Neutrale und wissenschaftliche Politikberatung?
Der Sachverständigenrat, einst unter dem Vorzeichen einer keynesianischen Wirtschaftspolitik gegründet, ist heute eine Institution des neoklassischen Mainstreams.
Von Lea Arnold
Mit dem „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ – häufig einfach nur als Sachverständigenrat bezeichnet – wurde 1964 erstmals ein Beratungsgremium geschaffen, um wirtschaftspolitische Entscheidungen wissenschaftlich zu unterstützen. Dieses Gremium, auch bekannt als die „Fünf Wirtschaftsweisen“, soll wertneutrale Aussagen über bestimmte wirtschaftliche Situationen treffen. Der Sachverständigenrat soll dabei unabhängig agieren können und im Idealfall durch seine auf wissenschaftlicher Grundlage erstellten Jahresgutachten eine entpolitisierende Wirkung auf die Wirtschaftspolitik in Deutschland ausüben. Bis heute spielen diese Jahresgutachten eine zentrale Rolle in wirtschaftspolitischen Debatten. Es stellt sich jedoch die grundsätzliche Frage, ob eine neutrale und rationale Politikberatung der Wirtschaftspolitik durch den Sachverständigenrat tatsächlich gewährleistet werden konnte und kann. Auch die Frage, welchen Einfluss die Gewerkschaften auf die Ratstätigkeit nehmen können, verdient eine genauere Betrachtung. Beide Fragen stehen im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen.
Es war von Beginn an – und ist bis heute – das ausschließliche Recht der Bundesregierung, die Ratsmitglieder zu ernennen. Jedoch haben die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften ein Vorschlagsrecht für jeweils eine(n) Wissenschaftler(in). Die von gewerkschaftlicher Seite unterstützten Ratsmitglieder vertreten seit jeher meist keynesianische, nachfrageorientierte Ansätze. So betonen sie etwa die Bedeutung gesamtwirtschaftlicher Nachfrage in Folge höherer Löhne oder Staatsausgaben. Abgesehen von den Anfangsjahren des Rates widersprachen sie damit dem wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream. Dieser setzte sich Mitte der 70er Jahre durch, er setzte auf angebotsorientierte Wirtschaftspolitik und erhoffte sich – etwa durch niedrigere Löhne, Deregulierung und Kürzung der Staatsausgaben – eine größere Investitions- sowie Wirtschaftsdynamik. Entsprechend besetzen die gewerkschaftlich unterstützten Mitglieder des Sachverständigenrats auch im Rat eine Minderheitenposition. Sie müssen ihren Standpunkt häufig in Minderheitsvoten zum Jahresgutachten deutlich machen. Es zählt zu den Finessen der politischen Regierungstaktik, diese Minderheitsvoten gekonnt zu ignorieren. Alternative Sichtweisen auf wirtschaftliche Prozesse und politische Instrumente können so keinen Zugang in die Regierungspolitik finden.
Zu Beginn der Ratstätigkeit war die wirtschaftspolitische Position der Ratsmehrheit durchaus noch keynesianisch und nachfrageorientiert ausgerichtet. Dennoch war der Sachverständigenrat auch in dieser Phase sehr heterogen besetzt. Nach außen wurden Konflikte innerhalb des Gremiums erst sichtbar, als 1968/1969 zwei Mitglieder den Sachverständigenrat vor Ablauf der üblichen Dauer einer Ratsmitgliedschaft verließen. Als Gründe wurden die Hinderung an Minderheitsvoten und wenig Akzeptanz des Sachverständigenrats seitens der Politik, insbesondere seitens des Finanzministers Franz Joseph Strauß (CSU), genannt. Bis 1966 waren sowohl das Bundeskanzleramt als auch das Bundeswirtschaftsministerium durch CDU-/CSU-Politiker besetzt. Erst mit der Bildung der Großen Koalition und der Ernennung Karl Schillers (SPD) zum Bundeswirtschaftsminister änderte sich dies. Waren die keynesianischen Vorschläge des Rates unter seinem Vorgänger Kurt Schmücker (CDU) nicht umgesetzt worden, sollten diese in Schillers Ministerzeit ihre Blüte erfahren. Die Politisierung innerhalb des Sachverständigenrats zwischen nachfrageorientierter, keynesianischer und angebotsorientierter, ordoliberaler Wirtschaftspolitik wurde nun auf die Ebene der Wirtschaftspolitik getragen, da nun im Zuge der Übernahme des Wirtschaftsministeriums durch die (damals noch keynesianisch ausgerichtete) SPD die Vorschläge des Sachverständigenrats unter dem starken Einfluss Schillers umgesetzt wurden.
Zunächst blieb die wirtschaftspolitische Position der Ratsmehrheit keynesianisch ausgerichtet. Das änderte sich Mitte der 1970er Jahre, als sich diese in eine angebotspolitische Richtung verschob. Auch zu dieser Zeit war der Rat sehr heterogen besetzt. Nach außen machte sich dies primär durch Minderheitsvoten derjenigen Ratsmitglieder bemerkbar, die abweichende Meinungen vertraten. Sie fanden jedoch keinen Eingang in den Jahreswirtschaftsbericht und damit in die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Von anderer Seite erfuhren alternative wirtschaftspolitische Ansätze jedoch seit Mitte der 70er Jahre Unterstützung: 1975 gegründet, legte die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memorandum-Gruppe) ab 1977 regelmäßig ihre Memoranden vor.
Bis 1972 wurde der Bundeswirtschaftsminister durch Karl Schiller und Helmut Schmidt von der SPD gestellt, es folgte der FDP-Politiker Hans Friderichs. Danach war in den Jahren 1977-1984, also auch in den letzten Jahren der Kanzlerschaft Helmut Schmidts, mit dem FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff ein ausgemachter Anhänger des Sachverständigenrats und angebotspolitischer Wirtschaftspolitik Bundeswirtschaftsminister. Die angebotspolitische Neuorientierung des Rats brachte erste Konflikte mit der SPD mit sich, die weiterhin einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik nahe stand. Im Gegensatz dazu unterstützte die FDP die Neuausrichtung, allen voran Bundeswirtschaftsminister Lambsdorff. Da das Bundeskanzleramt unter Helmut Schmidt dem Sachverständigenrat nur wenig Interesse entgegenbrachte, konnte Lambsdorff das Gremium nach seinen Wünschen mit Vertretern angebotspolitischer Ansätze auffüllen.
In den frühen 1980er Jahren wurde mit dem Regierungswechsel diese neoliberale Angebotspolitik dann auch praktisch umgesetzt. Einmal mehr zeigte sich der Sachverständigenrat in dieser Zeit hochgradig politisiert: Eine keynesianische und nachfrageorientierte Minderheitsposition, vertreten von Werner Glastetter (von Gewerkschaftsseite unterstützt) und Hans-Jürgen Krupp (SPD) stellte sich der neuen neoliberalen, angebotspolitischen Mehrheit entgegen. Dieser Konflikt fand sein Pendant auf politischer Ebene: Nachdem die FDP das Bundeswirtschaftsministerium übernommen hatte und Lambsdorff seine wirtschaftspolitische Ausrichtung immer stärker angebotspolitisch orientierte, kam es zu Schwierigkeiten zwischen dem FDP-geführten Bundeswirtschaftsministerium und der SPD-Führung. Die Vorschläge des Sachverständigenrats wurden dank des Widerstands der SPD vorerst nicht umgesetzt.
Nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition, von Lambsdorff ganz wesentlich mit vorangetrieben, ging die FDP 1982 eine Koalition mit der CDU ein. Es folgte damit eine längere Phase der angebotspolitischen Ausrichtung sowohl der Wirtschaftspolitik als auch des Sachverständigenrats. Außer dem regelmäßig von Gewerkschaftsseite vorgeschlagenen Mitglied des Rates wurden alle Mitglieder durch die FDP-Minister und das Bundeskanzleramt vorgeschlagen. Deren Auswahl war nicht zuletzt danach ausgerichtet, dass sie die Politik der Koalition unterstützten. Die keynesianisch orientierten Professoren Hans-Jürgen Krupp (SPD, Mitglied im Sachverständigenrat 1982-1984), Dieter Mertens (1984-1986) und Rüdiger Pohl (1986-1994, die beiden letztgenannten von den Gewerkschaften vorgeschlagen) gaben in den Jahresgutachten regelmäßig Minderheitsvoten ab, die aber in den Jahreswirtschaftsberichten der Bundesregierung keine Erwähnung fanden und auch wirtschaftspolitisch nicht aufgegriffen wurden. Die Vorschläge der Ratsmehrheit wurden nun bis 1989 häufig umgesetzt; Sachverständigenrat und CDU-FDP-Bundesregierung verfolgten einen gemeinsamen neoliberalen Kurs.
Durch die Wende und die Wiedervereinigung 1990 wurde der Einfluss der Wissenschaftler deutlich begrenzt. Hier ist durchaus ein gewisser Bruch zu den 1980er Jahren zu erkennen: Viele Vorschläge wurden aus regierungstaktischen Gründen nicht umgesetzt. Vielmehr bestärkte das Handeln Helmut Kohls (CDU) den Primat der Politik.
Gegen Ende der Kohl-Ära wurde seitens des Sachverständigenrats das Problem der hohen Arbeitslosigkeit immer stärker kritisiert. Die Wissenschaftler mussten nicht zuletzt um ihre eigene Reputation fürchten, wenn sie keine wirtschaftspolitischen Lösungen anbieten konnten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das von Gewerkschaftsseite unterstützte Mitglied Wolfgang Franz sich kurze Zeit nach seinem Eintritt in den Sachverständigenrat der angebotspolitischen Mehrheit anschloss. In dieser Zeit waren folglich keine Minderheitsvoten in den Jahresgutachten mehr zu finden. Die Gewerkschaften reagierten darauf, indem sie Jürgen Kromphardt für die nächste Ratsperiode vorschlugen. Im Jahr 2003 wurde Franz dann sogar von Arbeitgeberseite unterstützt, sodass sein inhaltlicher Wechsel nun nach außen offensichtlich wurde. Seit 2009 hatte Franz (bis Februar 2013) auch den Vorsitz des Rates inne.
Während der rot-grünen Regierungszeit unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) wurde in der wirtschaftspolitischen Diskussion eine neue Konzeption vertreten, die auch den Sachverständigenrat stark prägte. Der so genannte „Dritte Weg“, ursprünglich als Mittelweg zwischen Nachfragepolitik einerseits und Angebotspolitik andererseits gedacht, wurde sowohl von der Ratsmehrheit in ihren Jahresgutachten als auch von der Regierung als neuer wirtschaftspolitischer Weg unterstützt. Doch die darin angelegte Annäherung an keynesianische Nachfragepolitik blieb faktisch aus. Auch der Sachverständigenrat wurde nach der Wahl 1998 alsbald mit Wissenschaftlern besetzt, die die Politik des Dritten Weges mittrugen. Nachhaltige nachfragepolitische Veränderungen fanden sich in den Jahresgutachten (von den mittlerweile üblichen Minderheitsvoten abgesehen) hingegen nicht.
Die Vorschläge der Ratsmehrheit wurden während der rot-grünen Regierungszeit zwar häufig umgesetzt, beispielsweise floss das „Zwanzig-Punkte-Programm“ des Sachverständigenrates in Großteilen in die „Agenda 2010“ ein. Die kritischen Stimmen der nachfrageorientierten Professoren Jürgen Kromphardt und Peter Bofinger fanden in den Jahreswirtschaftsberichten der Bundesregierung allerdings keine Beachtung. Da sich Sachverständigenrat und Regierung, insbesondere in Gestalt der Bundeswirtschaftsminister Werner Müller bzw. Wolfgang Clement, in den Hauptlinien der Wirtschaftspolitik immer ähnlicher wurden, mischte sich der Rat auch immer stärker in tagespolitisches Geschehen ein. Die bisherige Zuordnung einer keynesianischen Wirtschaftspolitik zur SPD war endgültig aufgehoben. Wie schon unter der Vorgängerregierung wurde der Sachverständigenrat mit regierungsfreundlichen und angebotstheoretisch orientierten Mitgliedern besetzt.
In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Minderheitsvoten wieder stark zugenommen. Besonders das derzeitige Ratsmitglied Peter Bofinger, von den Gewerkschaften vorgeschlagen, übt regelmäßig Kritik an der Mehrheit des Rates. So ist es den gewerkschaftsnahen Vertretern in der Außenwirkung und in der öffentlichen Diskussion möglich, alternative Lösungsvorschläge zu verbreiten und auf wirtschaftspolitische Fehlentwicklungen hinzuweisen.
Letztlich nimmt der Sachverständigenrat eine der Regierungspolitik untergeordnete Rolle ein. Hierfür sind zwei Gründe augenfällig: Zum einen bestimmt vorrangig die Regierung über die Besetzung des Sachverständigenrats. Alternative Perspektiven bleiben damit stets eine Minderheitenmeinung. Der Wirtschaftsweise Gerhard Scherhorn (Mitglied im Sachverständigenrat 1974-1979) meint dazu: „Die Parteizugehörigkeit war nicht so wichtig, mehrere Ratsmitglieder gehörten keiner Partei an, ich denke sogar die meisten. Das war auch gar nicht nötig, das Procedere [der Ratsbesetzung, L.A.] war Garantie dafür, dass der Rat in Sachen Lohnpolitik stets eine arbeitgeberfreundliche Mehrheit hatte.“
Zum anderen nimmt die Bundesregierung die Inhalte der Jahresgutachten vorrangig dann auf, wenn sie der eigenen Politik nahe kommen. Insbesondere die nachfrageorientierten Minderheitsvoten finden damit bewusst keine Beachtung. Positionen, die der in aller Regel regierungsfreundlichen und angebotstheoretischen Ratsmehrheit widersprechen, bleiben damit regierungspolitisch unwirksam. Die ursprünglich erhoffte, neutrale Beratung wird durch den Einfluss der Regierung auf die Auswahl der Ratsmitglieder und die selektive Rezeption der Jahresgutachten untergraben.
Obwohl als unabhängiges Beratungsgremium geschaffen, wurde der Sachverständigenrat in den vergangenen Jahren so immer stärker in die konkrete Politikformulierung integriert. Die intensive Einbindung des damaligen „Wirtschaftsweisen“ Bert Rürup in die rot-grüne Sozial- und Rentenpolitik mag hierfür ein gutes Beispiel sein. Der Einfluss der Politik nimmt damit einmal mehr zu, eine schleichende Instrumentalisierung des Rates durch die Bundesregierung ist unübersehbar.
Dieser Text steht unter folgender Lizenz (CC BY-NC-ND 3.0 DE). Er erschien zuerst in WISO-Info 2/2011 sowie annotazioni.de
Mein Erleben deckt sich in etwa mit dem Resümee des Textes: Die Wirtschaftsweisen werden oftmals aus Akademikern handverlesen, die Dinge ähnlich sehen wie die Regierungspolitiker selbst. Und wenn sich deren Analysen dann wenig verwunderlich decken, so werden diese Analysen als Indiz für was-auch-immer genutzt. Und ansonsten stattdessen stillschweigend ignoriert. Eben so, wie man es in marktkonformer Demokratie mit Experten macht.
Ja da kann man noch lange darüber diskutieren. Ich finde der unten verlinkte kleine Trickfilm erklärt fast alles.—wenigstens wieso das alles heute so läuft.
@dragaoNordestino
Der kleine Film oben ist wirklich ebenso treffend und bitter wie witzig, im allerbesten Sinne. In Deutschland gibt es derzeit nicht – wie in den USA – zwei, sondern vier Varianten derselben Art, was Täuschungen und auch Selbsttäuschungen erleichtert. Eben deshalb, weil die Wahlbevölkerung weiß oder spürt, dass es sich tatsächlich ungefähr (aber nicht ganz) so verhält, deshalb ist die “Partei der Nichtwähler” so groß. Und in dieser sind die sogenannten “sozial Schwachen” stark überrepräsentiert, weil sie sich als chancenlos erleben.
Was wäre, wenn die Größe der Parlamente auch vom Anteil der Nichtwähler abhängig wäre, wenn sie also mit steigendem Anteil der Nichtwähler immer kleiner werden würden? Dann würden diese vermutlich nicht länger vollständig ignoriert, wie das jetzt der Fall ist.