Marktkonformität
Heimlich in eine neue Welt

In der Postmoderne wurde ein ganz neues Gesellschaftsmodell erdacht, das so grundlegend anders als das Alte ist, dass es jeden Lebensbereich von Grund auf neu definieren und verändern wird.

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Foto: Alex Eylar / flickr.com / CC BY-NC-SA 2.0

Von Heinz Sauren

Gesellschaften stehen in stetigem Wandel. Der Wandel als Anpassung an Entwicklungen und Veränderungen ist notwendig. Notwendig für eine solche gesellschaftliche Evolution ist aber auch Zeit. Je langsamer eine gesellschaftliche Entwicklung vonstatten geht, desto ausgeglichener ist der Abgleich zwischen der notwendigen Veränderung und der gewünschten Übernahme der Errungenschaften, die eine Gesellschaft im Laufe ihrer Geschichte machte und die sie ausmachen.

Je schneller dagegen eine gesellschaftliche Entwicklung voran getrieben wird, desto stärker ist sie auf die gewünschte Anpassung fokussiert und desto mehr werden bereits gemachte Errungenschaften dem geopfert. Wie wirkungsvoll diese Regel ist, lässt sich leicht daran erkennen, das alle diktatorische Gesellschaftsformen geschichtliche Schnellschüsse waren und sind. Daher bergen schnelle gesellschaftliche Veränderungen große Gefahren, die nur eingegangen werden sollten, wenn es unumgänglich ist und eine große Not, wie zum Beispiel ein Krieg oder ein Genozid dazu zwingen.

In einer solchen Not glaubt sich auch die Bundesregierung und hat im übernationalen Konsens mit anderen Regierungen die Umbildung der Gesellschaft beschlossen. Es wurde ein ganz neues Gesellschaftsmodell erdacht, das so grundlegend anders als das jetzige ist, dass es jeden Lebensbereich von Grund auf neu definieren und verändern wird.

Begründet liegen diese Veränderungen darin, dass nicht Definitionen der Durchführung einer Gesellschaftsordnung, sondern der maßgebliche Faktor einer Gesellschaft neu definiert wurde. Der Mensch selbst.

Abkehr vom Zoon politikon

Seit dem Aufkommen des Humanismus war der Mensch der Dreh- und Angelpunkt jeder Gesellschaftsbeschreibung. Gesellschaftsordnungen dienten je nach politischer Ausrichtung dazu, ihm zu dienen oder ihn zu verwalten.

Nun soll eine abstrakte Größe in das Zentrum aller gesellschaftlichen Bestrebungen rücken und die bestimmende Ordnungsgröße der Gesellschaft werden. Die Wirtschaft. Nicht zufällig erklärte die Bundeskanzlerin öffentlich, dass ihr Ziel die marktkonforme Gesellschaft sei.

Wissend um mögliche Gegen- und Abwehrreaktionen, die eine zwangsläufige Entrechtung des Menschen zur Etablierung der Wirtschaft als neue Ordnungsgröße auslösen kann, wurde dieses politische Großprojekt als diffuse, wenig genaue allgemeine politische Richtungsbestimmung deklariert. Nichts was konkret genug wäre, direkt angegangen werden zu können. Denn der Teufel liegt wie so oft im Detail dieser allgemeinen Durchführungsverordnung und wird dort zumeist auf den ersten Blick nicht offenbar.

In diesen Details wird offensichtlich, dass nicht etwas Bestehendes verändert, sondern etwas völlig neu definiert werden soll. Bereits 1999 erklärte die Bundesregierung das Gender-Mainstreaming zum Gesellschaftsziel. Was auf den ersten Blick die Gleichstellung der Geschlechter zu sein scheint, ist in Wirklichkeit ein großer Schritt in die Richtung der gepriesenen Marktkonformität. Nicht die Möglichkeit der freien Definition des eigenen Geschlechts ist der maßgebliche Punkt des Gender-Mainstreamings, sondern der Umstand, zur Zeit noch freiwillig, im zweiten Schritt dann automatisch, per Geburt kein Geschlecht zu haben.

Da es bisher noch keine juristische definierte Geschlechtslosigkeit gab, ist sie ein undefinierter Rechtsstatus und damit ein rechtsfreier Raum, der in Zukunft definiert werden kann und muss. An keinem anderen Punkt des menschlichen Daseins ließe sich der Status eines Individuum besser bestimmen, als zur Geburt. Alle Rechte und Pflichten die das menschliche Leben innerhalb einer Gesellschaft begleiten, werden zur Geburt übergeben. Wem es möglich ist, diese neu zu definieren, bestimmt den Platz des Menschen in einer zukünftigen Gesellschaft: als Mittelpunkt oder aber ausführendes Objekt.

Edward Snowden enthüllte einen gigantischen Abhörskandal, der weltweite Empörung auslöste. Offensichtlich wird jeder Bürger umfassend belauscht und bespitzelt. Ein Verstoß gegen geltendes Recht und dennoch scheint es rechtlich nicht möglich zu sein, diesen Zustand zu beenden.

Augenscheinlich haben es alle abhörenden Parteien weniger auf die Inhalte dessen abgesehen, was sie da abhören, sondern auf die sogenannten Meta-Daten, also die Nachweise wer mit wem und wann in Verbindung steht. Dies aber sind nicht in erster Linie Informationen privater Natur, sondern zum größten Teil geschäftlicher Art, auch wenn sie private Nutzer betreffen. Es geht darum, welche Teile der Wirtschaft frequentiert werden, welche wirtschaftlichen Vernetzungen die Menschen haben. Es ist die Wirtschaft, die sich in erster Linie selbst analysiert, um ihre Effektivität zu steigern.

Zur Verhinderung von Verbrechen und zum Schutz vor Terror haben sich diese Daten bisher als wenig effektiv bewiesen. Zudem würde der Aufwand in krassem Widerspruch zu ihrem Nutzen stehen. Deutlich wird aber, dass die Interessen der Wirtschaft an diesen Daten vorrangig des Interesses der Bürger am Datenschutz stehen. Alleine deshalb unternimmt keine Regierung den ernsthaften Versuch, die Ausspähung zu unterbinden. Die Wirtschaft als zentrale Ordnungsgröße bestimmt die Schlüsselentscheidungen der zukünftigen Gesellschaft.

TTIP ist ein Vertragswerk, welches in seiner gesamten Ausdehnung den transatlantischen Raum umfassen wird. Was über TTIP bekannt geworden ist, beschränkt sich in der breiten Öffentlichkeit auf wenige Reizthemen wie Clor-Hühnchen, Gen-Mais und der Angleichung industrieller oder arbeitsrechtlicher Standards. Auch hier wird die angestrebte Veränderung nicht direkt offenbar, obwohl der vermeintliche marktwirtschaftliche Nutzen des Vertragswerks nicht verschwiegen, sondern öffentlich kommuniziert wird.

Das Primat der Ökonomie wird zum Paragraphen

Wie immer auch die Verhandlungen ausfallen und welche öffentlich diskutierten Teilbereiche auch daraus gestrichen werden, TTIP wird nur dann umsetzbar sein, wenn das Grundgesetz dazu angepasst wird. Denn die zentralen Punkte der TTIP-Verträge betreffen verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte wie zum Beispiel des Recht auf Eigentum, die Pflicht auf Gemeinwohl von Eigentum oder auch das Streikrecht. Im Ergebnis wird TTIP also zur einer Modifizierung des Grundgesetzes nach wirtschaftlichen Maßgaben führen und somit die Wirtschaft als zentrales, verfassungsrechtliches Anliegen des Staatswesens implementieren.

Es bedarf keines verfassungsrechtlichen Gutachtens um zu wissen, dass Grundrechte nicht inhaltlich miteinander konkurrieren dürfen und können. Somit kann eine Verfassungsänderung nicht als Ziel allein das Primat der Ökonomie haben. Denn wer sollte sich die Mühe machen, das Grundgesetz um Artikel zu erweitern oder zu verändern, wenn diese dann aufgrund der Konkurrenz zu Bürger- und Menschenrechten wirkungslos blieben?

Aus Sicht der Bundesregierung ist hier Eile geboten, da eine Änderung des Grundgesetzes einer 2/3 Mehrheit des Bundestages bedarf. Diese ist durch die GroKo noch drei Jahre gegeben. Eine real existierende Opposition nach der nächsten Bundestagswahl könnte dieses Vorhaben gefährden. Vor diesem Hintergrund ist auch der Elan Sigmar Gabriels zu verstehen, der das Abkommen mit aller Macht gegen den SPD-Parteibeschluss durchsetzen möchte.

Die Spitzen aus Politik und Wirtschaft stehen offen zu ihren Vorhaben. Sie halten die Entrechtung des Individuums zum Zwecke der Optimierung der Wirtschaft für erstrebenswert. Ihnen ist nicht vorzuwerfen Unrecht zu handeln, da sie das “Recht” auf ihrer Seite haben. Sie sind in der komfortablen Situation, dass sie ihre Vorstellungen und Ziele zu Recht und Gesetz machen können. Sie sind die gesetzgebende Gewalt.

Doch die individuellen und freiheitlichen Rechte gehen nicht verloren, weil bestimmte Eliten sie zur Durchsetzung ihrer Ziele beschränkt sehen möchten. Dieser Wunsch ist innerhalb einer Demokratie wie jeder andere Gestaltungswunsch nicht nur legitim, sondern beweist geradezu demokratische Verhältnisse, in denen auch das Falscheste gefordert werden darf.

Diese Rechte werden verloren gehen, weil ein anderes demokratisches Element fehlt, – nämlich eine Kraft, die sie erhalten will. Schuld an der Entrechtung jedes Einzelnen durch eine nun in ihrer Errichtung befindlichen markt- und wirtschaftskonformen Gesellschaftsordnung tragen all jene, die nicht für die Erhaltung der individueller und positiver Freiheitsrechte streiten. Denn wie viele sind naiv genug zu glauben, dass die Freiheit des Marktes ihre persönliche sei?

Der Artikel ist eine gekürzte und leicht geänderte Fassung vom Original auf dem Freigeist Blog.

Foto: Alex Eylar / flickr.com / CC BY-NC-SA 2.0

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2 Kommentare zu "Marktkonformität
Heimlich in eine neue Welt"

  1. fakeraol sagt:

    “Meta-Daten,… geschäftlicher Art, … welche wirtschaftlichen Vernetzungen die Menschen haben …, um ihre Effektivität zu steigern.”
     
    Ziemlicher Unfug. Ob Hartz4’er A und Hartz4’er B mit Gutverdiener C Kontakt haben, spielt für deren wirtschaftliche Bedeutung keine Rolle, da gibts nix zu “optimieren”.
     
    Vielmehr ist durch die weiter forcierte Verschärfung des Widerspruchs “den 99%, die das Zeug produzieren, möglichst immer weniger Lohn zahlen” und “von den 99%, die das Zeug dann kaufen (sollen), trotzdem genauso viel, bzw. sogar mehr Umsatz und Gewinn erwarten wollen” zwangsläufig mit der Verschärfung sozialer Not, und resultierend daraus mit wachsenden Widerstand zu rechnen.
    Die (potentiellen) Kristallisationspunkte dieses Widerstandes und des Bewusstwerdens der ökonomischen Zusammenhänge, also die Menschen und deren Umfeld zu identifizieren, die man mit Konsum-Werbung und der Aufhetzung gegen “den Moslem” als Terrorist, oder aktuell gegen Russland, nicht von den wahren Ursachen dieser Verschärfung ablenken konnte,
    die gilt es vorab zu identifizieren, um bei Aufflammen sozialer Unruhen sofort eingreifen zu können, damit man die aktiven, bewussten Köpfe un”schädlich” machen, und die Unruhen auf den vermeintlichen Verursacher und Feind lenken kann: den Russen/Moslem/Whistleblower/etc.
     
    Es geht darum, die Kristallisationspunkte eines sich aus Unruhen formenden Widerstandes identifizieren und ausschalten zu können, es geht um die Kontrolle und Repression der Aufbegehrenden.

  2. cashca sagt:

    Heimlich in eine neue Welt, so kann man es sehen.

    Wir krempeln solange alles um, bis wir im Chaos, in einem Alptraum , wieder aufwachen, dann vielleicht wieder zur Besinnung kommen.
    Was sich in unserer Reichweite , besonders aber auch in DE und Europa abspielt, wird uns alles wieder rauben, was mal erkämpft wurde.
    Wir haben in allen Bereichen jedes Maß und Ziel verloren.
    Gender, Machtgelüßte, Gier generell, Lüge , Betrug allerorten, das alles kann nur in die Irre führen.
    Das ist alles teilweise so schwachsinnig wie überflüssig.
    Wir verlassen gerade die naturgegebene Ordnung, die Normalität, missachten die Naturgesetze, die biologischen Gesetze, überschreiten die Grenzen der Möglichkeiten auf dieser begrenzten Welt. Wir wollen sogar noch den geschlechtslosen Einheitsmenschen , ja sind wir denn komplett verrückt?
    Das hat mit Fortschritt nichts mehr zu tun, das geht in Richtung “Vermessenheit der menschlichen Gattung.”
    Das gab es immer wieder, darauf folgte auch immer ein gnadenloser Untergang.
    Wir sind gerade dabei, alles zu verspielen., wir pokern mit der Natur, das Spiel werden wir niemals gewinnen.
    Wieder mal regiert nicht die Vernunft, die Besonnenheit. der gesunde Menschenverstand, sondern der Schwachsinn. Man will wieder mal ALLES! Wir wollen wollen wollen, solange bis wir alle irre sind, nicht mehr wissen, sind wir Männchen oder Weibchen, beseelte Wesen oder Roboter.
    Merkt euch ,unsere biologische Veranlagung und Bestimmung auf dieser Welt , unser Platz, ist naturgemäß verankert, die Natur verhandelt nicht.

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