Die SPD-Klausel

…oder die Mär sozialdemokratischer EU-Politik

Von Sebastian Müller

Seit dem Wahldebakel 2009 wird soziale Gerechtigkeit wieder großgeschrieben in der SPD. Mit Sigmar Gabriel als neuen SPD-Parteivorsitzenden gab es einen Linksschwenk als Konsequenz aus dem schleichenden Niedergang der Partei seit der “Reformpolitik” Gerhard Schröders. Eine interne Diskussion, eine Grundsatzdebatte wolle man führen, aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, so schallte es aus der Parteizentrale; die konsternierten Gesichter alter Sozi-Größen und aufstrebender Jusos sprachen damals Bände. Bis heute bangt die älteste Partei Deutschlands nun um ihren Status als Volkspartei.

Ergo, die SPD möchte wieder sozialdemokratisch sein – zumindest trägt sie das mit neuem Selbstbewusstsein nach außen. Zum Ärgernis des unbelehrbaren, und immer noch einflussreichen rechten Flügels der Partei, dessen Leitungskreis Sigmar Gabriel selbst jedoch auch angehört. Nicht zuletzt deshalb hatte die Sozialdemokratie bisher ein massives Problem ihrer Glaubwürdigkeit, – den neuen sozialen Anstrich mit all dem Gerede um eine zumindest partielle Revision der Agenda 2010- und Hartz IV-Grausamkeiten wollte man der SPD dann doch nicht so ganz abkaufen –  zu Recht, wie sich jetzt zeigt.

Noch am 9. Mai 2009 verfassten SPD und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ein Positionspapier, in dem sie eine Klausel für den sozialen Fortschritt forderten, die sicherstellen sollte, “dass weder wirtschaftliche Grundfreiheiten noch Wettbewerbsregeln Vorrang vor sozialen Grundrechten haben”. Diese Klausel, meist verkürzt soziale Fortschrittsklausel genannt, ist eine Kernforderung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in Europa und war eine Reaktion auf zahlreiche arbeitnehmerfeindliche Urteile des Europäischen Gerichtshofs, in denen dieser soziale Grundrechte wie das Streikrecht oder die Tarifautonomie unter Verweis auf die Freiheit des Marktes eingeschränkt hatte. Folgerichtig wurde die soziale Fortschrittsklausel auch auf EU-Ebene vom Europäischen Gewerkschaftsbund im Rahmen der Diskussion über den Vertrag von Lissabon gefordert. Die Klausel soll soziale Schutz- und Arbeitnehmerrechte im Recht der Europäischen Union gegenüber Dienstleistungsfreiheit und Binnenmarktliberalisierung stärken.

Fakt ist, die derzeitige Interpretation eines Europas des Wettbewerbs lässt die Frage eines sozialen Europas und wie es zu gestalten ist, in den Hintergrund rücken. Der Stellenwert sozialer Rechte ist in einem marktliberalen System, das allgemeinhin auch als liberal-demokratisch bezeichnet wird, – und als ein solches definiert sich die EU letztendlich – nunmal äußerst gering. Vor allem dann, wenn diese Rechte handfesten ökonomischen Interessen im Wege zu stehen scheinen. Die neue soziale Frage wird aber besonders in Zukunft von äußerster Wichtigkeit sein. Die sozialstaatliche Komponente wird sich nicht ausklammern lassen, sondern zwangsläufig eine wesentliche Legitimationsgrundlage der Europäischen Union sein (müssen).

Diese Auffassung scheint die SPD jedoch nur bedingt zu teilen, folgt man der unrühmlichen Rolle, die sie gestern im Bundestag gespielt hat. Den Antrag der Fraktion Die Linke zur Einführung der Sozialen Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk hatte die SPD in namentlicher Abstimmung abgelehnt. Das ist kein Ausrutscher. Schon im Europaparlament hatte vor 3 Jahren eine satte Mehrheit aller SPD-Abgeordneten, darunter auch der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Sozialdemokraten Martin Schulz, gegen Anträge der Fraktion der Vereinten Europäischen Linke (GUE) und Nordische Grüne Linke (NGL) gestimmt, in den sogenannten Andersson-Bericht die Forderung nach einer sozialen Fortschrittsklausel im EU-Primärrecht einzufügen.

Dieses Vorgehen wirft einmal mehr die Frage auf, für welche Europapolitik die SPD überhaupt noch steht. Die Argumente, mit der die SPD-Fraktion ihren Schritt begründete, waren fadenscheinig, wenn nicht gar peinlich. Zwar räumte auch sie “eine Schieflage in der EU zu ungunsten sozialer Rechte ein” und stimmte zu, dass es sehr wohl Argumente für eine soziale Fortschrittsklausel gebe. Sie wies jedoch auf die durch den Vertrag von Lissabon erzielten “Fortschritte” auf dem Weg zu einem sozialeren Europa hin, die sich insbesondere auch in Artikel 9 AEUV manifestierten. Tatsächlich ist der Artikel jedoch nur ein rein rhetorisches Lippenbekenntnis, eine Abwegungskomponente, die kaum einen juristischen Wert besitzt.

Das weiß auch die SPD. Sie sprach sich deshalb dann doch für eine Soziale Fortschrittsklausel, jedoch gegen die im Antrag vorgeschlagene Form aus. Man kann das auch als Herumwinderei, Parteiproporz oder Winkeladvokatie auf Kosten der sozialen Interessen von Millionen EU-Bürgern bezeichnen. Letztendlich wird nicht die Aushebelung sozialer Standards durch den Lissabonvertrag als Problem erkannt, sondern vor allem, dass dazu ein Antrag von der Linkspartei kam. Da musste es anscheinend ein Anliegen der SPD-Fraktion sein, wenigstens daran zu erinnern, dass die Idee einer primärrechtlich verankerten sozialen Fortschrittsklausel von ihr stamme. Eine Farce.

Sicher, der Antrag der Linken und die Abstimmung im Bundestag hatte nur einen symbolischen Wert, schließlich hätte es auch Stimmen aus den anderen Fraktionen bedurft, um eine Mehrheit zu erlangen. Die Ablehnung des Antrags “Gegen Armut und soziale Ausgrenzung” war somit reine Formsache. Doch die Symbolik der SPD ist mit ihrer Ablehnung des Antrags nicht misszuverstehen. Kaum deutlicher hätte die ehemalige Partei der Sozialdemokratie ihren Frieden mit dem Erbe des Blair-Schröderischen Grundsatzes neoliberaler Politik unter Beweis stellen können. Sie profitiert aber davon, dass die Abhandlung von Anträgen im Bundestag kaum öffentliche Resonanz erfährt. Der neue rote Lack des Überbleibsels der Sozialdemokratie dürfte daher noch bis zur nächsten Bundestagswahl halten.

Print Friendly, PDF & Email
Filed in: Politik Tags: , , , , ,

Ähnliche Artikel:

<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Kurt Schumacher</span><br/>Der Gegenspieler Kurt Schumacher
Der Gegenspieler
<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>NetzDG</span><br/>Demokratie im Schnellverfahren NetzDG
Demokratie im Schnellverfahren
<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Sahra Wagenknecht</span><br/>Plötzlich „Rechtspopulistin“ Sahra Wagenknecht
Plötzlich „Rechtspopulistin“

Einen Kommentar hinterlassen

Kommentar abschicken

le-bohemien