowboyhut und Holzfällerhemd auf der Südstaaten-Ranch mit Gewehr in den Händen auf der Lauer liegen, George W. Bush für einen Sozialisten halten und mit Freiheit vor allem die Freiheit meinen, evangelikal zu sein und Waffen zu sammeln – so etwas kommt in Europa nicht gut an.

Dazu wurde man seit der Euro-Krise auch mit den wenig hippen Konservativen und Nationalliberalen in einen Topf geworfen, weil man die Kritik an den Euro-Rettungsmaßnahmen und der übermäßig schnell fortschreitenden EU-Integration mit ihnen teilte und dadurch eine Allianz gegen mainstreamige Linksliberale bilden konnte und musste. Jetzt, wo langsam wieder auch andere Themen außer Europa und Euro zu dominieren beginnen, muss man dringend etwas für sein progressiv-weltoffenes Image tun.

Neuestes Ergebnis dieser Außendarstellungsreform ist das vermehrte Einbringen des „Konzeptes“ der Offenen Grenzen, was sich zuletzt in einer eigens dafür hergerichteten Webseite plus Facebook-Seite zum fleißigen Liken manifestiert hat. Die zentrale Forderung dieses Projektes dürfte offensichtlich sein. Die Prämisse lautet: Nationale Grenzen sind willkürliche Konstruktionen, Staaten nur kollektivistische (und daher für Libertäre illegitime) Zwangsgebilde, die der radikalen Individualisierung der Weltgesellschaft im Wege stehen. Migration hingegen sei ein Menschenrecht, das mit freiem Handel harmoniere und deswegen völlig freigegeben werden müsse, bei gleichzeitiger Aufhebung des Arbeitsverbots für Asylbewerber. Die Zustimmung von Großkonzernen, die nach billigen Arbeitskräften gieren, dürfte den Libertären mit dem gutmenschlichen Erweckungserlebnis gewiss sein.

„Grenzen sind unmenschlich!“ heißt es pathetisch auf der genannten Webseite. Nun ist der Verweis auf den Wert der „Menschlichkeit“ immer so etwas wie ein ins Tautologische verkehrtes, Nazi-Vergleich-ähnliches Totschlagargument: Was „menschlich“ ist, ist nirgends definiert, weil es irgendwie alles sein kann. „Menschlich“ ist irgendwie ganz diffus übersetzbar mit „moralisch gut“. Eine tiefer gehende Präzisierung erlaubt das Wort nicht, weil jeder einfach immer das hinein interpretiert, was er oder sie gerade gut findet. Sprich: Wer nicht argumentieren will, wer nicht definieren will, wer nicht erklären will, wer eigentlich bloß moralisieren will, der wirft dem anderen einfach „Unmenschlichkeit“ vor. Damit ist alles gesagt. Die Moral-Unterscheidung ist eingeführt.

Die Offene-Grenzen-Libertären begeben sich hier mittels Untertitel auf eine Ebene mit den Grünen, die den gleichen Stil der politischen (Nicht-)Auseinandersetzung pflegen. Und nicht nur das. Traditionell einher geht mit dieser Form des totalitär-moralistischen Pathos nämlich immer auch ein gewaltiges Ausmaß an Heuchelei. Dieses nimmt im Falle des Libertarismus an dieser Stelle besondere Ausmaße an. Denn die Implikationen, die für Libertäre wie auch viele „Klassisch-Liberale“ mit dieser Forderung einhergehen, enthalten nicht weniger als die Abschaffung der europäischen Errungenschaft des Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaates, der für Libertäre bekanntlich ebenfalls ein kollektivistisches Zwangsgebilde darstellt.

Hinweise auf diese Forderung hingegen sind bei den Offene-Grenzen-Libertären interessanterweise vergleichsweise dünn gestreut. Was letztlich allerdings kein Wunder ist – schließlich bezeichnet diese Position eine Haltung, die im progressiv-linksliberalen Mainstream der Bundesrepublik im Jahre 2014 längst nicht mehr politisch so anschlussfähig ist wie die betont weltbürgerlich-kosmopolitische Forderung nach offenen Grenzen, die dagegen ganz ins moderne Bild der sich selbst hassenden deutschen Nation passt.

Da ist es für die entsprechende Publicity eher unbequem, dann auch konsequent offen das ganze „utopische“ libertäre Weltbild vertreten zu müssen, das da heißt: Keine sozialstaatlichen Strukturen für niemanden – weder für (dann ehemalige) deutsche Staatsbürger, noch für (dann ehemalige) Ausländer auf (dann ehemals) deutschem Territorium. Dies bedeutet dann selbstverständlich auch: Keine Integrationshilfen mehr für Ausländer. Integration ist schließlich nur ein etatistisch-kollektivistisches Schlagwort, in der libertären „Utopie“ muss sich niemand mehr in irgendwas integrieren. Also: Keine öffentlich finanzierten Sprachkurse. Keine öffentlich getragenen Heimunterkünfte. Keine öffentlich finanzierte Kinderbetreuung. Keine öffentlich finanzierte Beschulung. Keine öffentlich gewährleisteten Hilfen für (nicht selten) traumatisierte Flüchtlinge.

Wer dennoch in den Genuss dieser staatlich jetzt nicht mehr garantierten Leistungen kommen möchte, muss sie sich nun selber verdienen, schließlich darf ja nun jeder arbeiten. Dass ein auf (dann ehemaligem) deutschem Territorium angekommener Flüchtling und vermutlich auch seine, sofern mitgekommen, Familienmitglieder sehr lange schuften müssten, um sich Kinderbetreuung, Beschulung, psychosoziale Betreuung usw. leisten zu können – darüber sieht der kosmopolitische Libertäre von Welt gerne hinweg. Dass der betreffende Flüchtling vermutlich erst einmal aufgrund sprachlicher Defizite keine auch nur ansatzweise qualitativ hochwertige bzw. gut bezahlte Arbeit finden würde, da er keine Möglichkeit hatte, die deutsche Sprache gut vermittelt zu erlernen – auch dies wird vom kosmopolitischen Libertären von Welt gerne verschwiegen. Dass die aus all diesen Folgeproblemen und der durch die geöffneten Grenzen parallel extrem angestiegene Einwandererzahl resultierende soziale Problemlage geradezu unweigerlich in Ghettoisierung, Parallelgesellschaften, Sozialneid und dadurch schließlich sozialen Konflikten und Kriminalität münden würde – für den kosmopolitischen Libertären von Welt nicht von Relevanz.

Da verweist man im Zweifel einfach auf die „utopische“ Dimension der eigenen Vorschläge, bezeichnet alles, was deren Verwirklichung entgegensteht, als „unmenschlich“ (welch Hohn!) – und greift zum nächsten Hayek- oder Mises-Werk, um beim nächsten libertären Lesezirkel-Treffen mithalten zu können. Mit der lästigen Realität dürfen sich derweil die Praktiker – Kommunalpolitiker, Sozialverbände, Polizei – herumschlagen, während man selber im Internet zeigefingerschwingend Ratschläge für eine bessere Welt erteilt.

Man kann nur dankbar sein, dass die normative Kraft des Faktischen dieser „menschlichen Utopie“, die wie so viele von ihrer Sorte in einer sozial zutiefst instabilen, konfliktbelasteten Dystopie münden würde, einen Riegel vorschiebt. Trotz geplanter Neuerungen wie der doppelten Staatsbürgerschaft steht die politische Mehrheit sowohl in Deutschland als auch erst recht in anderen europäischen Staaten hinter dem Prinzip von Nationalstaatlichkeit und Staatsbürgerschaft – und damit auch hinter dem Vorhandensein von Grenzen, die dazu beitragen, dass das allgemein akzeptierte und willkommen geheißene kollektive Gebilde „Staat“ mit seinen Subsystemen „Wohlfahrtsstaat“ und „öffentliche Sicherheit“ einigermaßen effektiv funktionieren können.

Zugleich zeigt diese Gegenüberstellung sehr grundsätzlicher Positionen, dass die zeitweise dienliche, strategische politische Allianz von Konservativen und Nationalliberalen einerseits und Libertären andererseits während der Euro-Krise keine dauerhafte sein kann und sollte. Die von letzteren angestrebte komplette Entstaatlichung und damit Entpolitisierung der Gesellschaft kann niemals im Interesse konservativ-freiheitlichen, nationalliberalen Denkens liegen. Es gilt daher, nicht nur geografisch, sondern auch politisch klare Grenzen zu ziehen.

Artikelbild: Open/Closed / Antti T. Nissinen / CC BY 2.0

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8 Kommentare zu "Offene Grenzen: Die libertäre Heuchelei"

  1. Peter B. sagt:

    Ob Lamento über Individualismus oder den “Selbsthass” der “deutschen Nation”, hier wird kein rechtsextremes Topos ausgelassen. Den Beitrag hätte auch die NPD-Postille “Deutsche Stimme” dankend abgedruckt. Vielleicht sollte der Autor ihn dort ebenfalls einreichen.

    • Sebastian Müller sagt:

      Interessant, wie schnell mittlerweile der Vorwurf des “Rechtsextremismus” ausgepackt wird. Sie, Herr Peter B., sind doch das beste Beispiel dafür, das am Selbsthass der Deutschen etwas dran zu sein scheint.

      Es graut mir vor der politischen Debattenkultur, wenn eine berechtigte Kritik an einem übersteigerten Individualismus nicht mehr geäussert werden darf, weil er reflexhaft mit “rechtsextremen Topos” in Verbindung gebracht wird. Es graut mir, wenn eine Verteidigung der (Sozial-, Rechts-)Staatlichkeit als Chauvinismus diffamiert wird. Wahrscheinlich kommen Sie aus der kritisierten libertären Ecke Herr B.?

      Auch ich habe übrigens ein – wohl im neoliberalen Zeitgeist nicht mehr geduldetes, weil “rechtsextremes” – Plädoyer für die Staatlichkeit verfasst;-): https://le-bohemien.net/2011/04/19/pladoyer-fur-die-ruckkehr-des-staates/

      • Peter B. sagt:

        Entschuldigung, dass ich erst jetzt antworte, da ich lange im bösen “Ausland” war und Menschen geholfen habe, die Sie hier nicht reinlassen wollen. Ich hatte diese Seite auch schnell wieder vergessen und bin nur zufällig erneut hier gelandet. Und ich wusste schon warum mir das Vergessen so leicht fiel. Ihr Gejammer ist ja das typische in rechtsextremen Kreisen: Sobald jemand Ihre Äußerungen kritisiert, wird darüber lamentiert, dass man dieses oder jenes nicht sagen “dürfe”. Man darf aber alles sagen, soweit es nicht strafrechtlich verfolgt wird. Und ich bin dafür, dass keine Äußerung strafrechtlich verfolgt werden sollte. Aber was sie meinen, ist, dass Sie ihre rechtsextreme Ideologie versprühen können sollten, ohne dass andere Menschen Sie dafür kritisieren. Wer Sie kritisiert und seine Meinung über Ihre Auswürfe kundtut, der schränke angeblich Ihre Meinungsfreiheit ein. Absurd.

    • Ich für meinen Teil möchte, dass bei geschlossenen EU-Außengrenzen einer durch die sozialstaatlichen Kapazitäten begrenzten Anzahl von Flüchtlingen in Deutschland ein menschenwürdiges Asyl geboten wird, mit einem garantierten Mindestmaß an Wohlstand (worauf ich übrigens im Rahmen meiner Tätigkeit als Kommunalpolitiker einer mittleren Großstadt selbst schon mittels politischer Entscheidungen hingewirkt habe – was haben Sie getan, Herr B., außer im Internet argumentationsbefreit-reflexhaft mit Nazi-Vergleichen um sich zu werfen?).
      Libertäre hingegen möchten den Sozialstaat abschaffen und bei komplett offenen Grenzen jedem einzelnen Flüchtling die “Freiheit” bieten, nicht nur in seinem jeweiligen Heimatland, sondern auch hier zu verelenden und zu verhungern.
      Frage: Welche von beiden Positionen ist nun wohl “humaner”?

      Interessant dabei auch, dass ich bislang von noch keinem einzigen Libertären oder “Klassisch-Liberalen” einen Lösungsvorschlag für die im Artikel benannten Probleme erhalten oder gelesen habe; weder jetzt, noch in früheren Diskussionen dazu. Ein Armutszeugnis für eine gesamte Ideologie!

      • Peter B. sagt:

        Ach Gottchen, sie Held haben also mit dem Geld anderer Menschen Menschen geholfen. Was für eine Leistung. Ich hingegen, obwohl nicht sehr wohlhabend, habe ja “nur” in den letzten Jahren mehrere tausend Euro an nachhaltige Entwicklungshilfeprojekte (z.B. für zinsfreie Mikrokredite) gespendet, von meinem eigenen, erarbeiteten Geld.

  2. Bravo sagt:

    Ein wunderbares Beispiel dafür das lechte und rinke Verführer wirklich ein und die selben Ziele verfolgen. Bitte mehr davon…
    Die außerparlametarische Opposition in Deutschland kann echt einpacken, mir graut es vor der Zukunft. Hilfeeeee……

  3. Hallo Herr Sander,

    diese Replik auf Ihren Artikel könnte vielleicht für Sie und Ihre Leser interessant sein:

    Einige Mißverständnisse zu offenen Grenzen

    http://www.offene-grenzen.net/2014/04/18/einige-missverstaendnisse-zu-offenen-grenzen/

    Viele Grüße

    Hansjörg Walther.

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