2. Ausleuchtung
Wirtschaftsgeschichtlich gibt es eine Entwicklung von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft, die sich später in der Neuzeit und nur in Europa zur Kapitalwirtschaft weiter entwickelt hat. Diese jüngste und besonders dynamische Wirtschaftsform hat sich seit der Industriellen Revolution zunächst durch europäische Entwicklung, dann durch Kolonialismus und europäischen Imperialismus weltweit ausgebreitet, deren historische Erbin im Verlauf zweier Weltkriege die Vereinigten Staaten von Amerika wurden. Heute bestimmt die Kapitalwirtschaft sowohl die Wirtschaftsweise wie die globalen Wirtschaftsbeziehungen der Weltgesellschaften, die bis heute noch von den Vereinigten Staaten von Amerika dominiert wird, während neue Mächte – China, Indien, Brasilien – geschichtlich bereits im Aufstieg begriffen sind.
Allerdings verlief diese Entwicklung von der Natural- zur Geld- und weiter zur Kapital- und Weltwirtschaft nicht linear. Die Naturalwirtschaft entwickelte sich zwar bereits während der Antike zur Geldwirtschaft weiter, d. h. der Austausch (damals von Arbeitsprodukten und Sklaven) vollzog sich durch Verwendung von Edelmetallmünzen, wie sie erstmals vor ca. 2500 Jahren in Kleinasien entstanden (Müller 1977), aber das Ende der römischen Antike führte zu einer langen Rückbildung in die Naturalwirtschaft bzw. einer Reagrarisierung, nunmehr in den feudalen Formen des Lehenswesens, der Fronhofswirtschaft und der Leibeigenschaft. Erst nach einer langen geschichtlichen Epoche des feudalen Lehenswesens bildeten sich dann im Hochmittelalter allmählich wiederum durch Geld vermittelte lokale und auch überlokale Tausch- bzw. Marktprozesse heraus, die ihren Schwerpunkt zunächst in den Stadtwirtschaften hatten, z. B. in der Lombardei und in Süddeutschland sowie in der nordeuropäischen Hanse. In der Figur des Kaufmanns, von der sich die des verpönten Wucherers abspaltete, verkörperte sich diese Entwicklung, z. B. in Jakob Fugger (Motteck 1957; Braudel 1990).
Die Subsistenzwirtschaft ist die historisch älteste Art der Wirtschaft. Sie existiert bis heute, wo immer die Produktivität für kaum mehr als zur Abdeckung der Grundbedürfnisse ausreicht. Auf diesem Niveau kann es in kleinem Maßstab auch Tauschbeziehungen zum gegenseitigen Vorteil geben.
In dem Maße aber, in dem mit der Entwicklung der Produktionstechnik die Produktivität der Arbeit gesteigert und ein naturaler Überschuss bzw. ein Mehrprodukt erzeugt werden konnte, kommen neue Aspekte hinzu: Es wurde möglich, dieses Mehrprodukt zentral anzueignen oder es mit anderen Produzenten auszutauschen.
Die Erweiterung der Tauschoption geht mit der Entfaltung von Märkten einher. Mit dem relativen Rückgang der auf Selbstversorgung und der relativen Ausdehnung der auf den Markt ausgerichteten Produktion, der Tauschproduktion, entfaltete sich auch die horizontale und vertikale Arbeitsteilung (die Teilung in geistige und körperliche Arbeit, z. B. Planung und Ausführung) und zugleich die komplementäre gesellschaftliche Kooperation und Koordination (Mandel 1968). Durch die Verbindung mit der Aneignung des Mehrprodukts verschmolz schließlich die vertikale Arbeitsteilung zur gesellschaftlichen Herrschaft. Ein historisch frühes Beispiel hierfür sind die altorientalischen Despotien (Wittfogel 1977).
Seither sind alle Gesellschaften geschichtet bzw. stratifiziert, sind sie Klassengesellschaften, die durch die Existenz eines Mehrprodukts und durch die spezifische Art und Weise der gesellschaftlichen Produktion, der Aneignung des Mehrprodukts sowie der Kooperation und Koordination ermöglicht und bedingt werden. Die herrschende Klasse der jeweiligen Produktionsweise (z. B. antike Sklavenhaltergesellschaft, Feudalgesellschaft und bürgerliche Gesellschaft) ist aufgrund ihrer gesellschaftlich führenden Position und ihrer Macht dauerhaft in der Lage, sich das gesellschaftliche Mehrprodukt anzueignen, und dieses Privileg, das die gesellschaftliche Ungleichheit und Polarisierung konstituiert, wird von ihr so lange wie möglich gegen jede gesellschaftlich geforderte oder auch geschichtlich andrängende Neuformierung der gesellschaftlichen Praxis verteidigt.
Für die antike wie für die mittelalterliche Naturalwirtschaft war die Geldwirtschaft anfangs eine Randerscheinung, die mit zunehmendem Warentausch aber immer wichtiger und insbesondere in den Städten als Plätzen des Handels bestimmend wurde. Die Geldwirtschaft entstand daher in einem Prozess der Überformung der naturalwirtschaftlichen Produktion durch die Entwicklung einer Zirkulationssphäre für Arbeitsprodukte und Geldmünzen. Ist die Erzeugung für den Markt, also für die Bedürfnisse anderer anfangs unbedeutend, so wird sie im weiteren Verlauf vorherrschend. Die naturalwirtschaftliche gesellschaftliche Arbeit wird auf eine Restgröße, die Eigenarbeit im privaten Haushalt, reduziert. Das Geld wird als Geld, d. h. als Zahlungs- und Zirkulationsmittel verausgabt, oder es wird eben nicht verausgabt, sondern gehortet und zur Wertaufbewahrung bzw. Schatzbildung verwendet. Eine voll entwickelte Marktwirtschaft ist somit zugleich eine Geldwirtschaft, durch die viele Anbieter und viele Nachfrager auf den lokalen und überlokalen Gütermärkten mehr oder weniger gelungen durch Preisbildung koordiniert werden.
Die Weiterentwicklung von der Geld- zur Kapitalwirtschaft entstand durch die Verausgabung von Geld zur Geldvermehrung: Geld wurde zu Geldkapital, weil die Geldbesitzer für ihr akkumuliertes Geld auf einen Zuwachs abzielten. Die Verausgabung von Geld als Kapital bzw. als Investition zielt auf einen erwarteten, aber zunächst ungewiss bleibenden zukünftigen Gewinn, der seinerseits für weitere Investitionen nicht nur verwendet werden konnte, sondern, sobald sich die Kapitalwirtschaft verallgemeinerte und die Geldwirtschaft überlagerte, zu einem großen Teil sogar dafür verwendet werden musste, weil ohne Profit die Existenzfähigkeit der Unternehmen in der von ihnen selbst erzeugten Konkurrenz nicht mehr gesichert war.
Die Maximen der Betreiber der Kapitalwirtschaft heißen daher Kapitalverwertung, die sich an der Profitrate bzw. an der Rentabilität des Kapitals bemisst, und Akkumulation, d. h. eine dafür unvermeidliche Rückverwandlung von Gewinn in die Kapitalvermehrung. Praktisch herrscht ein Verwertungszwang, der ebenso wie die Akkumulation des Kapitals, aber anders als die Arbeit für menschlichen Bedürfnisse, keine quantitative Beschränkung kennt, sondern maßlos ist.
Mit der Kapitalwirtschaft entwickelte sich so eine von den Absichten der handelnden Individuen abgelöste, verselbständigte, objektive und krisenhafte Dynamik, deren innere Wirkzusammenhänge letztlich undurchschaut blieben, und die gesamtwirtschaftlich nicht mehr unter Kontrolle der handelnden Wirtschaftssubjekte stand und steht. Die seit 1825 nachweisbaren konjunkturellen Schwankungen und Krisen sind der unmittelbare Ausdruck dieses Sachverhalts. Da nun die Kapitalverwertung das Wirtschaften bestimmte – und nicht mehr die Bedürfnisse der Menschen -, wurde das wirtschaftliche Geschehen von der Kapitalverwertung abhängig und so das Kapital bzw. der sich selbst verwertende Wert zu einer Art von übergeordnetem, übermächtigem Quasi–Subjekt der Ökonomie und der Gesellschaft, das seine Herrschaft mittels vermeintlicher „Sachzwänge“ durchsetzt.
Voraussetzung für solche Investitionen ist, dass die bereits vermögenden Investoren doppelt freie Arbeiter vorfinden, also solche Menschen, die persönlich frei, aber zugleich darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt auf einem niedrigeren oder höheren Niveau fristen zu können. Menschliche Arbeit nimmt unter diesen Voraussetzungen die gesellschaftliche Form der Lohnarbeit an, und die Anwendung der Arbeitskraft als Gebrauchswert ermöglicht es wie von selbst, dass ein Mehrwert über die zur Erhaltung der Arbeitskraft selbst nötigen Werte hinaus produziert wird, der in der Zirkulation bzw. auf den Märkten als Gewinn in Erscheinung tritt und vom Kapitaleigner kraft seines Eigentumsrechts angeeignet wird (Marx 1993, S. 161 ff.).
Damit hat sich nun auch eine Verkehrung von Mittel und Zweck vollzogen. Die Ökonomie dient in einer Kapitalwirtschaft nicht mehr dem menschlichen Leben, sie ist nicht länger Mittel seiner Reproduktion oder seiner Erhöhung, sondern sie beherrscht und bestimmt die Gesellschaft selbst als abstrakter höherer Zweck, der mit unbegrenzter Gleichgültigkeit, schrankenlos und ohne eigentliche gesellschaftliche Vernunft, die Produktivität und Akkumulation vorantreibt und damit die eigentlichen, menschlichen Lebenszwecke immer wieder annulliert. Unter diesen Bedingungen kann die alte philosophische Frage, was denn ein gutes, ein gelingendes menschliches Leben sei, nur noch im Kontext einer Kritik der Kapitalwirtschaft, also einer „Kritik der Politischen Ökonomie“ gestellt und beantwortet werden.
Ungleiche Vermögensverteilung und Rechtstitel an den Produktionsmitteln, Kapitalinvestition und Lohnarbeit konstituierten auf Grundlage der älteren Geld- bzw. Marktwirtschaft die Kapitalwirtschaft. Sie überwölbte die Marktwirtschaft (den durch Waren und durch Geld vermittelten Warentausch) in Gestalt der Ware – Geld – Beziehungen des Hoch- und des Spätmittelalters, durchdrang sie und nahm sie in sich auf, so wie die Naturalwirtschaft des Frühmittelalters von der Geldwirtschaft überwölbt, durchdrungen und in sich aufgenommen worden war.
Die große wissenschaftliche Zukunftsfrage in unserer Zeit lautet: In welcher höherer Gestalt des Wirtschaftslebens kann und soll die Kapitalwirtschaft aufgehoben werden?
Mich dünkt der Gedankengang doch weniger empirisch, denn idealistisch fundiert zu sein, wird doch der Schlüsselbegriff für das Verständnis von Arbeit nur beiläufig erwähnt, wenn dauernd von “Bedürfnissen”, doch nicht von INTERESSEN die Rede ist.
“Bedürfnisse” hat der Mensch mit aller Kreatur – also Pflanzen und Tieren – gemein, und dass der Auslöser einer Operation oder Handlung ein “Bedürfnis” ist, das erkennt man auch sinnlich an seinem Charakter als Zwangshandlung, als MUSS: “ich muss mal” heißt: wo ist hier die Bedürfnisanstalt. Oder das grundigste aller Grundbedürfnisse: “atmen” – eine eindrucksvolle Zwangshandlung, zu beobachten bei demjenigen, der daran gehindert wird.
Was den Menschen aber vom Tier unterscheidet – jedenfalls von den allermeisten und in jedem Falle qualitativ – ist sein sehr besonderes Geltungsbedürfnis, das er als einziges Individuum weltweit zum Geltungsinteresse weiterentwickeln muss (Zwangshandlung), was bei den meisten Persönlichkeiten dann leider zur Geltungssucht – einer Suchtkrankheit, sprich: Zwangshandlung – gerinnt, statt sich – wie vom Schöpfer vorgesehen: “Krone der Schöpfung” – zum GELTUNGSINTERESSE zu adeln, dessen Befriedigung – im Gegensatz zur Bedüfnisbefriedigung – nicht dem Müssen, sondern dem WOLLEN (Freiheit) und KÖNNEN (Kompetenz) zu verdanken ist, was hinwiederum einzig zu den WIRKLICHEN (dialogbuch.de), den tiefgehenden Zufriedenheits- und Glückserlebnissen führt.
Wer “Arbeit” nur von ihrer Gebrauchswert-Dimension als bedürfnisbefriedigend zweckgerichtete Handlung begreift/darstellt, der hat die tauschwertorientierte Dimension von Arbeit übersehen und deshalb eigentlich – also wirklich – nur über die Tätigkeit eines privat handelnden Hobbygärtners gehandelt, dem es zwar ebenfalls nicht an Interessen, wohl aber an wirtschaftlichen, sprich: Klassen-Interessen gebrechen dürfte?!Oder?
Ich bitte um Kritik.
hm, interessanter Einwand ^^
> Wirtschaftswissenschaft eine Wissenschaft, die – im besten Falle – etwas über
> die Rationalität der Mittel, gar nichts jedoch über die übergeordneten
> gesellschaftlichen Zwecke auszusagen imstande ist.
Der neoklassische Mainstream kann es nicht. Aber wird eine gescheitere Theorie des sozialen Handelns als der homo oeconomicus zugrundegelegt, und kommt noch eine Theorie der Institutionen dazu (-> Politische Ökonomie), dann schon.
Dann treten auch die Interessen der Menschen hervor und der Charakter der Erwerbsarbeit (über die wurde ja gesprochen). Der sieht dann eher wie eine sanfte, moderne Form der Sklaverei aus, mit der das Geld für die Lebens-Mittel verdient wird. Da das Hauptinteresse der, bei der Erwerbsarbeit wie beim Konsum “Individualisierten” darauf gerichtet ist, bleibt es in der Lebenswelt auch so, denn wegen des erwähnten Hauptinteresses haben die meisten drauf vergessen, daß man die Lebenswelt auch gestalten (verändern) könnte.
Sucht entsteht, wenn der Mensch Bedürfnisse nicht erfüllt bekam. Die Geltungssucht sicherlich durch ein Mangel an Liebe gepaart mit dem Drillen auf Gehorsamkeit, will mir scheinen. Ganz schlimm wird es bei solcher Art Aufwachsen, wenn es zu Sozio- oder Psychpathen führt, wie wir sie zu Hauf in der Nazitzeit großgezogen haben. Denn das war eine Zeit, in der Gefühle zu unterdrücken waren und Gehorsamkeit an erster Stelle standen. Arno Gruen hatte viel mit Kindern und Ehefrauen ehemaliger Nazigrößen zu tun gehabt und Einblick geben können. Womit ich sagen will, dass unsere “zivilisierte” Kultur Menschen dazu (ver)führt, süchtig zu werden. Und dann müssen wir uns nicht wundern, dass wir leben, um zu arbeiten und nicht umgekehrt …
Hmmmmmmm………. :-)
wenn ich nun wieder meinen Kommentar posten würde das BWL und VWL nur Glaubensbekenntnisse sind würde ich wieder gebashed nach dem Motto “unn nochemal” ;-)
Die Leute sind indoktriniert das wir im besten aller Systeme leben.
Die meisten können sich nicht mal vorstellen das es auch anders sein kein.
Viele denken auch gar nicht daran was sie alles anrichten, wenn sie gedankenlos konsumieren.
BSP: Eine Diskussion mit einem Kollegen der ein VWL-Dipl. hat.
Auf die Frage von mir, wo denn in den VWL-Rechnungen, die er da so zitierte, z.B. die Ozonsicht ist, oder der Blauwahl, oder die Kiefer, oder das Leid der Hühner in der Massentierhaltung, stotterte und stammelte er nur noch und verstummte dann.
Alles was mit sozialem zu tun hat funktioniert nur so lange, so lange man daran glaubt. BWL und VWL sind soziale und keine empirischen Wissenschaften, nur Glaubensbekenntnisse die sich auch verändern lassen.
Meiner Meinung nach ist z.B. die UDSSR unter anderem daher untergegangen weil keiner mehr an das System glaubte.
Und dies obwohl sie mal funktioniert hatte.
Obiger Kollege konnte auch nichts entgegensetzen als ich sagte das in der UDSSR niemand wirklich in Armut lebte.
Keiner hungerte, alle hatten Wohnungen und Häuser und waren gut gekleidet. OK nicht stylisch aber von Qualität.
Den Einwand das der Staatskapitalismus die o.g. Sachverhalte auch nicht berücksichtigte muss ich gelten lassen. War halt doch auch nur Kapitalismus.
„Festzuhalten bleibt trotz unterschiedlicher Stellung und Interessen der Menschen im wirtschaftlichen Zusammenhang und trotz geschichtlich unterschiedlicher Ausprägungen von Arbeit und Aneignung, Wirtschaftsweise und Lebensform, dass die Wirtschaft im Grunde immer ein Mittel für übergeordnete Zwecke einer nachhaltigen Lebenserhaltung und der historisch-kulturellen Lebensentfaltung der Gesellschaft ist.“
Schön wäre es! Nein, der Mensch (homo sapiens, Gattung) macht irgendetwas. Er will irgendwohin (Interessen) und im Allgemeinen guckt er nicht über den eigenen Tellerrand hinaus. Er sieht ja nur sich. Daher ist die Geschichte des Menschen wie ein Naturprozess zu verstehen. Dieser Prozess hat fast immer ein Ergebnis, das so nicht gewollt war (wenigstens aus der Sicht der wichtigsten Akteure). Gucken wir uns um. Wir brauchen nicht mal die Geschichte zu bemühen: Das System Euro ist ein krisengeschütteltes Geschöpf. Hier haben partikulare (private), mächtige Interessen den Vorrang, nicht das Wöhlergehen der Menschen in den nationalen Ökonomien (Nationalstaaten).
Und wie gesagt. Dieses Denken bezieht auf die westliche Kultur und deren philosophischen Tradition. Nehmen wir hingegen die (Ur)Völker Afrikas, Lateinamerikas oder der Ureinwohner in den nördlichsten Gebieten des Globus zum Vergleich, so war und blieb ihnen diese Form des westlichen Wirtschaftens fremd.