Plädoyer für die Rückkehr des Staates

Der Staat wird zum Auslaufmodell. Er wird outgesourct und privatisiert, die öffentlichen Leistungen reduziert. Gleichzeitig steigen seine Schulden. Der Spiegel sprach unlängst vom “Unsinn der Nationen”.

Von Sebastian Müller

Die internationale Geldelite und die Megakonzerne, die sich dem Gemeinwohl nicht mehr verantwortlich fühlen, liefern das Manuskript zu dieser Story. Die Geburtsländer des modernen Nationalstaates befinden sich in einer tiefen Krise – von den failed states der Dritten Welt ganz zu schweigen.

Längst ist das politikwissenschaftlicher Usus: Der israelische Historiker Martin Van Creveld spricht in seinem gleichnamigen Buch vom Aufstieg und Untergang des Staates. Creveld postuliert, dass die Kräfte der Globalisierung im allgemeinen, und speziell die europäische Einigung viele Staaten noch zu unseren Lebzeiten in den Zusammenbruch oder zur Aufgabe weiter Teile ihrer Souveränität führen werden.

Viele – vom linken bis ins libertäre Lager – die ohnehin offene Grenzen fordern, weinem dem Staat keine Träne nach. Doch die Frage, was nach dem Staat kommen soll, wird nicht gestellt. Obwohl bisher keine Ordnung existiert, die den Staat und seine Institutionen ähnlich erfolgreich ersetzen könnte. Eine historische Erfolgsgeschichte wird fahrlässig der Erosion preisgegeben.

Für einen kurzen Augenblick ließ die Weltfinanzkrise den Ruf nach dem Staat wieder laut werden. Nun ist er zugunsten einer beispiellosen Austeritätspolitik verschollen – zu unrecht! Denn das jetzige Desaster der Schuldenkrisen in Europa und den USA wurde durch seine weitgehende Entmachtung gefördert. Doch was uns der Staat gegeben hat und nun wieder geben muss, ist keine nostalgische Erinnerung, sondern die Kontrolle des Marktes durch die Menschen.

1. Die Finanzkrise als Chance

Die Finanzkrise hat mehreres bewiesen: Die falsche Mär der Ideologie des freien Marktes, die unheilvolle Macht der Finanzindustrie und Investmentbanken sowie die daraus resultierende Notwendigkeit der Existenz einer unabhängigen Kontroll- und Regulierungsinstanz; und zu guter Letzt: die Unabdingbarkeit, eine gerechtere Verteilungspolitik der erwirtschafteten Vermögen zu erreichen.

Doch wie soll diese Instanz in Zukunft aussehen, wer soll die unverzichtbaren Kontroll-, Regulierungs- und Verteilungsfunktionen wahrnehmen? Die schonungslose Eindeutigkeit, in welcher der gesamten Weltbevölkerung das Scheitern einer Finanz- und Wirtschaftsordnung vor Augen geführt wurde, erinnerte an den Zusammenbruch des “real existierenden Sozialismus” in den Jahren 1989/90. Noch vor zwei Jahren, so hätte man meinen wollen, war die Chance für einen neuen Weg lange nicht mehr so sehr gegeben wie zuvor.

Allerdings gibt es einen signifikanten Unterschied zu damals: Das gescheiterte planwirtschaftliche System stand immer einem konkreten Konkurrenzmodell gegenüber, von dem es letztendlich geschluckt wurde. Diese konkurrierende Alternative scheint nun, zumindest in der Praxis, zu fehlen. Das ist das entscheidende Totschlag-Argument, welchem sich die neoliberalen Apologeten immer bedient haben und nun auch jetzt bedienen: “Tina – There is no alternative”! Diese starre Dogmatik kann bei der Unzulänglichkeit und Illegitimität des gegenwärtigen Systems nur noch sich selbst spotten. Fakt bleibt das Scheitern des real existierenden Finanzmarkt-Kapitalismus.

Was leise aus der allgemeinen Ratlosigkeit herausschallen müsste, ist der Ruf nach dem Akteur, welcher von einer fremdgesteuerten Politik über 30 Jahre lang stetig demontiert wurde: der Staat. Wann, wenn nicht jetzt bestünde die Pflicht, als auch der mehrheitliche Konsens, den unsäglichen Einfluss der Finanz- und Wirtschaftslobby zu bekämpfen, die Handlungsfähigkeit der Politik wieder herzustellen, und nicht zuletzt den verfassungsmäßigen Auftrag des Sozialstaates wieder ernstzunehmen? Seine Idee auf die supranationale Ebene zu hieven wäre der der letzte Schritt in Konsequenz und Vollendung.

Bisher aber hat die politische Elite grandios versagt. Deutlicher als in den vergangenen beiden Jahren – in denen so gut wie keine nennenswerte Finanzmarktreform durchgeführt wurde – hätte der Welt der Ausverkauf politischer Entscheidungsgewalt und Handlungsfähigkeit nicht vor Augen geführt werden können. Die Finanzwirtschaft diktierte der Politik die Politik, machte sich selbst zum Gewinner der Krise und sozialisierte die Verluste der Spekulation. Wir haben die Götterdämmerung der Demokratie vor Augen.

Eine Globalisierung und eine Welt, die von den Interessen der Konzerne und des Finanzkapitals gelenkt und regiert wird, kann hingegen nur die Schreckensvision des 21. Jahrhunderts sein. Wenn die schon wankende, westliche Demokratie überleben soll, brauchen wir eine andere Globalisierung, eine neue Vision des Global-Governments und vor allem und zu allererst eine andere Europäisierung.

2. Demokratische Kontrolle

Fakt ist, die meisten Institutionen der EU sind nicht demokratisch legitimiert und intransparent. In Brüssel haben Lobbyisten massiven Einfluss auf die Gesetzgebung. Hier Bedarf es am dringendsten demokratischer Reformen, sprich wichtiger Kontrollmechanismen für intransparente, parlamentarische oder ministeriale Entscheidungsprozesse. Notwendig ist eine Demokratisierung der EU-Ministerien, des Rates der Europäischen Union und der Europäischen Kommission, als auch der Einführung von Volksabstimmungen auf europäischer Ebene.

3. Renaissance des Staates

Die Krise der Demokratie aber ist die Krise des Staates und umgekehrt. Hat der Staat nicht die größten zivilisatorischen Errungenschaften auf den Weg gebracht? Die Sozialsysteme, sprich Krankenversicherung, Unfallversicherung, Arbeitslosengeld, Altersvorsorge, sowie freie Bildung und Schulpflicht sind Elemente die bei der Zurückdrängung des Staates gegenwärtig zur Disposition stehen. Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit sind Errungenschaften, die mit dem Ausbau des Staates, seiner Institutionen und durch die Demokratisierung des Staatswesens ermöglicht wurden.

Der Staat hat bewiesen, dass er die einzige Instanz darstellt, welche – sowohl auf nationaler, und durch die konsequente Übertragung seiner demokratischen Institutionen auf die europäische Ebene – die wirtschaftliche Entwicklung gestalten, regulieren und sozial verträglich halten kann. Er alleine vermag eine umfassende Verteilungspolitik zu gewährleisten. Durch die Gestaltung und Wahrung der Grundrechte – und dabei sind die sozialen und politischen Rechte des Bürgers meines Erachtens elementar – bezieht der Staat seine historische Legitimität.

Was in den letzten Jahrzehnten zu beobachten war, ist jedoch das Gegenteil: der systematische Abbau seiner Befugnisse, die Vermengung hoheitlicher Gestaltungs- und Gesetzgebungsprozesse durch privatwirtschaftliche Akteure und damit die allmähliche Entdemokratisierung seiner Institutionen und zuletzt die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge und des Staatseigentums. Dieser Prozess wurde durch eine Europäisierung hinter dem Rücken der Bürger verstärkt. Die Deutungshoheit des neoliberalen Zeitgeistes brachte eine Diskreditierung des vorsorgenden Interventionsstaates mit sich. Das Vertrauen der Menschen in die Rolle des Staates als Gestalter wurde dabei schwer geschädigt.

Mit dem Abbau des Nationalstaates wird den Bürgern aber das Instrument genommen, mit dem sie, beginnend mit der Französischen Revolution, ihre Interessen wahrnehmen konnten. Das führt gleichzeitig zu einer zunehmenden Entpolitisierung und Entmündigung der Gesellschaft. Der demokratische Zerfall im Willensbildungsprozess und die Erodierung des demokratischen Wohlfahrtsstaates als solidarisches Gemeinwesen wird dadurch zusätzlich beschleunigt. Nicht umsonst sind in den bornierten öffentlichen Debatten Schlagwörter wie „Verstaatlichung“ und „staatliche Intervention“ derart geächtet.

Ein Lichtblick bleibt. Durch die Finanzkrise werden allmählich verkrustete und dogmatische Denkstrukturen aufgebrochen. Zumindest das Gewicht in den öffentlichen Debatten und damit im öffentlichen Bewußtsein verlagert sich wieder zu ungunsten der neoklassischen Vertreter und Meinungsmacher. Linke Ökonomen, Keynesianer und Globalisierungskritiker erhalten dagegen zunehmend gehör. Und auch der Staat als Idee und Krisenmanager scheint sich von seinem Siechtum erholen zu können.

4. Europa der Bürger

Wichtig aber ist, dass der Staat nicht lediglich als kurzfristiger Rettungsanker instrumentalisiert wird, wie es im Zuge der Bankenrettungen geschehen ist, sondern die Grundlagen seiner Legitimität und das verlorene Vertrauen der Bürger wiedererlangt. Hier ist aber auch der Staatsbürger selbst in der Pflicht.

Eine grundlegende Ursache des Vertauensverlustes istdas Verschwinden einer gemeinsamen politischen Vision, eines politischen Willens”. Dieser muss aber wiederbelebt werden.

Öffentlichkeit bedeutete ursprünglich die Fähigkeit, den gemeinsamen Willen der Civitas herzustellen und durchzusetzen. Das Verschwinden dieses Politischen, der Idee eines Staates als politischem Gemeinwesen (Polis), ist die eigentliche Krise der Öffentlichkeit. Und so verstandene Öffentlichkeit existiert nicht einfach, man muss sie schon herstellen. Und es sind die Bürger, die dem stattfindenden Enteignungs- und Verwertungsprozeß Widerstand entgegensetzen müssen (Rüdiger Suchsland).

Dieses Engagement – in den Strassen von Athen, Paris und Stuttgart bereits in Grundzügen zu erkennen – muss sich die oben genannten, handlungsbefähigenden, staatlich-demokratischen Reformen zur Aufgabe erklären. Ziel kann nur sein, dadurch ein sozialstaatliches Europa im Interesse der Bürger und nicht ein Europa im Namen des Marktes von der Politik zu erzwingen.

Dies, in der ursprüngliche Gründungsvision der EWG von 1957 beabsichtigt, wäre eingetreten, wenn die EU eine echte Verfassung hätte, und alle ihre Organe demokratisch gewählt würden. Die Bürger hätten oben hinzugewonnen, was sie unten abgegeben haben. Ein solcher Machtzuschnitt ist nun aber über 50 Jahre hinweg gerade verhindert worden. Und die Zeit bleibt nicht stehen. Bleibt die Demokratisierung aus, wird der Traum eines vereinigten Europas, das von den Bürgern und nicht von globalen Finanzmärkten gestaltet wird, zu einer immer mehr verblassenden Fiktion (Siehe auch die Analyse von Macroanalyst).

Dass es Alternativen zu dem Global Governance der Finanzmärkte, bzw. der Herrschaft des Marktes geben kann, zeigt die experimentelle Entwicklung in Südamerika. Dort ist, zunehmend emanzipiert von der europäisch – nordamerikanischen Hemisphäre, bereits ein Machtblock im entstehen, der Alternativen zu dem “System Tina” entwickelt.

Bei allem Abgesang: Nicht das Ende der Staatlichkeit kann eine glaubhafte Vision bilden – vielmehr ihre soziale, demokratische und supranationale Reformierung. Es bleibt zu hoffen, dass Totgesagte länger leben.

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7 Kommentare zu "Plädoyer für die Rückkehr des Staates"

  1. Ungarn kastriert sich selbst, die USA werden finanzpolitisch mehr und mehr handlungsunfähig, Griechenland, Portugal und Irland sind es praktisch schon, in Deutschland wird die Schuldenbremse die Gestaltungsfreiheit bald stark einschränken….

    Dein Beitrag ist wichtig und richtig. Problem: Die reale Entwicklung geht vielerorts genau in die andere Richtung.

    • Vor allem in Europa. In Finnland und Ungarn reagieren Rechtspopulisten auf die neoliberale Spar- und Kahlschlagspolitik, in dem sie die berechtigte Abneigung der Europäer gegen die EU erfolgreich kanalisieren. Wenn sich die EU-Politik nicht bald ändert, wird sich das Problem auch weiter verschärfen und letztendlich das Ende der Währungsunion zur Folge haben.

  2. Lemmy Caution sagt:

    Hallo Sebastian,

    zunächst kann ich jedem empfehlen, das inzwischen auch ins Deutsche übersetzte “Das Globalisierungsparadox” lesen. Rodrik setzt wirklich einige Punkte wieder ins Verhältnis, die in der demagogischen Debatte zwischen Neoliberalen und Globalisierungskritikern völlig aus dem Ruder gelaufen sind.
    Einige von Dir angesprochene Punkte halte ich für durchaus sehr richtig:
    Durch die Verschiebung der gesetzgeberischen Souveränität an supranationale und nicht demokratisch legitimierte Institutionen wie EU oder World Trade Organization verlieren die Bürger demokratische Mitspracherechte.

    Man sollte jedoch einige Punkte nicht vergessen:
    – In allen wichtigen Industriestaaten spielt der Staat eine nach wie vor große Rolle. Die Staatsquote ist – trotz aller neoliberalen Rhetorik der letzten 20 Jahre – sogar leicht angestiegen.
    – Es gibt eine eindeutig positive Korrelation zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Staatsquote. Entwickelte Länder verfügen viel eher einen großen Staatssektor als unterentwickelte Länder. Das besitzt vielfach auch Effizienzgründe, die von der neoliberalen Rhetorik oft übersehen wurde. Es ist etwa sinnvoller Lehrer vernünftig zu bezahlen, als alle paar Monate die Schule wegen Lehrerstreik ausfallen zu lassen. Die deutsche Subventionierung alternativer Energien hilft auch unserer Exportwirtschaft. Unser sehr ausgeklügelter Verbraucherschutz erleichtert Markttransaktionen zwischen Käufern und Verkäufern.
    – Über lange Jahre erfolgreiche Schwellenländer setzen stark auf den Ausbau eines komponenten Staates. In vielen ostasiatischen Ländern spielte und spielt staatliche Industriepolitik eine wichtige Rolle. Die öffentlichen Bildungsausgaben steigen in all diesen Ländern. Übrigens auch die Sozialausgaben. Diese Staaten setzen auch stark die makroökonomische Landschaft beeinflußende Maßnahmen ein. Beispiele sind etwa eine Renaissance von Kapitalsverkehrskontrollen nach den Finanzkrisen in Schwellenländern 1995 bis 2002 (Tequila-Krise, Asien-Krise, Brasilien-Krise und Argentinien-Krise).
    Insgesamt ist die staatliche Umverteilung in diesen stark wachsenden Volkswirtschaften geringer als in traditionellen Industriegesellschaften wie Europa, Nordamerika und Japan.
    – Auch eher rechtsliberal ausgerichtete Regierungen in Schwellenländern äußern sozialpolitische Meßgrössen als die wichtigsten Ziele der Politik. Die zunehmende Beteiligung an multilateralen Organisationen der traditionellen Industrieländer erinnert sie in Reports, dass ihre beeindruckenden makroökonomischen Fortschritte mit einer sozialen Schuld gegenüber den Schwächeren der Gesellschaften erreicht haben (letzter OECD Bericht über Chile).
    – Angefangen mit der Asien-Krise bis zu unserer Finanzkrise zeigte sich deutlich, dass Liberalisierungen insbesondere im Finanzsektor zwar kurzfristig höchst effiziente, mittelfristig aber sehr brüchige Märkte schaffen. Mittelfristig knallt es irgendwann immer und die Kosten des Crashs übersteigen die eher geringen Effizienzgewinne.
    – Auf Gütermärkten half die Offenheit der Märkte der traditionellen Industriestaaten vielen Schwellenländern beim Aufbau einer eigenen Industrie. In Asien (China, Südkorea, Indien, Indonesien, Malaysia, Thailand, Taiwan, Vietnam, Indien, Türkei une einige mehr), in Lateinamerika (Brasilien, Mexiko) sowie in Osteuropa. Jedoch griffen sie oft tief in die industriepolitische Kiste, um diese Industrien überhaupt über Jahre startklar zu bekommen. Ähnliche Entwicklungen werden heute von einigen Regeln der World Trade Organisation behindert.
    – Die Rolle von global agierenden Großkonzernen wird heute viel kritischer gesehen. Früher sah man sie noch stärker als Übermittler von Wissen von entwickelten zu unterentwickelten Gesellschaften. Heute wird stärker die Tatsache betont, dass sie Staaten in Staaten bilden, die die geringere Regulierung auf globaler Ebene ausnutzen und demokratisch legitimierte Regulierungskompetenz in Einzelstaaten unterlaufen.
    – Die Offenheit der Gütermärkte verstärkte aus Sicht der Industrieländer den Wettbewerb von Standorten aus ärmeren Gesellschaften. Dies traf insbesondere die Personen, die auf dem Markt mit geringeren organisatorischen und technologischen Fertigkeiten auflaufen, die nach wie vor knapp sind. Dies führte bei nur leicht steigender Staatsquote zu sozialen Verwerfungen auch in Deutschland.

    Zu der “südamerikanischen Alternative” kann ich nur den Kopf schütteln. Lateinamerika ist im Vergleich zu Europa unglaublich unterreguliert. “Estar vivo” gilt nach wie als wichtige Devise im wirtschaftlichen Handeln. Man kann das mit “lebendig agieren” übersetzen. In der Praxis bedeutet es das oft brutalkapitalistische Vorbeilavieren an allen existierenden Regeln, um Vorteile für sich selbst zu verschaffen. Das existiert überall, nur halt nirgendwo so stark wie in Lateinamerika. Wer das für Rassismus hält, möge bitte die/den Latina/o seiner Wahl befragen. Es ist Ursache und Folge zugleich der traditionellen Schwäche lateinamerikanischer Staaten. Ein Beispiel: Es gibt glaub ich keine Region in der Welt, in der die Einführung von Tests zur Überprüfung der Kenntnisse der Lehrer zu heftigsten Streiks führen. Man hat sich bei irgendeinem delinquenten Bildungsinstitut sein Diplom erschlichen und gibt nun seine Ignoranz an die wehrlosen Kinder weiter. So geschehen in Ecuador (heftig) und Chile (weniger heftig). In Bolivien und Venezuela verzichtet man afaik auf solche Tests. Ich könnte mit weiteren Beispielen mindestens 4 Stunden weiterschreiben. Z.T. wurzelt dieses Verhalten in Erfahrungen seit der Kolonialzeit. Ursache ist auch die Fähigkeit, in einer suboptimal geregelten Umwelten zu leben und sich dabei selbst ständig mit einem offenherzigen Lächeln selbst zu therapieren. Ich bewundere das tief und halte es gleichzeitig für ein problematisches Gegengewicht gegen eine weitere demokratische Vertiefung der Region.
    Die aktuellen Regierungen Ecuadors, Boliviens und Venezuelas sind sicher teilweise aus einem überall in der Region manifesten Wunsch nach einem stärkeren und für mehr Gerechtigkeit sorgenden Staat gewählt worden. Die bisherigen realen Ergebnisse werden aber immer ernüchternder. Insbesondere Venezuela besitzt trotz Erdölboom unglaubliche Schwächen in traditionell staatlichen Bereichen wie Sicherheit, sozialer Wohnungsbau, Energieversorgung, Wasserversorgung, Schulwesen, Verkehrsinfrastruktur und und und. Das alles klappte übrigens während des vorherigen Erdölboom unter ebenfalls nicht besonders glücklichen Regierungen wesentlich besser. Venezuela galt zwischen etwa 1975 und 1985 als der am weitesten entwickelte Staat Lateinamerikas. In “Historia de Mayte” von Mario Vargas Llosa von ca. 1985 werden häufiger peruanische Personen erwähnt, die nach Venezuela auswandern und dort ein materiell sorgloses Leben führen. Viele Chilenen flohen nach dem Putsch 1973 nach Venezuela.
    An verschiedenen Orten Lateinamerikas stehen Cristo Redentor (Christus Erlöser) Statuen rum. Die Bekannteste in Rio. Auch am Andenpass zwischen Santiago de Chile und Mendoza steht eine. Offen blickende Jesus-Statuen mit ausgebreiteten Armen. Die “Neue” Linke tendiert seit Zeiten der kubanischen “Revolution” gewisse lateinamerikanische Politiker unter dem Blickwinkel der Erlösung von den Widersprüchen eigener Gesellschaften zu sehen. Die Reden sind einfach so schön. Tatsächlich sind aber alle diese Politiker gefangen in den sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen und persönlichen Konflikten ihrer eigenen Gesellschaften, von denen die europäische “Neue” Linke wenig weiss. Diese Castro, Guevara, Allende, Ortega, Chávez oder Morales werden mit allgemein-politischen Hoffnungen einer in vieler Hinsicht materiell, politisch und sozial weiterentwickelten europäischen Kultur überfrachtet, während man gleichzeitig blind ist für die sich ansammelnden Widersprüche, den Schmutz, die strukturellen Fehler und die tragischen Entwicklungen.

    Gruß Lemmy

  3. Hallo Lemmy,

    zu einigen deiner Punkte:

    “- In allen wichtigen Industriestaaten spielt der Staat eine nach wie vor große Rolle. Die Staatsquote ist – trotz aller neoliberalen Rhetorik der letzten 20 Jahre – sogar leicht angestiegen.
    – Es gibt eine eindeutig positive Korrelation zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Staatsquote. Entwickelte Länder verfügen viel eher einen großen Staatssektor als unterentwickelte Länder.”

    Das war bis zur Finanzkrise durchaus korrekt. Dennoch ist seit den 80er Jahren in Europa eine wohfahrtsstaatsfeindliche Entwicklung zu beobachten. Jetzt, mit den knallharten Austeritätsprogrammen und dem zurückschrauben der öffentlichen Leistungen, der Entlassung von Beamten etc. dürfte allerdings auch die Staatsquote zurückgehen.
    Deutschland hat diesbzgl. einen Sonderweg eingeschlagen. Während, wie du richtig bemerkst, die Staatsquote in den meisten EU-Ländern bisher wirklich nicht gesunken ist, war dies in Deutschland sehr wohl der Fall:

    http://www.who-owns-the-world.org/wp/wp-content/uploads/2008/08/bofinger-entstaatlichung-wsi-mitt.pdf

    “- Über lange Jahre erfolgreiche Schwellenländer setzen stark auf den Ausbau eines komponenten Staates. In vielen ostasiatischen Ländern spielte und spielt staatliche Industriepolitik eine wichtige Rolle. Die öffentlichen Bildungsausgaben steigen in all diesen Ländern.”

    Das bestreite ich auch gar nicht. Mein Fokus hat sich ja auch hauptsächlich auf Europa gerichtet. Vielmehr denke ich, dass die alten Nationalstaaten wie auch die alten Demokratien, mittlerweile gewisse “Post”-zustände und Verschleiserscheinungen haben – während jüngere Staaten sogar noch vor ihrem Zenit stehen.

    ” – Die Rolle von global agierenden Großkonzernen wird heute viel kritischer gesehen. Früher sah man sie noch stärker als Übermittler von Wissen von entwickelten zu unterentwickelten Gesellschaften. Heute wird stärker die Tatsache betont, dass sie Staaten in Staaten bilden, die die geringere Regulierung auf globaler Ebene ausnutzen und demokratisch legitimierte Regulierungskompetenz in Einzelstaaten unterlaufen.”

    In der Tat. Die Kritik ändert aber leider noch nichts an den Zuständen…

    Was Südamerika betrifft, wollte ich auch nur andeuten, dass diese Länder nicht mehr dem neoliberalen Entwicklungspfad folgen, und zumindest beginnen, eine gewisse Sozialstaatlichkeit zu entwickeln. Dass dort vieles unreguliert ist und mit europäischen Standarts nicht mithalten kann ist klar. Es ist nicht alles Gold was glänzt. Doch die Tendenz verläuft m.E. derzeit diametral zu europäischen Entwicklung…

  4. Lemmy Caution sagt:

    Und wie viele Generationen wird es deiner Meinung nach brauchen, bis lateinamerikanische Staaten einen ähnlich umfangreichen Sozialstaat erreichen wie hier in Zentral-Europa? Fünf, sechs oder sieben?
    Ich hab da schon interessante Vorstellungen gehört. Eine Frohnatur bezeichnete etwa das brasilianische Sozialprogramm der “Bolsa Familiar” ein Grundeinkommen. Nichts gegen Bolsa Familiar, aber das sind umgerechnet 65 Euro für eine fünfköpfige Familie. Das kann man nicht einmal mit Hartz 4 vergleichen, geht man von der realistischen Annahme aus, dass die Lebenshaltungskosten in Brasilien mindestens halb so hoch wie in Deutschland sind.
    Kindergeld ist in Lateinamerika gänzlich unbekannt. Arbeitslosenversicherung existiert kaum. Privatinsolvenz ebenfalls nicht. Die Sozialhilfe beschränkt sich darauf, die Leute halbwegs am Leben zu halten. Kinder aus prekären Familien, um die sich in Deutschland professionelle Sozialhelfer kümmern würden, werden sich selbst überlassen. Ich kenn da eine 12-jährige. Ein sehr nettes, aufgewecktes und an sich gutmütiges Mädchen. Streetsmart. Wenn die mit 15 nicht schwanger ist, täts mich freuen. Die Verhältnisse in den Gefängnissen sind mittelalterlich. Auch und gerade in Venezuela.
    In Deutschland sind Hausangestellte ein Phänomen einiger weniger sehr reicher Haushalte. In Lateinamerika findest du sie in Mittelstandsfamilien.
    In keinem lateinamerikanischen Land existiert ein wirklich progressives Steuersystem wie in Deutschland.
    Hier ein paar Gini-Koeffizienten, die die Einkommen der Reichsten mit denen der Ärmsten vergleichen. Niedrige Werte stehen für mehr Gleichheit:
    Kolumbien: 58,8
    Bolivien: 58,2 (wie viel Jahre ist Evo Morales an der Regierung?)
    Brasilien: 56,7 (wie viel Jahre war Lula da Silva an der Regierung?)
    Chile: 52,4 (leider sehr stabil seit Pin8 Diktatur darunter 9 Jahre unter Sozialistischen Präsidenten)
    Mexiko: 48,2
    Costa Rica: 48
    Uruguay: 47,1
    Ecuador: 46,9
    Argentinien: 45,7
    USA: 45,0
    Venezuela: 41,0 (Chávez geht ins 13 Jahr seiner Herrschaft)
    Portugal: 38,5
    Groß Britannien: 34,0
    Deutschland 27,0 (nach 25 Jahren Neoliberalismus).

    Ist jede staatliche Aktion in der Wirtschaft eine gute Idee? Macht es Sinn, dass staatliche Gelder in eine Fabrik stecken, die nach Plänen von Renault-Modellen der 80er aus Iran angeschipperte Teile zusammenschraubt und zur Zeit nicht mal 20% der geplanten Menge von vor 3 Jahren produziert? Oder sind da die modernen VW, Mercedes, Renault, Peugeot, Opel, Hyunday, Toyota, etc. pp. Werke in Argentinien, Brasilien und Mexiko nicht vielleicht die bessere Lösung? Macht es Sinn, dass der Staat Zement-Werke übernimmt, die nach der Verstaatlichung nur noch Verlust fahren? Werden diese Produktionsstätten ineffektiv gemanaged, wird dies den Staat schwächen.

    Viele werden es sich leisten können, sich die Renaissance des Sozialstaats in Venezuela einmal anzusehen. Frankfurt – Caracas und zurück gibts diesen Juni für ab 600 Euro.
    Aber Vorsicht:

    http://www.guardian.co.uk/world/2011/mar/10/venezuela-caracas-gang-warfare-murder

    Gruß Lemmy

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