Volk gegen Volk

Der Krieg in Syrien hat sich verselbstständigt

Von Jürgen Todenhöfer

Bo Yaser, "Free Syrian Army fighter prepares to shot RPG on the Syrian Army in Homs". Some rights reserved. Quelle: wikimedia.orgDer syrische Krieg ist von außen nur noch schwer zu durchschauen, weil er ständig sein Gesicht verändert. Vier Phasen gab es bisher.

Die erste von März bis Ende April 2011 ist die Zeit friedlicher Demonstrationen. Ermutigt durch den arabischen Frühling fordern nicht nur Angehörige der vernachlässigten sunnitischen Unterschicht Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Jede ihrer Forderungen ist legitim. Selbst der Ruf nach einem Rücktritt des Präsidenten. Westliche Oppositionelle fordern so etwas auch.

Problematisch sind ihre Steinwürfe und Angriffe auf Polizeistationen. Doch auch das kennt man aus westlichen Demokratien. Gut ausgebildete Polizisten können damit umgehen. Die syrischen Sicherheitskräfte nicht. Als Anfang März zornige Väter gegen die Festnahme ihrer Kinder protestieren, schießt der Geheimdienst. Es gibt viele Tote. Der syrische Präsident trägt hierfür die politische Verantwortung. Er ernennt die Toten zu Märtyrern – das ist mit umfangreichen staatlichen Leistungen verbunden. Er trifft die Eltern und versucht, den Konflikt zu beruhigen. Doch es gibt Kräfte, die keine Beruhigung wollen. Ende April sind auf einmal Waffen und Geld da. Hauptsponsor ist wie in Libyen das kleine Katar, dessen Emir die arabische Revolution als Profilierungschance sieht. Er würde gerne den Platz Saudi-Arabiens einnehmen und wichtigster Verbündeter der USA in der Region werden.

In Phase zwei, von Mai bis August 2011, treten die ersten bewaffneten Kämpfer auf. Darunter Scharfschützen, die merkwürdigerweise sowohl auf Demonstranten als auch auf Sicherheitskräfte schießen. Sie heizen die Lage dramatisch an. Dass es diese Provokateure gibt, ist weitgehend unstreitig; umstritten ist, für wen sie arbeiten. Für inländische oder ausländische Geheimdienste, für Rebellen? Jeder im Land hat seine eigene Theorie. Demonstrieren wird gefährlicher, die Kundgebungen aber werden größer. Auch das Regime organisiert Märsche, an denen bis zu eine Million Menschen teilnehmen, Mitglieder der sunnitischen Mittel- und Oberschicht, Alawiten und Christen. Auch sie fordern Demokratie, aber mit Assad. Zu größeren Gefechten kommt es noch selten. Die Rebellen haben nur leichte Waffen und sind den staatlichen Sicherheitskräften deutlich unterlegen.

In der dritten Phase, von August bis Ende 2011, präsentieren sich die bewaffneten Rebellen als Schutztruppe friedlicher Demonstranten. Doch sie spielen diese Rolle nie wirklich. Wo sie mit Demonstranten auftreten, suchen die bewusst die Konfrontation mit den Sicherheitskräften. Diese schlagen hart zurück. Rebellen, Zivilisten, Soldaten und Polizisten sterben. Gleichzeitig greifen extremistische Rebellen zunehmend alawitische Zivilisten an, die sie pauschal als Vertreter des Regimes betrachten. Alawiten rächen sich an Sunniten. Die Kämpfe werden sektiererisch.

In der vierten Phase, von Anfang 2012 bis heute, verselbständigen sich die bewaffneten Rebellen. Und radikalisieren sich. Zu viele Freunde und Verwandte sind gefallen. Immer mehr Waffen fließen ins Land. Ab März auch schwere Waffen aus Katar und Saudi-Arabien. Die USA, deren Zentralkommando für den Nahen Osten sich in Katar befindet, geben politische Schützenhilfe. Nichts geschieht ohne ihre Billigung. Nach außen bleiben sie im Hintergrund; es ist ein Krieg per Fernbedienung. Es kommt zu schweren Gefechten mit den staatlichen Sicherheitskräften, die sich ebenfalls radikalisiert haben.

Die demokratischen Demonstranten der ersten Tage werden an den Rand gedrängt. Aus den friedlichen Protesten eines Teils der Bevölkerung ist ein erbarmungsloser Bürgerkrieg zwischen Anhängern der Regierung und Anhängern der bewaffneten Opposition geworden. Die Regierungstruppen bombardieren gnadenlos Wohngebiete, in denen sich Rebellen verbergen. Sie töten dabei auch Zivilisten. Die Rebellen exekutieren immer häufiger ‘feindliche’ Zivilisten. Einige arbeiten eng mit Terrorkommandos von al-Qaida zusammen. Beide Seiten haben jedes Maß verloren. Es gibt keine anständigen Kriege.

Der Slogan ‘Assad tötet sein eigenes Volk’ geht an der Realität dieses gegenseitigen Mordens vorbei. Beide Seiten töten das ‘eigene’ Volk. Ein Drittel der Getöteten dürften Sicherheitskräfte sein, ein Drittel Rebellen, ein Drittel Zivilisten. Regierung und Rebellen töten wahrscheinlich gleich viele Zivilisten. Wie in den meisten Bürgerkriegen. Die besondere Tragik dieses Bruderkrieges liegt darin, dass beide Seiten nur Marionetten eines großen, zynischen Machtspiels sind. Die Hauptaufgabe der Muslime des Nahen Ostens scheint darin zu bestehen, sich gegenseitig umzubringen. Wie einst unter Lawrence von Arabien. Divide et impera, teile und herrsche!

Dieses Machtspiel wird auf vier Ebenen ausgetragen.

Auf der ersten Ebene versuchen die USA, Katar und Saudi-Arabien, den Iran-Verbündeten Assad zu stürzen, um dadurch den Einfluss Teherans im Nahen Osten zu schwächen. Iran ist ihnen durch Bushs törichten Irakkrieg zu mächtig geworden.

Auf der zweiten Ebene kämpfen extremistische Sunniten und Al-Qaida-Kämpfer aus aller Welt gegen das ‘ketzerische’ Schiiten- und Alawitentum.

Auf der dritten versuchen die USA in Fortsetzung des Ost-West-Konflikts, Russland aus dem Nahen Osten zu verdrängen. Moskau wehrt sich.

Auf der vierten schließlich ringen Regierung und Opposition unter großen Blutopfern um die Macht in Syrien. Die Kämpfer ahnen nicht, dass sie am Ende erneut die Vormacht anderer anerkennen sollen. Und wieder verraten werden.

Die US-Regierung versucht, diese diabolischen, ineinander verknoteten Stellvertreterkriege durch Desinformation im Stil des Irakkriegs zu vertuschen. Sie erzählt das Märchen vom demokratischen Aufstand eines Volkes, den Amerika unterstützen müsse. Doch um Demokratie geht es den USA nirgendwo in der arabischen Welt. Die USA beabsichtigen nicht, ihre Ölversorgung vom Ergebnis demokratischer Wahlen im Nahen Osten abhängig zu machen. Diese Chaosstrategie ist wie beim Afghanistan- und Irakkrieg in keinem Punkt zu Ende gedacht. Sie wird für den gesamten Nahen Osten verheerende Folgen haben. Und wie ein Bumerang auf uns zurückschlagen.

Nur die USA als Hegemonialmacht des Nahen Ostens könnten den syrischen Knoten lösen. Durch direkte Verhandlungen mit allen Beteiligten. Dass Assad Blut an den Händen hat, kann sie nicht wirklich stören. Auch Obama hat Blut an den Händen. Das Blut Tausender Afghanen und Pakistaner. Und vieler Syrer. Statt die Syrientragödie anzuheizen, sollte Barack Obama vermitteln. Es wäre die erste wirkliche Friedenstat des Friedensnobelpreisträgers.

Der Artikel erschien am 3. September 2012 in der Printausgabe der Süddeutschen Zeitung. Zweitveröffentlicht mit freundlicher Erlaubnis des Autors.

Artikelbild: Bo Yaser, “Free Syrian Army fighter prepares to shot RPG on the Syrian Army in Homs”
Some rights reserved
Quelle: wikimedia.org

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11 Kommentare zu "Volk gegen Volk"

  1. Kai M. sagt:

    “Doch um Demokratie geht es den USA nirgendwo in der arabischen Welt”
    -> so ist es !
    Der Artikel fasst die Situation in Syrien gut zusammen. Ich finde es auch bedenklich dass dieser Krieg nun fast vollständig aus den Mainstream-Medien verschwunden ist…

  2. Reyes Carrillo sagt:

    Lieber Herr Todenhöfer,

    ohne Ihre unermüdlichen Aktivitäten zur Wahrheitsfindung, ohne Ihre berechtigte, riesige Wut und ohne Ihr Trotzdem-nicht-ohnmächtig-Werden angesichts der “westlichen” (NATO-)Propaganda und Desinformationspolitik hätten es die wirklich pazifistischen Kräfte in Deutschland ungleich schwerer. Dass gerade einer wie Sie mit glaubhaft konservativer Vita zu einem Vorkämpfer der konsequenten Anklage dieser allein geostrategisch und ideologisch zu begründenden Massentötungen wurden, ist ungemein wichtig. Jeder Linke und Friedensaktivist erntet ja in der Regel nur abfälligen Spott, wenn von dieser Seite auf dieses Schlachten und seine wahren Interessen gesteuerten Beweggründe hingewiesen wird.
    Andererseits müssen natürlich auch Sie mit diesem Spott leben; immer wieder erbärmlich anzusehen in den verschiedenen Talkshows, zu denen Sie – Gott sei Dank – gelegentlich als Feigenblatt eingeladen werden und es sich um der Sache Willen immer wieder antun, obschon die erwünschte manipulierende Botschaft der Show schon vorher feststeht. Hervorstechend in seiner kaum zu überbietenden Arroganz sei hier Beckmann genannt, der Sie im Bunde mit Kienzle vor einiger Zeit gezielt lächerlich machen wollte. Ausgerechnet dieser pomadige, narzisstisch profilneurotische Beckmann! Da wurde mir richtig schlecht.

    Jedenfalls vielen Dank auch wieder für diese hervorragende Analyse und vielen Dank an alle Blogs und Seiten, die Sie immer wieder verlinken oder Ihnen, wie z.B. die “taz” gelegentlich auch Raum für Ihre Argumentationen bereit stellen.

    Viel Kraft weiterhin!

  3. Eso SS Eos sagt:

    Freilich, wenn es in der SZ erschienen ist, erklärt das die Masse an MSM Lügen, die dieses wohl gutgemeinte Machwerk zu ungeniessbarer “Desinfo light” machen. “Wie alles anfing” erklärt Dorothea Schäfer im aktuellen COMPACT Magazin. Sie stützt sich auf Berichte von Syrern, die die Version Jürgen Todenhöfers als Propaganda”sagen” -masslose Übertreibungen- und Verleumdungen zu Lasten der Regierung Assad blossstellen. Falls es Taktik war, um dieses Thema wahrheitsnäher als sonst in den MSM gestattet in der SZ unterzubringen – für Schafe – ok., aber was um alles in der Welt hat so etwas in den Alternativen Medien zu suchen??? Stellt lieber Artikel von “Hinter der Fichte” oder “Julius Hensel Blog” (nötigenfalls eben gekürzt) zu Syrien ein, statt gemässigter Lügenpropaganda im Verbund mit naiven Schlussfolgerungen – wie der, dass ausgerechnet Obomber vermitteln müsse, in einem von der Kabale angezettelten terroristischen Einfall Al-CIAdas in Syrien – der bei Todenhöfer “Bürgerkrieg” heisst!

  4. Reyes Carrillo sagt:

    @Eso SS Eos

    Schön, dass du weisst, was nun wirklich ist und was “Desinfo light” ist. Ich befürchte nur, dass du es und die, auf die du dich berufst dummerweise auch nicht wissen. Jeder hat nunmal klassischerweise in solchen Konflikten seine eigene Wahrheit.

    Recht aber hast du selbstverständlich darin, dass Todenhöfers in diesem Artikel auffällig hervorgehobenes Assad-Bashing ein Kotau vor den Mainstream-Medien (falls dein Akronym MSM für diesen Begriff stehen sollte) bedeutet. Na und?!? Dafür, dass es in einem Blatt wie der SZ gedruckt wird? Super gemacht, Todenhöfer, kann man da nur sagen. Nur so geht’s! Denn dein Kommentar zeigt halt wieder einmal sehr deutlich, wie das so ist im Dunstkreis von “Fundis” und “Realos”: Der Realo Todenhöfer mit zugegebenermaßen etwas gefönter Rhetorik in einem Massenblatt wie der SZ mit ihrer Verbreitung ist mir da tausendmal lieber als jedes Fundi-Gequatsche mit Wahrheits-Abo in den hinteren Ecken unbekannter Blogs. Wenn überhaupt, dann lesen das doch eh die Immerselben. Dieses sektiererische Aufklären der bereits Aufgeklärten in vielen Blogs nervt mich zunehmend! Mit den dort verbreiteten “Wahrheiten” wird niemand, kein einziger von den “Unaufgeklärten” zum Nachdenken gebracht! Deshalb hervorragende Entscheidung von “le Bohémien”, den gefönten Artikel von Todenhöfer auch hier einzustellen! (Im Übrigen wollen wir Todenhöfers TV-Interview mit Assad nicht ganz vergessen!)

    Recht hast du selbstverständlich ebenso mit den “naiven Schlussfolgerungen” Todenhöfers zum Ende des Artikels. Doch wirklich? Ich denke, der Naive bist eher du. Du glaubst doch wohl hoffentlich nicht im Ernst, dass Todenhöfer tatsächlich solche naiven Hoffnungen an Obama hegt? Im Gegenteil, er weiß natürlich, dass das Gegenteil eintreten wird und genau deshalb der Eindruck der USA auf die “Massen” dann weit verheerender sein wird, wenn man vorher den Christenmenschen Obama so naiv-fromm in sein Abendgebet mit aufgenommen hatte.

    Ich bleibe dabei, dass Todenhöfer einen hervorragenden Job macht – vor allem eben aufgrund seiner Vita und des Unverdächtigtseins links-pazifistischer Genese. Der Mann ist in bürgerlich-konservativen-christlichen Kreisen noch gut beheimatet, was außer ihm wohl kaum jemand so vorweisen kann. Du etwa? Oder deine zitierten Die-ganze-Wahrheit-und-nichts-als-dieWahrheit-Autoren? Ich bleibe deshalb ebenso dabei, dass es jedem auch nur denkbaren Ort virtueller oder gedruckter Art gut ansteht, Todenhöfers Meinung so gut es geht zu vervielfältigen.

  5. blogfighter sagt:

    Auch ich finde die Argumentation Todenhöfers zugleich treffend und taktisch gut – die Begründung für dieses Lob ist bereits geleistet worden.

    Mein Denkanstoß basiert deshalb auf der Frage, ob die Wirkungslosigkeit von pazifistischer Agitation und Propaganda primär sachlich oder nicht doch primär personalpolitisch begründet ist? Oder organisatorisch?

    Wie jeder weiß, sind die Foristen (wie ich) ohnmächtig, die das “wirklich-denken-koennen.de” seit Jahren und Jahrzehnten professionell betreiben, das seinerseits aber darauf reduziert ist, in Wort und Schrift “die Verhältnisse” zu analysieren, deren Beherrscher sich darauf wiederum ein Ei pellen und ihre repressive Toleranz geradezu noch dadurch befestigen, dass sie uns in Zeitungsartikeln, Talkshows oder Foren analytisch auch mal “zu Wort” kommen lassen (wofür ich dankbar bin!)?! Diese Ohnmacht des Intellektuellen ist geradezu sprichwörtlich!

    Das ist der Status quo, der die Erkenntnis zementiert hat, dass so die Verhältnisse nicht zum Tanzen gebracht werden können und damit zu der Frage: wie und womit wir Intellektuelllen rauskommen können aus dem Elfenbeinturm der gewonnenen Erkenntnisse, welcher Voraussetzungen es vielmehr bedarf, auf dass “die Willensbildung des Volkes” (Art. 21 GG) nicht länger mehr (nur) von Profiteuren der Volksverdummung, sondern (auch) von Sozialisten und Pazifisten betrieben werde? Denn darauf kommt es an: nicht auf die Meinungsbildung, sondern auf die “Willensbildung”, auf die Schaffung des “Willens” breiter Bevölkerungskreise (früher mal “Volksfront” genannt) zur Veränderung der “Verhältnisse” in Richtung auf die Potenziale von Art. 14f. GG und 26 GG.

    Diese sozialistisch-pazifistishe Willensbildung ist von isolierten Individuen nicht zu leisten. Sie wird in der Hauptsache selbst durch den Zusammbruch der “Verhältnisse” bewirkt werden, doch sie bedarf dann auch starker Organisationen, die dieses Mal die faschistische “Lösung” der Krise zu verhindern wissen – und verhindern KOENNEN!

    Sieht diese Organisationen und Persönlichkeiten jemand?

  6. Reyes Carrillo sagt:

    Du sprichst natürlich DEN zentralen Punkt an! Ich sehe diese Organisation(en) und Persönlichkeit(en) natürlich auch nicht. Leider. Den lang, so lang geträumte Traum von einer sozialistisch-ökologisch-pazifistischen linken Kraft in Deutschland schien kurz einmal mit dem Einzug der DIE LINKE. in den Bundestag einen Hauch von Wirklichkeit zu umwehen. Für den, der damals näher hinsah, existierte aber selbst dieser leise Hauch nur in der rührenden Fantasie einiger weniger Träumer. Hatten doch die SPD und die GRÜNEN längst ihren Offenbarungseid abgelegt gehabt und gerierten sich als die eigentlichen Sozialistenjäger. Aus deren neoliberaler Sicht natürlich völlig zu Recht. Na ja, und die zersplitterte Linke – innerhalb und außerhalb des/der Parlamente – gibt sich traditionell ja eh immer den Gnadenschuss. Ich gebe aber trotzdem offen zu, damals eine von diesen Träumerinnen gewesen zu sein.

    Zudem traue ich dem “deutschen Wesen” nur unter außergewöhnlichsten Umständen eine Rebellion oder zumindest ein Hinterherlaufen zu, das nicht (!) in irgendeiner Weise chauvinistisch geprägt wäre. Wir hatten einfach keine Französische Revolution. Ringsherum gingen und gehen in den letzten Jahrzehnten Menschen in Europa auf die Straße (die Bankenkrise und vor allem die deutsche Einheit mal herausgenommen, weil völlig anders zu bewerten), während in diesem Land die Paralyse den Normalzustand beschreibt. Freilich ging es in den anderen Ländern auch nicht zwingend um den großen Systemwechsel, ich meine hier auch nur den energetischen Aspekt und vor allem das Selbstverständnis, aufmüpfiger Bürger zu sein. Ja, ja, da gab’s doch auch hier mal die “Montagsdemonstrationen” mit dem geliehenen Namen (die gegen Hartz IV und so…), hm genau, ja, die gab’s…

    Ich bin also sehr, sehr pessimistisch und befürchte, dass wirklich nur der äußere Druck einer immer krasser werdender Verteilungsungerechtigkeit und der irgendwann deutlich spürbare und persönlich erlebbare Demokratieabbau, wenn er im Vorgarten des Bürgers angekommen ist und mit drohender Gebärde neben der Blautanne steht, die deutschen Ä…, äh, Gesäße erheben lassen werden. Wenn vorher tatsächlich noch eine Chance bestehen sollte, dann sehe ich es wie du, und charismatische Personen müssten her. Einen Alexis Tsirpas bräuchten wir, obschon auch ein Solcher keine Chancen bei uns hätte, da er von den hiesigen Mainstreammedien völlig ignoriert werden würde. Überdies muss man ja auch zugeben, dass in DIE LINKE. schon auch ein paar richtige Charismatiker unterwegs – und trotzdem ohne jede echte Chance sind. Und daran ist nicht (nur) die Personalpolitik der DIE LINKE. Schuld.

  7. rugay sagt:

    “Ich bin also sehr, sehr pessimistisch und befürchte, dass wirklich nur der äußere Druck einer immer krasser werdender Verteilungsungerechtigkeit und der irgendwann deutlich spürbare und persönlich erlebbare Demokratieabbau, wenn er im Vorgarten des Bürgers angekommen ist
    und mit drohender Gebärde neben der Blautanne steht, die deutschen Ä…, äh, Gesäße erheben lassen werden.”

    Und das auch erst nachdem “Gartenzwergzerstörende Chaoten” als Vorzeigesäue durchs Dorf getrieben worden sind – irgendwer muß ja “schuld” sein – nur die wirklich Schuldigen nicht – denn mit der Erkenntnis des wahrhaft drahtziehenden Prinzips belastet müßte sich O-Normalverbraucher erstmal selbst an die Nase fassen, wie er denn bloß so dämlich und naiv sein konnte (während die Glotze nonstop lief)? Und das werden uns dann zukünftige Knopp-Klone politisch-korrekt zurechterklären: In unserer schrecklich-schönen Neuen Welt die hinter weichgezeichneter Fassade dann bereits zur Tatsache geworden ist.

    Ganz so wie vor nunmehr gut achzig Jahren….

  8. Reyes Carrillo sagt:

    @rugay

    Oh weh, du bist ja noch pessimistischer als ich! Und ich kann’s prächtig verstehen. Weil du auf eine Weise völlig Recht hast. Diese in Großbritannien ja schon erlebten “Gartenzwergzerstörenden Chaoten” sehe, befürchte ich leider auch. Und es ist schon so, dass das dann so nach hinten losgehen kann oder wahrscheinlich wird, dass die Angst vor den Zerstörern und Plünderern diejenigen vor den laufenden Fernsehern enger denn je mit dem Staat verschweißen wird, der diese Horden erst geboren und dann ausgekotzt hatte.

    Aber: “…, denn mit der Erkenntnis des wahrhaft drahtziehenden Prinzips belastet müßte sich O-Normalverbraucher erstmal selbst an die Nase fassen, wie er denn bloß so dämlich und naiv sein konnte (während die Glotze nonstop lief)?”. Oder nicht doch eher, WEIL die Glotze nonstop lief?

    Und dann habe ich aber doch noch so etwas wie Nachsicht in mir schlummern. Was wollten wir denn bitte den heute 18 – 35jährigen wirklich vorwerfen? Diese Generationen, die mit dem kapitalistischen Prinzip in neoliberaler Ausführung aufgewachsen sind, mit ihm in der Badewanne gewaschen wurden, und wenn sie das Quietscheentchen drückten, neoliberale Phrasen aus ihm herausblubberten? Der Neoliberalismus in ihrer Zuckertüte steckte bei der Einschulung und ihre Lehrer den Rest taten? Da müsste das eigene Elternhaus eine schon gigantische (Gegen)Erziehungsleistung vollbracht haben! Wir dürfen nie vergessen, mit welchen subtilen, raffinierten Mitteln wir im Laufe dreier Jahrzehnte Gehirn gewaschen wurden! Ein in ihrer genialen Dynamik soziopsychologisches Lehrbeispiel in Hinsicht auf die Effektivität von Massenmanipulationen – inkl. erbbarer DNA!

    Und weil du den wunderbaren Begriff “Knopp-Klon” eingeführt hast für alle geneigten Knopp-Fans/Kritikern dies:

    WICHTIG: Allen Guido-Knopp-Kritikern dringendst ans Herz gelegt!

    Unten stehender Link führt zu einer Studie von Oliver Näpel (Uni Münster, 2009), die sich mit dem von Knopp kreierten Stilmittel des historischen “Dokutainments” und Guido Knopp selbst befasst.

    Mit meinen Worten: So wissenschaftlich eiskalt und nüchtern beschaut lagen Knopp, seine Dokutainment-Shows und mittelbar auch das ZDF wohl noch nie auf dem Seziertisch, um fachgerecht mit frisch geschliffenem Besteck filetiert zu werden!

    Für alle Freundinnen und Freunde lustvoller Lektüre aus der Pathologie frech manipulierender TV-Kost ein Muss! Gönnt euch diesen tiefen, schmerzlichen Blick hinter Knopps Dokutainment-Fassade:

    http://www.uni-muenster.de/Geschichte/AAhist-dida/Naepel/download/Knopp.pdf

  9. rugay sagt:

    @Reyes

    Schau ich mir an…;)

    Ich bin nicht wirklich pessimistisch, letztlich bleibt uns doch immer das Beste aus jedem Tag zu machen für uns selbst und für andere.
    Deswegen ist nüchterne und gefasste Beobachtung die Devise um Kopf & Herz möglichst klar und kühl (nicht kalt und hart) zu halten.
    Fatalismus und Paranoia sind mit persönlich zu schlechte Ratgeber da sie mich zwingen mich ständig ängstlich und nervös umzuschauen – anstatt ganz (zumindest so gut wie möglich) bei mir zu bleiben, bei dem was im Moment zählt…ansonsten läuft man doch dem allseits bekannten Spiel mit Namen “Divide & Conquer” direkt in die Arme.

    Gruß

  10. Reyes Carrillo sagt:

    Deinen Worten ist im allerbesten, positiven Sinne nichts hinzuzufügen!

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