Der Wandel der SPD

Die „Neue Mitte“ und die Abkehr von der sozioökonomischen Konfliktlinie. Eine kurze Stellungnahme zu der neuen SPD und Argumente gegen die, die noch an die deutsche Sozialdemokratie innerhalb der SPD glauben.

Von Sebastian Müller

Die deutsche Sozialdemokratie hat seit ihrem Bestehen und bis in die jüngere Vergangenheit die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften vertreten und besetzte somit, was die alte Konfliktlinie Arbeit vs. Kapital betrifft, immer klar die Position der Arbeitnehmer, gerade weil sie in der Arbeiterbewegung ihren Ursprung hatte.

Diese Tradition schuf nicht zuletzt die Grundlage für ihren dauerhaften Erfolg, die SPD als älteste Partei Deutschlands war die Vertreterin der sozialen Position:

„Der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital bildete damit die Grundlage für den elektoralen Erfolg der Sozialdemokratie vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis in die frühe Bundesrebublik hinein. Die sozioökonomische Konfliktlinie gehörte mit dem Konflikt zwischen Staat und (katholischer) Kirche zu den beiden langfristig wirkungsmächtigsten Determinanten der Entwicklung des deutschen Parteiensystems.“[1]

Selbst nach dem Godesberger Programm änderte sich diese Position nicht („Die SPD (…) sagte sich vom Marxismus als exklusiver weltanschaulicher Grundlage los, ohne ihre Identität als Teil der Arbeiterbewegung aufzugeben(…).“[2]), vertrat die Partei doch immerhin die Position einer keynesianistischen Wirtschaftspolitik und einer sozialen Marktwirtschaft. Mit anderen Worten:

Der Markt sollte nicht mehr abgeschafft, sondern gesellschaftlich reguliert, die gesellschaftlichen Konflikte zwischen Arbeit und Kapital nicht mehr aufgelöst, sondern geformt und gemindert werden.“[3]

Das Godesberger Programm war in gewisser Weise die Anpassung an die gesellschaftlichen Realitäten, sprich an den Erfolg des marktwirtschaftlichen Modells. Das Wirtschaftswunder und der aufkommende Wohlstand sollten dem deutschen Parteiensystem bis in die 80er Jahre hinein seine Stabilität geben und die Konfliktlinie Arbeit versus Kapital allmählich in den Hintergrund drängen. Zudem profilierte sich die CDU in der Nachkriegszeit ebenfalls als „Sozialstaatspartei“.[4]

Dennoch war noch immer das erklärte Ziel der Sozialdemokratie, die bestehende sozioökonomische Ungleichheit in der Gesellschaft zu nivellieren. Erst gegen Ende der 90er Jahre und mit dem Beginn der Ära Gerhard Schröder und der Politik des “Dritten Weges” wurde diese traditionelle Programmatik deutlich in Frage gestellt:

Bei der Politik des ‘Dritten Weges’ geht es für die Sozialdemokratie um die Abkehr von früheren eigenen Positionen (in der Wirtschaftspolitk wird hier plakativ der Keynesianismus genannt) und um die Aneignung neuer (früher konservativer) Positionen.“[5]

Die SPD wollte damit einerseits einem gesellschaftlichen Wandel Rechnung tragen, andererseits die Position der gesellschaftlichen Mitte von der CDU zurückerobern. Mit dem Modernisierungskurs der SPD und ihrem Schwenk zur Mitte hat die Partei aber mehr und mehr die Positionen aufgegeben bzw. verloren, die sie ursprünglich besetzte.

‘Dritte Weg’-Parteien wollen mit programmatischen Äußerungen nicht primär ihre eigene Anhängerschaft begeistern, sondern wählbar werden für bisher parteiferne Wählerschichten der politischen Mitte.”[6]

Somit hat die Partei seit Mitte der 90er Jahre allmählich ihr Gesicht verändert.

Die Veränderung handfester Politik begann freilich erst mit dem Rücktritt des Parteivorsitzenden und Finanzministers Oskar Lafontaine, was einen schlagartigen Kurswechsel in der Finanzpolitik seit 1999, und in der Arbeits- und Sozialpolitik ab 2002 zur Folge hatte.[7] Durch die Agenda 2010- und Hartz IV.- Reformen wurde dieser Politikwechsel auch für die breiten Massen programmatisch sichtbar.

Die Agenda 2010 war eine Wasserscheide für die SPD. Einesteils läutete sie das Ende der rot-grünen und den Anfang der Großen Koalition ein. Andernteils markierte sie den Höhepunkt der Transformation der SPD, ja des gesamten sozialdemokratischen Modells.“[8]

Fast durch alle politischen Lager hinweg, über die mediale Öffentlichkeit und die Wirtschaftsverbände wurden die „Reformen“ als ein unausweichlicher und alternativloser Schritt, um den Herausforderungen der Globalisierung gerecht zu werden, verteidigt und gelobt. Tatsächlich war das Phänomen des Wandels der Sozialdemokratie hin zu einer „neoliberalen“ Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht auf Deutschland beschränkt, sondern vollzog sich auch in anderen westeuropäischen Ländern:

In Großbritannien hatte Tony Blair schon Jahre vor dem historischen Wahlsieg von New Labour im Mai 1997 dafür gesorgt, dass die Macht der Gewerkschaften nachhaltig begrenzt und der noch aus dem Jahre 1911 stammende Art. IV des Parteienstatuts (gemeinsamer Besitz der Produktionsmittel, Verstaatlichung der Schlüsselindustrien) getilgt wurde.“[9]

Und gerade New Labour war für Gerhard Schröder die Vorlage einer „Modernisierung“ der deutschen Sozialdemokratie:

Entsprechend sollte in Deutschland unter dem Begriff “Neue Mitte” – im Kern – ein zweites Godesberg geschaffen werden – insofern von New Labours “Drittem Weg” Anleihen nehmend.“ [10]

Konsequenz war und ist also nicht nur eine den angeblichen globalen Herausforderungen angepasste und für die Sozialdemokratie unkonventionelle Politik, sondern auch eine langfristige Abkehr von alten traditionellen sozialdemokratischen Ideologien und Prinzipien. Im Grunde findet nichts anderes als eine Revolution innerhalb der Partei und des ihr eigenen Wertesystems statt, die sich programmatisch und inhaltlich völlig neu ausrichtet.

Dieser Prozess des Wandels ist bis heute nicht abgeschlossen und ist ein Grund der gegenwärtigen Identitätskrise der SPD [11], die nun zudem Probleme hat, ihr Wertesystem von dem der CDU für die Wähler deutlich abzugrenzen:

Im Mittelpunkt solcher Wertesysteme steht die Auseinandersetzung mit dem Gerechtigkeitsbegriff. An die Stelle von Ergebnisgerechtigkeit, die traditionell von der Sozialdemokratie mit größtmöglicher Gleichheit aller Bürger übersetzt wurde, tritt Chancengerechtigkeit und diskriminierungsfreier Leistungswettbewerb (“opportunity” bzw. “procedural fairness”) und damit auch das Aktzeptieren von gesellschaftlicher Ungleichheit.“[12]

Nur in diesem Licht sind die erwähnten Reformen der SPD/Grünen zur Jahrtausendwende nachzuvollziehen.

Neben dem bereits aufgeführten Argument der Globalisierung und ihrer Drangsale rechtfertigte die SPD diesen Einschnitt in den Sozialstaat mit dem Begriff der „Eigenverantwortung“:

Ein weiterer zentraler Wert der neuen Sozialdemokratie ist “responibility”, also die Eigenverantwortung der Bürger für ihr Leben, was positiv als Freiheitskategorie interpretiert werden kann, aber auch strategisch verstanden werden kann, wenn es um den Rückbau des Sozialstaates und der Rückführung der mit diesem verbundenen finanziellen Lasten geht (…).“ [13]

Damit hatte die Partei in den Augen vieler ihrer Wähler und Mitglieder nicht nur ihre Grundprinzipien verraten, sondern war mit dieser neuen pragmatischen „sozialdemokratischen Alternative“ auch kaum noch von der CDU zu unterscheiden, der man die „Mitte“ eigentlich streitig machen wollte.

Die neue sozialdemokratische Alternative ist (…) in der Substanz in erster Linie die Hinwendung zu den Grundprinzipien konservativer Politik bzw. zum Status quo. (…) Hinwendung zu den politischen Grundüberzeugungen des politischen Gegners wird als Pragmatismus übersetzt, die Anerkennung des Primats des Marktes für politisches Handeln als Modernisierung“.[14]

Die Hegemonie einer neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsdoktrin quer durch alle zu diesem Zeitpunkt bedeutenden Parteien – CDU, SPD, Grüne und FDP. Doch gerade für die SPD, der ehemaligen Gralshüterin der sozialen Gerechtigkeit, bedeutete der Seitenwechsel hin zu einer marktliberalen Politik den größten Einschnitt.

Neu dabei ist, dass bei Politikentscheidungen im Interessenskonflikt nun auch Sozialdemokraten in der Regel nicht mehr die Vorteile ihrer Stammwählerschaft zu optimieren suchen, sondern der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, so wie diese internationale Märkte definieren, Priorität zuerkennen.“ [15]

Zusammengefasst lässt sich somit sagen, dass, während die SPD ihren Wandel von der Klassen- zur Volkspartei zur Neuen Mitte vollzogen hat, das Bekenntnis zum Erhalt des alten Wohlfahrtsstaates auch bei der CDU – die FDP und die Grünen waren tendenziell jeher Marktliberal – verloren ging.

[1] Nachtwey, Oliver/Spier, Tim: Günstige Gelegenheit? Die sozialen und politischen Entstehungshintergründe der Linkspartei, in: Spier, Tim/Butzlaff, Felix/Micus, Matthias/Walter, Franz (Hg.): Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft?, S. 21. [2] Poguntke, Thomas: Parteiorganisation im Wandel. Gesellschaftliche Verankerung und organisatorische Anpassung im europäischen Vergleich, Wiesbaden 2000, S. 15. [3] Nachtwey, Oliver/Spier, Tim: Günstige Gelegenheit? Die sozialen und politischen Entstehungshintergründe der Linkspartei, in: Spier, Tim/Butzlaff, Felix/Micus, Matthias/Walter, Franz (Hg.): Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft?, S. 37. [4] Edeltraud Roller: Erosion des sozialstaatlichen Konsenses und die Entstehung einer neuen Konfliktlinie in Deutschland?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 29-30/ 2002), S. 8. [5] Dürr, Tobias: Was ist und wem gehört die politische Mitte? Überlegungen zum Parteienstreit um einen strategischen Begriff, S.48. [6] Ebd., S.49. [7] Vgl.: Nachtwey/Spier: Entstehungsgründe der Linkspartei, S. 43. [8] Ebd., S. 49. [9] Mayer, Tilman/Meier-Walser, Reinhard C. (Hg.): Der Kampf um die politische Mitte. Politische Kutur und Parteiensystem seit 1998, München 2002, S.7. [10] Ebd., S. 7. [11]Der Parteienforscher Franz Walter, der sich zur Zeit wohl am Intensivsten mit dem Wandel der Sozialdemokratie in Deutschland beschäftigt, hat sich wie folgt geäußert: “Schröder hat gewiss und auch mit einigem Recht, wie ich meine, viele der alten Illusionen zertrümmert, aber er hat keine neuen, identitätswahrenden Kernbotschaften der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, der gemeinschaftserhaltenden Selbstinitiative, der sozialintegrierten, kooperationsfähigen und -gestützten Individualität vermittelt, also Kernbotschaften für all das, was Sozialdemokraten auch in postindustriegesellschaftlichen Zeiten wichtig bleiben, aber von ihnen neu definiert werden muss.” In: Walter, Franz: Partei ohne Botschaft, Probleme und Chancen der deutschen Sozialdemokratie zwischen neuer Mitte und ergrauender Gesellschaft, in: Frankfurter Rundschau vom 25.9.2000, S.10. [12] Dürr, Tobias: Was ist und wem gehört die politische Mitte? Überlegungen zum Parteienstreit um einen strategischen Begriff, S. 50 [13] Ebnd., S. 50. [14] Ebnd., S. 57. [15] Ebnd., S. 58.

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