Medienpropaganda

Die Mär vom Wirtschaftswunder

Von Sebastian Müller

Deutschland ist ein Wirtschaftswunderland, denn die Geschichte des deutschen Wirtschaftswunders hat das Nachkriegsdeutschland und seine  Selbstwahrnehmung nachhaltig geprägt. Ergo sind erfolgreiches Wirtschaften und stetiges Wirtschaftswachstum ein Paradigma des deutschen Selbstverständnisses, auch wenn die Zeiten des großen Wachstums längst vorüber sind. So ist es auch nicht verwunderlich, dass gerade in Deutschland die Sehnsucht nach einem neuen Wirtschaftswunder allgegenwertig ist, und deswegen ist dieser Begriff wohl auch das gefühlte Lieblingswort der Deutschen. Gleichzeitig aber verkommt es bei inflationärer Anwendung zum bloßen Euphemismus einer Propagandamaschinerie.

Doch was sagt der Begriff “Wirtschaftswunder” aus, was suggeriert er uns? Oder anders gefragt, ab wann kann man überhaupt von einem Wirtschaftswunder sprechen? Das Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) schreibt über das Wirtschaftswunder: “Bezeichnung für den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg der Wirtschaft in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Wirtschaftswunder war gekennzeichnet z. B. durch hohe Wachstumsraten des realen Sozialprodukts besonders in den 1950er-Jahren, wachsenden materiellen Wohlstand sowie den Abbau der Arbeitslosigkeit trotz Zustroms von Flüchtlingen.” Wikipedia ist folgendes zu entnehmen: “Als Wirtschaftswunder werden der schnelle Wiederaufbau und der lange andauernde ökonomische Aufschwung der Bundesrepublik Deutschland, Österreichs und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu Beginn der 1970er Jahre bezeichnet.

Wir fassen zusammen: Als Wirtschaftswunder wird eine knapp 20 Jahre andauerndern Ära des wirtschaftlichen Wachstums, wachsenden materiellen Wohlstand und steigender Löhne bei einem totalen Rückgang der Arbeitslosigkeit bis zur Vollbeschäftigung bezeichnet. Allerdings war dieses Phänomen kein ausschließlich deutsches, sondern war zwangsläufig fast überall im Nachkriegseuropa zu beobachten.

Nun plötzlich, als postwendende Antwort auf die Finanz- und Wirtschaftskrise, steht uns das nächste Wirtschafts- und Jobwunder bevor – will man großen Zeitungen und Zeitschriften glauben. Man mag es vielleicht noch nicht selbst bemerkt haben, doch Wirtschaftsminister Rainer Brüderle hat es inszeniert, und Magazine wie der Spiegel und der Focus haben das Wunder herbeigeschrieben. Zwar wächst die Wirtschaft, die Arbeitslosenzahl sinkt, die Gewinne der Konzerne steigen, aber – man kann es als von diesen Schlagzeilen isolierte Nachrichten wie Spott vernehmen – die Löhne stagnieren, der Niedriglohnsektor, die Zeitarbeit und damit prekäre Beschäftigungsverhältnisse weiten sich aus. So attestiert die Süddeutsche Zeitung trotz eingeräumten “Jobwunders”: “Die gut bezahlten Jobs in der Industrie schwinden, schlecht bezahlte in der Dienstleistungsbranche nehmen zu. Mehr als zwei Millionen Arbeitnehmer verdienen bereits weniger als sechs Euro brutto die Stunde. Gleichzeitig breitet sich die Leiharbeit in rasendem Tempo aus. Jede dritte neue Stelle, die Unternehmen besetzen wollen, ist für Leiharbeiter gedacht.Eine Studie, die in der FR veröffentlicht wurde, schlägt in die selbe Kerbe. Zudem legt sie offen, dass fast 80 Prozent der Niedriglöhner keine Geringqualifizierten sind, sondern eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss haben.

In einer Zeit, in der eine neue Generation von Ökonomen schon längst über die Grenzen des Wachstums sinnieren, und ganz Europa sparen will, wird dieses “Wirtschaftswunder”, dass uns nun glaubhaft gemacht werden soll, durch eine Ausbeutung einer steigenden Anzahl von Beschäftigten über eine reine Exportausrichtung erkauft. Zumal werden die Arbeitslosenzahlen durch die sogenannten Kurzarbeiter geschönt. Dieses Wachstum steht auf tönernen Füßen und ist keineswegs nachhaltig. Vielmehr muss nicht zuletzt nach den Rot-Grünen Sozial- und Arbeitsmarktreformen (Agenda 2010) von einem Strukturproblem gesprochen werden, dass durch eine extreme soziale und arbeitsrechtliche Schieflage gekennzeichnet ist.

Von einem Wirtschafts- oder Jobwunder kann keine Rede sein. Weder sollte man von einem lang andauernden Aufschwung ausgehen, denn dafür ist Deutschland als Exportnation viel zu sehr von seinen kriselnden europäischen Nachbarn abhängig – rund drei Viertel der deutschen Ausfuhren gehen an europäische Nachbarn. Die radikalen Sparpakete dieser Länder können sehr bald auch den deutschen Export abwürgen. Noch kann von einem Wachstum des materiellen Wohlstandes (nimmt man einmal die Reichen aus) für einen Großteil der Bevölkerung gesprochen werden. Das Gegenteil ist der Fall, die meisten Menschen sind schon seit langem von wirtschaftlichen Wachstum ausgeschlossen, das längst kein Indikator für Wohlstand mehr ist.

Das schöne neue Wirtschaftswunder scheint vielmehr eine reine PR-Aktion zu sein, die ein Strohfeuer der Wirtschaft als Anlass nimmt, um die Menschen vom unaufhaltsamen Abbau der sozialen Sicherungssysteme abzulenken. Der Begriff scheint gezielt mißbraucht zu werden, weil damit etwas anderes als die nackten Tatsachen suggeriert werden kann. Wer aber wirklich von einem modernen Wirtschaftswunder träumt, sollte sich vielleicht mit Berthold Hubers sozialökologischen New Deal befassen.

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2 Kommentare zu "Medienpropaganda"

  1. Staatsbürger sagt:

    I. Ein treffender Artikel – insbesondere gefällt das Aufzeigen einer wirtschaftlich schädlichen sozialen – und gewollten – Umverteilung. Willkommen zur Liberalisierung! Wie die Gruppendynamik unserer Leitmedien immer auf die etablierten Kräfte einschwenkt, einfach zum K..zen. Und vor allem: Warum?

    II. Meiner Meinung nach sagt die Propaganda auch immer etwas über ihre Anwender aus. Wie bei der Finanzmarktkrise (vgl. diesseitigen Artikel über Oskar Lafontaine) glauben die Handelnden wohl auch selbst an ihre Autosuggestionen. Die Verleugnung der deutschen Strukturprobleme auf dem Arbeitsmarkt werden als notwendig und modern betrachtet, die wahrgenommene Wichtigkeit der Profiteure steigt mit den gewollten Ungleichheiten. Das Systemverständnis reicht nicht für interne Dynamiken, wie Angebots- vs- Nachfragepolitik, die Finanzmarktdynamik, und schon gar nicht für Aspekte anderer gesellschaftlicher Teilsysteme wie Lebensstandard, Bildung, Teilhabe, Qualitätsproduktion, Demokratie etc..
    Das Wort “Wirtschaftswunder” passt doch wunderbar zum gesellschaftlichen Rückschritt in das Deutschland vor 1968. Die gleichen reaktionären Kräfte?

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