"Kein Grüner, sondern ein Roter''

Zum Tod von Hermann Scheer. Ein Nachruf

Von Diether Dehm

Kaum jemanden bewunderte ich unter meinen Kollegen der damaligen SPD-Bundestagsfraktion und bei SPD-Parteivorstandssitzungen derart wie ihn. Wie der die Kriegsbefürworter und Sozialstaatsverschrotter so genüsslich aus der Ruhe bringen konnte. Wir waren beide 1965 in die SPD eingetreten und seit damals “private“ Freunde, also weit über die entpolitisierten Sphären der Parteipolitik hinaus. Gegen jene Kapitalanpassler und Kriecher, die ihn jetzt nachrufend für seinen “aufrechten Gang“ (SPD) loben, hatte er meist nur Spott übrig. Schröder/Fischer waren nicht eben amused, als er den Alternativen Nobelpreis erhielt und als “Hero of the Green Century“ und mit dem Weltsolarpreis ausgezeichnet wurde.

Die Rot-Grün-Perspektivzerstörer hatten nicht eine Sekunde daran gedacht, ihm in der damaligen Bundesregierung Optionen für die solare Wende einzuräumen. Auch von Cem Özdemir ist da nichts bekannt, der sich soeben erdreistet, Hermann “den Grünen als auf ganz besondere Weise verbunden “ zu denunzieren. Dagegen Scheer: “Der Kosovo-Krieg ist ein Kriegsverbrechen“. Auch die Grüne Führung hat nur den Kopf geschüttelt, als Hermann Scheer das Scheitern von Rosa-Rot-Grün in Hessen mit Andrea Ypsilanti und in NRW, für die er auch gegen die Grünen-Führung gestritten hatte, in “weltnetz.tv“ verschwörungstheoretisch mit Heckenschützerei der Fossil-Atom-Lobby um Wolfgang Clement in Verbindung gebracht hatte. Hermann Scheer war kein Grüner, er war eine Roter. Er ist der Vater des Hunderttausend-Dächer Programms – Revolutionär mit Reformkraft, Könner der nächsten Schachzüge mit Endspielperspektive. Er zeigte, dass es auch in der SPD für Charakterstärke und Widerständigkeit Raum zu dehnen gab. Und welch eine wunderbar aristokratische Verachtung musste er gegen die Kapitalanpassler aufbauen, allein hergeleitet aus seiner analytischen Überlegenheit.

Als wir am 17. Juni 1999 in Frankfurt gemeinsam mit Gregor Gysi, Jean Ziegler, Konstantin Wecker gegen die Macht und vor der Deutschen Bank demonstrieren wollten, gab es gehörigen Druck aus der SPD, deren Münteferings und Steinbrücks ihn immer loswerden wollten. Ich bekam Sorge, daß er zur Absage gedrängt werden könnte. Aber er rief laut lachend zurück: “Gegen diese Wadenbeißer bin ich mittlerweile völlig schmerzunempfindlich “. War er es?

Zusammen mit Konstantin Wecker, Heike Hänsel und Ulrich Maurer hatten wir gerade für unser gemeinsames TV-Projekt “Weltnetz“ mit der Bundestagsfraktion der Linken für den 11. Dezember in Stuttgart einen öffentlichen Ratschlag “Kultur in der Demokratiekrise “ geplant. Dies werden wir jetzt ohne ihn durchführen müssen – aber in seinem Gedenken. Denn es liegt nun an unseren Bemühungen, diesen Ausnahmepolitiker – nach einer kurz inszenierten Aufwallung aus Heuchelei und Scheinheiligkeit – vor der Vergessenheit zu bewahren, als einen großen Parlamentarier mit außerparlamentarischem Standbein und als Gegenentwurf zu den Parlamentaristen.

Anfang der 90er, als die PDS das Wort noch verschämt durch “Empire“ oder “imperiale Kräfte“ zu ersetzen suchte, sprach er vom “Imperialismus“: “Die Kolonialzeit ist abgeschlossen und durch einen Energie-Imperialismus abgelöst worden (…) um Energievorhaben und andere Rohstoffe militärisch zu sichern.“ Die Stamokap-Theorie hat er lange bekämpft. Bei den Jusos war er nicht bei uns, den “Stamokaps“. Aber kürzlich feixte er mir zu: “Was Ihr mich nie überzeugen konntet, schafft jetzt die Atomlobby. “ Und er las mir aus seinem Buch vor: “Ölförderländer haben Anteile an Automobilfirmen; Ölmultis an der atomtechnischen Industrie, die wiederum meistens auch die Fertigung von atomaren Brennstoffen kontrolliert; Stromversorgungsunternehmen besitzen Mineralölkonzerne und haben Anteile am Kohlebergbau; Banken haben überall Anteile. “ (Seite 175 “Sonnenstrategie“). Auch das gelegentlich in der PDS in Mode geratene Wort der “progressiven Entstaatlichung“ nötigte ihm nur Verachtung ab: “Die neo-liberale Entstaatlichung schafft den Regierungen die Möglichkeit, Verantwortung kurzfristig abzuwerfen, also nicht mehr zuständig zu sein und die Probleme laufen lassen zu können.“

Die Moleküle in der Kultur von Entzivilisierung waren sein eigentliches Hauptthema. Im Vorwort zu “Gewohnheiten des Herzens“ schrieb er prophetisch bereits 1987: “In den Mittelschichten Nordamerikas und Westeuropas (…) breiten sich entfesselte individuelle Freiheitsvorstellungen wie ein Krebsgeschwür aus. (…) Gefordert ist eine neue soziale Philosophie. (…) Gelingt dies nicht, wird zunehmende Betroffenheit neben zunehmender politischer Hilflosigkeit stehen, und die Zukunft wird für jeden einzelnen barbarisch.“

Quelle: Weltnetz.TV

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