Staatskrise

Griechenland als Spiegel der Zukunft?

Von Sebastian Müller

Das, was in den letzten eineinhalb Jahren in Griechenland geschehen ist, ist mehr als ein drohender finanzieller und sozialer Staatsbankrott, mehr auch als nur ein Phänomen, das allein auf dieses Land zu begrenzen wäre. In den griechischen Städten offenbaren sich gesellschaftliche, politische und ökonomische Risse, die – sicherlich verstärkt wie durch ein Brennglas – ein Ausblick auf unsere europäische, historisch gewachsene Schicksalsgemeinschaft werfen. Wir werden Zeugen der Auswirkungen eines Problems, dessen Ursachen eine politische Klasse ohne Visionen und die einer jungen Generation ohne Zukunftsperspektiven sind.

Diese Symptome einer postpolitischen Gesellschaft – also die Aufstände der griechischen Jugend damals und die Finanzkrise des Staates heute (die wieder von Randalen begleitet ist) – sind aber in allen Mitgliedsstaaten der EU auszumachen, in unterschiedlich starken Ausmaßen und Entwicklungsgraden. Sie sind die Konsequenz einer Europäisierung des reinen Marktes, die Errichtung einer europäischen Governance anstatt eines Government [1]; auf Kosten des nationalstaatlichen Handlungsspielraumes. In Griechenland geht dies einher mit einer Klientelpolitik der Regierungsparteien bzw. korrumpierten politischen Institutionen.

Wenn aufgrund der einseitigen Hegemonie eines marktliberalen Gesellschaftsmodells der demokratisch-partizipatorische Wettstreit um politische Alternativen verloren geht, führt das zu jener Entpolitisierung, die derzeit zu beobachten ist. Hinzu kommt, dass durch den Marktliberalismus und seiner destruktiven Reformen – die sich meist durch eine neoliberale Sparpolitik manifestieren (Einschnitte in den Sozialstaat, öffentlichen Dienst, die Senkung von Löhnen und Ausgaben für Bildung/ Infrastruktur und Konjunkturprogramme) – einer wirtschaftlichen Rezession und einem Auseinanderdriften der Gesellschaft Vorschub geleistet wird.

Und nicht nur das: Wie am Beispiel Griechenland zu erkennen ist, sind vom Niedergang wirtschaftlicher Strukturen und dem investitionsfeindlichen Klima auch die gebildeten bzw. gut ausgebildeten Schichten der jungen Generation betroffen. Die Jugend, selbst aus akademischen Kreisen, findet keine Arbeit. Sie registriert, wie sie zwischen einer korrupten politischen Ordnung und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit erdrückt wird. Eine Generation, bestehend aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und politischen Gruppierungen kriegt die eigene soziale sowie politische Hilfosigkeit und Ohnmacht zu spüren.

Die beiden großen Parteien – die konservative Nea Dimokratia und die sozialdemokratische PASOK – haben sich einander längst bis zur Ununterscheidbarkeit angenähert. Parallelen zur zunehmenden Profillosigkeit des deutschen Parteiensystems drängen sich auf. Beide Parteien haben sich dem neoliberalen Umbau verschrieben. Es geht lediglich um Managament, nicht um das Setzen politischer Agenden. Diese Entwicklung ist ein gesamteuropäisches Phänomen und beschreibt einen Aspekt der Eingangs erwähnten postpolitischen Gesellschaft. Auch in Griechenland wurden die Sozialsysteme seit den 90er Jahren geschleift. Auf diese, verlorene Generation warten nun die Trümmer des Sozialstaates.

Und nun muss sich die griechische Regierung im Zuge ihrer zum Teil selbst verursachten – zum Teil durch die Finanzkrise gewachsene – horrenden Verschuldung dem europäischen Stabilitätspakt verpflichten. Doch damit wird sich die Krise entgegen der uneinsichtigen Instant-Parolen der Leitmedien[2] und EU-Politiker nur noch verschärfen dürfen. In zweierlei Hinsicht:

– Erstens ist der Stabilitätspakt ein rigides Sparprogramm, das der fatalen Logik monetärer und angebotsorientierter Theorie geschuldet ist. Mit anderen Worten, die neoliberalen Reformen werden verschärft werden. Die griechische Regierung hat bereits weitere Einschnitte in das soziale Netz, Privatisierungen, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Kürzung des Weihnachtsgeldes und eine Verkleinerung des öffentlichen Dienstes [3] angekündigt. Das hat u.a. den unheilvollen Nebeneffekt, dass Griechenland und alle anderen Länder zu einer prozyklischen Politik nach unten getrieben werden: Am Ende dieses radikalen Sparkurses dürften durch die Verschärfung der Krise alle europäischen Staaten noch mehr Arbeitslose und mehr Schulden als bei einer gemeinsamen Anstrengung zu einer antizyklischen Politik haben (Siehe auch die Stellungnahme Albrecht Müllers).
Der Sparkurs ist mitnichten eine ökonomische Notwendigkeit, wie es in den meisten Medien einhellig postuliert wird.

– Zweitens werden die geschilderten wirtschaftlichen Auswirkungen Öl im Feuer der sozialen Unruhen und gesellschaftlichen Wut sein. Der ohnehin schon brüchige soziale Frieden wird noch mehr in Schieflage geraten und insbesondere die Entfremdung der jungen Generation mit der Politik weiter forcieren dürfen. Die Unterwerfung unter das Diktat des Stabilitätspaktes wird wohl mittelfristig einen weiteren Raubbau an Zukunfts-, Gestaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten mit sich bringen – und damit die Demokratie weiter schwächen.

Diese Prognose dürfte nicht nur Griechenland betreffen, sondern den EU-Raum insgesamt. Die Krawalle in Frankreich vor drei Jahren haben bereits einen Vorgeschmack hinterlassen und sind, was die massenhafte Frustration und weit verbreitete Hoffnungslosigkeit betrifft, eine Parallele zu Griechenland. Es erklärt sich, warum eine Handvoll Gewaltbereiter einen solchen Flächenbrand auslösen können. In Griechenland und Frankreich haben Jugendliche unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten randaliert; hier Sprößlinge eines Bildungsbürgertums, dort Jungendliche mit schlechter Bildung und Migrationshintergrund aus den Vorstädten. Beide aber sind Teil des selben Symptoms.

Daraus ergibt sich die Frage, ob diese zunehmende Bereitschaft zu Aufständen und Gewalt, gerade weil sie aus einer gewissen sozioökonomischen Logik resultiert, nicht auch einer Legitimität des Widerstands entspricht!? Wenn die Menschen vom Staat nichts mehr zu erwarten haben, immer größere Teile der Bevölkerung von politischer, sozialer und wirtschaftlicher Teilhabe ausgegrenzt werden – also der Gesellschaftsvertrag aufgekündigt wird – welches Recht auf Souveränität ist diesem dann noch gegeben? Gerade diese Frage muss man auch der EU unter dem Diktat des Lissaboner Vertrages stellen.

Das Recht auf Widerstand ist übrigens im Grundgesetz der Bundesrebublik Deutschland verankert. Im Wortlaut des Artikels 20 GG steht:

(1) Die Bundesrepublik  Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Man stelle einmal die ketzerische Frage, ob die gegenwärtige, europäische Politik und ihre Institutionalisierung des Neoliberalismus ein Versuch ist, unsere verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen…

[1] Die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe hebt hervor, dass sich im Unterschied zu “Government”, Governance auf Programme und nicht auf Politik bezieht. Ihre Empfänger sind nicht “das Volk” als kollektives politisches Subjekt, sondern die Bevölkerung, die von globalen Streitpunkten betroffen sein kann.
Das impliziert eine Konzeption, die unter Politik die Lösung technischer Probleme sieht, nicht aber das aktive Engagement von Bürgern, die ihre demokratischen Rechte in einer Konfrontation über widerstreitende hegemoniale Projekte wahrnehmen.
Das Ziel der Governance liegt im Kompromiß oder im rationalen Konsens, nicht in der Hinterfragung der vorherrschenden Hegemonie (Neoliberalismus). Mouffe stellt die berechtigte Frage, ob eine solche Konzeption nach als demokratisch angesehen werden kann.

[2] Die gängige These, die von den meisten Zeitungen und Zeitschriften verbreitet wird, stellt einen simplen Kausalzusammenhang zwischen einem selbstverschuldeten Staatsbankrott (Politik auf “Pump und sozialen Leistungen”) und der alternativlosen Notwendigkeit eines neoliberalen Sparprogrammes; ungerachtet der Tatsache, dass die sozialen Leistungen, wie erwähnt, schon länger zurückgeschraubt wurden.
Ein möglicher Zusammenhang zwischen einer prozyklischen Sparpolitik und einer steigenden Staatsverschuldung (Siehe auch der Beitrag zur Schuldenbremse) wird nicht in Aussicht gestellt, genauso wenig die Rolle der globalen Finanzmärkte und Spekulanten in diesem Fiasko.
Dies hat den faden Beigeschmack, als dass es sich hier um eine weitere Kampagne handelt, die den Europäern die Notwendigkeit weiterer sozialer Entbehrungen einreden soll.

[3] Im Falle Griechenlands ist die Verkleinerung des öffentlichen Dienstes sogar angebracht, da hier im Zuge der erwähnten Klientelpolitik Stellen geschaffen wurden, die völlig überflüssig waren.

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