Lernen von Mini-Europa

Von Maria Dorno

Schweizer AlpenKatalanen, Kosovo-Albaner, Flamen, Schotten, Südtiroler, Basken und immer mal wieder auch die Bayern – in ganz Europa gibt es regionale Bewegungen, welche die Unabhängigkeit von ihrem Nationalstaat anstreben. Gleichzeitig drängen die Eliten in diesen Ländern auf eine tiefere europäische Integration, teilweise auf einen europäischen Bundesstaat. Wie ist das ganz Große mit dem ganz Kleinen zusammen zu denken?

Konrad Adenauer, einer der Protagonisten in der Geschichte der europäischen Einigung, war in seinen jungen Jahren dem rheinischen Separatismus nicht abgeneigt. Doch er erkannte nach dem Zweiten Weltkrieg schnell, dass Frieden und Wohlstand vor allem mit den Faktoren „Deutschland“ und „Europa“ zu erreichen sind. Auch für das Rheinland. Die Einigung wurde dann – trotz anschwellender Ablehnung aus der eigenen Bevölkerung – fortgeführt und vertieft. Frieden, offene Grenzen und eine gemeinsame Währung waren auch für den einfachen Bürger ein positives Zeichen der europäischen Einheit.

Das Machtzentrum entfernt sich vom Bürger

Doch je weiter die Integration fortschritt, desto mehr entfernte sich das Machtzentrum von den Regionen und den Bürgern selbst. Musste man von München vorher „nur“ nach Berlin schauen und sich mit den Preußen „anfreunden“, wird der Blick heute immer öfter nach Brüssel gelenkt. Dort sprechen sie Französisch und Englisch und beschließen Gesetze, die auch die Bürger in Bayern direkt betreffen – in letzter Zeit meist mit negativen Vorzeichen. Oder nicht demokratisch legitimierte Italiener in tragenden Positionen sorgen dafür, dass auch in Bayern oder Flandern der Euro an Wert verliert, ohne das sie Einfluss darauf nehmen könnten. Der Trend zu einer erstarkten regionalen Identität als Reaktion darauf ist logisch.

Die große Rechnung Adenauers, Monnets, Schumans und de Gaulles indes gilt immer noch: Wohlstand und Frieden gibt es nur in einem gemeinsamen Europa. Ein eigenständiges Bayern oder Baskenland wäre weder überlebens- noch zukunftsfähig. Ein europäischer Einheitsstaat gedacht als Einheitsbrei jedoch ebenso wenig. Eine weitere Vertiefung der Union muss daher in jedem Fall eine stark föderalistische Komponente besitzen. Die Konstruktion der Schweizerischen Eidgenossenschaft kann hierbei eine wichtige Hilfestellung bieten.

Allheilmittel Schweiz?

Oft werden als glühendes Beispiel einer Einigung die Vereinigten Staaten von Amerika angeführt. Viel naheliegender scheint jedoch der Vergleich mit dem Land, das mitten im geografischen Herzen der EU liegt. Denn anders als in den Anfangsjahren der USA galt es in der Schweiz verschiedene Sprachen und Kulturen zu integrieren – wie eben gegenwärtig in der EU. Das schweizerische Modell funktioniert nun bereits seit 164 Jahren. Die Schweizer haben Wege gefunden, wie es sich auf lange Zeit trotz der teils stark heterogenen Bevölkerung zusammen leben lässt – zum Wohle des ganzen Landes.

Es sind zwei Instrumente, die das Fundament des Zusammenhalts bilden: Der äußerst stark ausgeprägte Föderalismus und die direkte Demokratie. Zur direkten Demokratie und ihrem Für und Wider ist bereits viel gesagt und geschrieben worden. Unbestreitbar hat sie ein integratives Moment, das nicht zu unterschätzen ist. Dafür müsste es nicht einmal in einer solch massiven Weise wie in der Schweiz ausgebaut werden. Es würde schon genügen, den Stimmen der Wähler mehr Gewicht zu geben, also beispielsweise das Europäische Parlament zu stärken. Über echte Initiativen und Referenden könnte man dann in der Folge sprechen. In jedem Fall muss der Weg zwischen Bürger und politischer Entscheidung direkter werden.

Föderalismus und Subsidiarität

Noch wichtiger als die direkte Demokratie allerdings ist der schweizerische Föderalismus, der absolut dem Prinzip der Subsidiarität verpflichtet ist. Die Verantwortung wird so auf die möglichst kleinste Ebene weitergegeben – über den Bund zu den Kantonen hin zu den Gemeinden, ganz nah an den Bürger heran. Die Kantone – anders als in Deutschland oder den USA sehr kleine Gebilde – beteiligen sich nicht nur durch den Ständerat am politischen Prozess. Sie sind weitgehend souverän und können so Gesetze für die Bürger vor Ort machen. In der EU läuft es gegenwärtig in die gegensätzliche Richtung: Die nationalen Parlamente schreiben die europäische Rechtssetzung nur noch in nationales Recht um.

Im weitesten Sinne auch noch als Teil des föderalen Gedankens zu begreifen sind das Kollegialitätsprinzip und die Konkordanz. Das Kollegialitätsprinzip – ein Beschluss in der Exekutive wird von vielen Gleichberechtigten diskutiert, abgestimmt und unter einer gemeinsamen Meinung vor der Öffentlichkeit vertreten – wird auf allen Ebenen angewandt. Es sorgt dafür, dass sich niemand benachteiligt fühlt, weil er von anderen – zum Beispiel einer ethnischen Mehrheit – überstimmt wurde. Ganz im Gegensatz zum Einstimmigkeitsprinzip der EU sind so große Schritte nach vorne möglich.

Gleichzeitig wird in der Schweiz ein großer Wert auf die Konkordanz gelegt. Es wird immer versucht, möglichst viele Parteien, politische und gesellschaftliche Strömungen und Minderheiten am politischen Prozess zu beteiligen. Das beste Beispiel dafür ist die so genannte Zauberformel. Das Konkordanzprinzip verbunden mit der Nähe der Politik und Institutionen zum Bürger bilden ein stabiles und identitätsstiftendes System. Nicht zu vergessen: die Grundidee. Die Schweiz begreift sich als eine Willensnation. Anders als das heutige Europa.

Das gewollte Europa

Immer mehr Politiker, vor allem in Deutschland und Frankreich, wollen ihren Wählern erklären, die EU sei eine Schicksalsgemeinschaft, von der Krise und äußeren Bedrohungen wie Spekulanten zusammengeschweißt. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wir haben uns aus freiem Willen zusammengeschlossen, um unser gemeinsames Wohl zu mehren. Deshalb kann ein wie auch immer institutionalisiertes Europa nur ein Willens-Europa sein, auch in der Krise. Es muss sich jedoch seiner Vielfalt bewusst sein und daraus die richtigen Schlüsse ziehen.

Wir stehen nun an einer Schwelle, wo es gilt, sich für die richtigen Schlüsse zu entscheiden. Schauen wir doch in unsere Mitte, wo es schon seit ewiger Zeit ein Mini-Europa gibt, das uns die Bedienungsanleitung auf dem Silberteller präsentiert. Und eigentlich hat die EU solche Begriffe wie Subsidiarität und Föderalismus auch schon darin nachgeschlagen. Nicht umsonst lautet ihr Wahlspruch, den Bayern, Basken und Bretonen zurufend: “In Vielfalt geeint”.

Der Artikel erschien zuerst in Theatrum Mundi

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2 Kommentare zu "Lernen von Mini-Europa"

  1. Reyes Carrillo sagt:

    Gleich vorweg gesagt: Ich verstehe nicht allzu viel von dem Thema. Trotzdem erscheint mir Ihr Vergleich mit der Schweiz nicht zwingend nachvollziehbar, wenn Sie sie als gelungenes Beispiel eines fruchtbaren Miteinanders unterschiedlicher Sprach-Kulturen den klar separatistischen Bewegungen anderer Regionen in Europa gegenüberstellen. Das liegt natürlich daran, dass es in der Schweiz selbstverständlich keine wirklich klaffenden ökonomischen Gefälle zwischen den Regionen bzw. Kantonen gibt. Wobei viele der von Ihnen aufgezählten Regionen mit sezessionistischen Bestrebungen ganz klar zu den wirtschaftlich stärksten Zentren ihrer jeweiligen Staaten zählen. Das kann ja auch nicht wundern: Das Dauerjammern Bayerns über den Länderfinanzausgleich gibt im Kleinen, Harmlosen und irgendwie fast Folkloristischen das wieder, was in Katalonien und dem Baskenland als Beispiele knallharte Bewegungen mit Blut an den Händen sind. Gerade diese vergleichsweise superreichen, am stärksten industrialisierten Regionen mit den reichsten Bodenschätzen würden freilich gerade jetzt in der Krise den (seine Bevölkerung ins Verderben sparenden) Nationalstaat Spanien am Liebsten verlassen anstatt Geld nach Madrid zu überweisen. Hinzu kommt, dass genannte Regionen im eigenen Land mit mindestens demselben hässlichen Chauvinismus gegenüber den ungleich ärmeren Agrar-Regionen wie Andalusien und Extremadura auftreten wie Deutschland gegenüber Griechenland. Innerhalb Spaniens gibt es zudem seit Jahrzehnten regelrechte Aus- bzw. Einwanderungsbewegungen vornehmlich nach Katalonien aus dem Süden. Diese werden übrigens ganz offiziell so genannt. Das sieht dann so aus, dass es in den Vorstädten jeder größeren katalonischen Stadt beispielsweise regelrechte Auswandererghettos aus Andalusien gibt, die völlig unter sich bleiben und in der Regel kaum Kontakte zu Katalanen pflegen. Verständlich: Allein der andalusische Dialekt reicht oft schon, als “fremd” und “zweitklassig” behandelt zu werden. Das ist in Italien ja nicht unähnlich. Nein, diese reichen Regionen wollen nicht teilen, weniger denn je. Ein schweizer Modell ist angesichts dieser klaffenden sozioökonomischen Unterschiede sowieso nicht vorstellbar. Es geht schließlich um viel Geld und damit ist in der EU dann sowieso Schluss mit lustig. Die Besonderheiten vor allem des Baskenlands mit seiner wirklich sehr eigenen Identität konnten in diesem Kontext natürlich keine Berücksichtigung finden.

  2. Rüdiger sagt:

    Das Glück der Menschen in Europa hängt nicht von Konstrukt Europäische Union ab. Auch die als Mantra verfassten Äusserungen der politischen Entscheidungsträger die alle einhellig singen “ohne EU gibts Mord & Totschlag” durschauen die meisten Menschen. Die Solidarität der Menschen in Europa ist eh wesendlich größer als was man uns zwangsweise via Brüssel vorspielen will, und uns weismachen will, das nur die Merkels und Montis, Draghis dieser Welt wissen was “Richtig” ist.

    Ich denke eine Regionalisierung verab von nationalen Grenzen würde zu einer positiven Entwicklung beitragen, natürlich nur wenn man die regionalisierung nicht als seperatismus begreift. Kooperation statt Konkurenz!

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