Warum Freiheit nicht Ungleichheit rechtfertigt

Das Recht an einer Sache wird im Libertarismus mit Freiheit gleichgesetzt – was die zusätzliche Freiheitsreduktion für diejenigen unterschlägt, die das Recht an dieser Sache nicht haben.

Freiheit

Foto: Roberth Scarth / Flickr / CC BY-SA 2.0

Von Julian Bank

(Dieser Artikel ist zuvor auf Verteilungsfrage.org erschienen)

Ungleichheit wird regelmäßig als hinzunehmendes Resultat einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung gerechtfertigt. Die tiefere Begründung wird dabei gerne mit einem Verweis auf Freiheit als Wert gegeben. Der politische Philosoph Gerald A. Cohen aus Oxford, vor mittlerweile fünf Jahren verstorben, hat dieses Argument auf so brillante Weise zerlegt – dass eine kurze Erinnerung immer wieder lohnt.

Kurz gesagt überführt Cohen diejenigen, die eine marktwirtschaftliche Ordnung und deren Verteilungsergebnisse mit dem Argument der Freiheit zu rechtfertigen suchen, einer Zirkularität – in der sie sich verstricken, wenn sie entweder eine logisch nicht mögliche Definition der Freiheit verwenden, oder wenn das, was sie als Freiheit bezeichnen, nicht mehr mit dem Wert übereinstimmt, den der Begriff gemeinhin suggeriert.

“Libertarian” capitalism sacrifices liberty to capitalism, a truth its advocates are able to deny only because they are prepared to abuse the language of freedom.
G. A. Cohen, 1995, Self-Ownership, Freedom, and Equality, p. 37.

Aber langsam. Das Argument, das sich gegen Umverteilung innerhalb einer Marktwirtschaft richtet, fußt in seiner Extremform auf einer sogenannten „(rechts-)libertaristischen“ Position, die etwa vom Philosophen Robert Nozick (in „Anarchy, State, and Utopia“, 1974) vertreten wurde. Nozick stellt jegliche staatliche Intervention in „freie Marktprozesse“ als illegitime Verletzung der Freiheit dar. Nur ein „Nachtwächterstaat“, der Privateigentum schütze und die Freiheit der Menschen zur Teilnahme an freiwilligen Tauschprozessen garantiere, sei zu rechtfertigen.

Natürlich sind nur wenige so verirrt, diese Position in Reinform zu vertreten, auch wenn sich manche rechtslibertäre Thinktanks insbesondere in den USA, gern finanziert von finanzstarken Akteuren, wacker halten. In der Regel jedoch – und diese Position findet sich wirklich quer übers politische Spektrum – wird eine ‚gesunde Mitte‘ vertreten: Ein notwendiges Maß an sozialem Ausgleich muss es ebenso geben wie ein Mindestmaß an Freiheit.

Hier setzt der geniale Jerry Cohen an und deckt einen auch in der ‚gemäßigten Position‘ versteckten rhetorischen Missbrauch des Freiheitsbegriffs auf. Denn auch eine vermeintlich ausgleichende, oft als „sozialliberal“ bezeichnete Position, tappt in die Zirkularitätsfalle des libertären Freiheitsbegriffs. Was sie mit ‚Mindestmaß an Freiheit‘ bezeichnet müsste eigentlich ‚Mindestmaß an unreguliertem Markt‘ oder so ähnlich heißen. Warum?

Cohen weist auf die banale logische Wahrheit hin, dass die Freiheit am Privateigentum der einen Person immer eine Unfreiheit aller übrigen an diesem Eigentum bedeutet. Somit stimmt es, dass der staatliche Schutz dieses Privateigentums Freiheit garantiert – die des Eigentümers. Er garantiert im gleichen Augenblick jedoch auch die (mögliche) Unfreiheit aller anderen, nämlich in dem Moment, in dem ich mich gegen den Willen des Eigentümers an dessen Sache vergreifen will. Dann kommt die Polizei.

Der Libertarismus missbraucht Cohen zufolge deshalb den Freiheitsbegriff, weil einerseits das damit suggeriert wird, was wir alle darunter verstehen: Abwesenheit von Zwang. Zugleich macht der Libertarismus jedoch dann den Fehler diese Freiheit an das Privateigentum zu koppeln und jegliches „interferieren“ mit diesem Eigentumsrecht als Freiheitsreduktion per se zu bezeichnen. Kurz: das Recht an einer Sache wird mit Freiheit gleichgesetzt – was die zusätzliche Freiheitsreduktion für diejenigen unterschlägt, die das Recht an dieser Sache nicht haben. Man könne, so Cohen, nicht Freiheit begrifflich in (Eigentums-)Rechten verankern und Freiheit zugleich als Abwesenheit von Zwang verstehen: denn sonst wäre, wie Cohen es auf den Punkt bringt, ein „rechtmäßig verurteilter Mörder im Gefängnis“ dort nicht unfrei. Klar wäre die Unfreiheit des Mörders rechtmäßig, aber er wäre eben auch in Unfreiheit.

Libertarians want to say that interferences with people’s use of their private property are unacceptable because they are, quite obviously, abridgements of freedom, and that the reason why protection of private property does not similarly abridge the freedom of nonowners is that owners have a right to exclude others from their property and non-owners consequently have no right to use it. But they can say both things only if they define freedom in two incompatible ways.
G. A. Cohen, 1995, Self-Ownership, Freedom, and Equality, p. 60.

Bezogen auf die Wirtschaftsordnung hat diese begriffliche Genauigkeit Cohens eine wichtige Bedeutung: So ist es nämlich absurd einen Staat, der nicht oder nur minimal (bspw. um Wettbewerb zu garantieren) in Marktprozesse eingreift, als einen Staat zu bezeichnen, der nicht „interveniert“ und damit Freiheit maximiert. Auch ein Minimalstaat, der „nur“ Eigentum und Marktprozesse schützt interveniert eben auf diese Weise – mit der Einschränkung der Freiheit der nicht-Eigentümer.

Und somit ist auch Umverteilungspolitik nicht automatisch Politik, die Freiheit reduziert. Im Gegenteil, sie kann möglicherweise auch die Freiheit vieler vergrößern, auch wenn sie unbestritten die Freiheit derjenigen einschränkt, deren bisheriges Eigentum sie antastet.

Es mag ja gute Argumente für eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung geben, so wie es ohne Zweifel gute Argumente gibt, diese mindestens dermaßen durch staatliche Regeln auszugestalten, dass Ungleichheit von Marktprozessen stark reduziert wird – was früher einmal als Sozialdemokratie bekannt war.

Der Verweis auf den Wert der Freiheit jedoch taugt definitiv nicht für ein Argument, das sich a priori gegen Umverteilung richtet. Beides, mehr und weniger staatliche Eingriffe in Marktprozesse vergrößern und reduzieren Freiheit zugleich. Es ist eine empirische und dann normative Frage, welche konkrete Variante der Freiheit aller – wohlgemerkt nicht nur der Freiheit der Reichen! – eher zu Gute kommt.

Die Zitate stammen aus dem Buch Self-Ownership, Freedom, and Equality von Cohen aus dem Jahr 1995. Eine Kurzfassung des Arguments findet sich in dem ebenfalls brillanten Beitrag “Capitalism, Freedom, and the Proletariat” abgedruckt in David Millers “Liberty Reader” und im posthum erschienenen Essayband “On the Currency of Egalitarian Justice“. In dem Suhrkamp-Band “Der Wert des Marktes“, herausgegeben von Lisa Herzog und Axel Honneth, ist dieses Jahr auch eine deutsche Übersetzung des Textes erschienen.

Julian Bank ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialökonomie der Uni Duisburg-Essen und Herausgeber des Blogs Verteilungsfrage.org, wo auch dieser Artikel erschien.

Artikelbild: Roberth Scarth / Flickr / CC BY-SA 2.0

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4 Kommentare zu "Warum Freiheit nicht Ungleichheit rechtfertigt"

  1. Thomas sagt:

    Interessant, wie Cohen hier unterstellt, dass die Abwesenheit von Eigentum an einer Sache gleichzusetzen wäre mit Unfreiheit – und Eigentum die Grundlage wäre für Freiheit. Eigentum ist jedoch eine Konsequenz aus Freiheit als ureigenstes Recht. Eigentum entsteht in einem freien Markt durch eigene Leistung (Aufwendung von Lebenszeit). Das Recht auf selbstbestimmtes Verwenden seiner eigenen Lebenszeit ist ein großer Faktor in der Definition von Freiheit.
    Der letzte Absatz entlarvt ihn dann endgültig als Sozialisten, der die Freiheitsrechte der Einzelnen zum Wohle der Allgemeinheit opfert – und selbstverständlich Zustimmung erfahren würde von der Mehrheit. Angefangen bei einem Nachtwächterstaat wären wir mit dieser Argumentationskette nach 100 Jahren genau dort, wo wir uns heute befinden.

    Sobald die Mehrheit entscheidet, eine Minderheit zu enteignen und damit einen Teil ihrer Freiheit einzuschränken bzw damit Teile ihrer Lebenszeit zu rauben – egal wie edel die Argumente augenscheinlich sein mögen – wird aus Recht per Gesetz Unrecht, werden freie Menschen per Diktat Sklaven für andere und die Dinge nehmen ihren tödlichen Lauf.

    • Julian Bank sagt:

      Cohen stellt erstmal nur eine konzeptuelle und logische Wahrheit fest: er sagt nicht dass die Abwesenheit von Eigentum an einer Sache mit Unfreiheit an sich gleichzusetzen sei, sondern mit Unfreiheit an dieser Sache. Mit Freiheit definiert als Abwesenheit von Zwang. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Das bemerkenswerte an dieser banalen Wahrheit ist, dass es – wie dargestellt – weitreichende Konsequenzen für den oft tendenziösen Gebrauch des Freiheitsbegriffs hat. Cohens Argument widerlegt nicht Nozick’sche politische Positionen – es zeigt lediglich, warum der Begriff “Libertarismus” für diese marktradikale Position fehl am Platz ist, weil sie den Freiheitsbegriff unlogisch verwendet und damit ideologisch – ohne weitere Begründung – unberechtigterweise besetzt.

      Zum “selbstbestimmten Verwenden seiner eigenen Lebenszeit” und der libertären Behauptung, Besteuerung wäre eine Raub an Lebenszeit: Diese weitere Begründung ist dann genau die Rettung, in die sich der Libertarismus zu flüchten sucht. Bloß definiert er damit den Freiheitbegriff, wie der Kommentar zeigt, schleichend um: Plötzlich ist Freiheit definiert entsprechend der sogenannten Self-Ownership These. In Cohens Worten:

      “Anarchy, State, and Utopia is routinely characterized as libertarian, an epithet which suggests that liberty enjoys unrivalled pride of place in Nozick’s political philosophy. But that suggestion is at best misleading. For the primary commitment of his philosophy is not to liberty but to the thesis of self-ownership, which says that each person is the morally rightful owner of his own person and powers, and, consequently, that each is free (morally speaking) to use those powers as he wishes, provided that he does not deploy them aggressively against others. ‘Libertarianism’ affirms not freedom as such, but freedom of a certain type, whose shape is delineated by the thesis of self-ownership.”

      Die “Self-Ownership-These” zerpflückt Cohen dann übrigens gekonnt im restlichen Buch, zu dem das im Artikel hier vorgestellte Argument nur den Auftakt bildet. Sie ausführlich zu diskutieren wäre hier in den Kommentaren fehl am Platz. Nur so viel: Ich finde es eine ziemlich kuriose Position, Besteuerung als Sklaverei oder Raub an Lebenszeit zu bezeichnen. Das suggeriert für mich, ein Mensch, der Einkommen erzielt, bewege sich in einem ahistorischen Vakuum, in dem die Voraussetzungen (Rechtsstaatlichkeit, Infrastruktur, Gesundheitsversorgung, Bildungssystem usw.) Einkommen zu erzielen keine Rolle spielten. Ziemlich weltfremd, mit Verlaub. Aber jenseits dessen lohnt auch für die tiefere philosophische Ergründung dieser Frage ein Blick in Cohens Self-Ownership, Freedom, and Equality.

      • Thomas sagt:

        Also ob es keine Infrastruktur gäbe ohne ein Staatskonzept… was haben die Nordmänner nur 1000 Jahre lang ohne angestellt. Ich für meinen Teil finde die bedingungslose Staatsgläubigkeit mittlerweile naiv. Aber das wurde ja schon im ersten Kommentar klar.

        Ich werde mir das Buch jedenfalls durchlesen, der Herr war mir bis heute unbekannt. Danke dafür.
        Die bisher gezeigten Argumente daraus sind für mich aber nicht schlüssig. Unfreiheit an der Sache eines anderen ist so normal wie die Unmöglichkeit, zeitgleich am selben Platz zu stehen und gehört für mich indirekt schon in die Kategorie natürliche Zwänge. Ein Staat (mit komplexer, arbeitsteiliger Wirtschaft), der größer ist als vielleicht ein Familienclan oder ein kleines Dorf, in dem der soziale Druck untereinander die Dinge noch regeln kann, kann ohne Eigentum (also faktisch in Kommunismus) langfristig nicht existieren. Das resultiert einfach aus der Natur des Menschen und kann nicht wegargumentiert werden. Die Praxis hat das mehrfach bewiesen.

        Ich würde mich noch freuen über einen kurzen Artikel zum Self-Ownership-Thema, falls das komprimiert möglich sein sollte.

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