EU-Krise: Forschen und Schweigen

Die europäische Schuldenkrise geht in ihr fünftes Jahr. In der öffentlichen Debatte über die Zukunft Europas ist die deutsche EU-Forschung bisher vor allem durch Schweigen aufgefallen. Warum eigentlich?

cc-by-sa/TPCOM

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Von Torben Fischer

Bereits Ende 2011 stellte der ZEIT-Journalist Thomas Assheuer fest, dass die Beziehung der deutschen Intellektuellen* zur EU einer stiefmütterlichen Liebe gleiche – pflichtbewusst, aber distanziert – und beklagte sinngemäß, dass sich der deutsche EU-Diskurs noch immer in den engen Grenzen zwischen Cost-of-Non-Europe-Erzählung („Ohne die EU wäre alles teurer!“) und nationalromantischer Kritik („Bürokratiemonster Brüssel”) bewege.

Mehr sprechen, mehr streiten, mehr Emphase für die EU – so Assheuers Forderungen an Deutschlands Vordenker. Interessant dabei – Assheuer verwendet im Text reichlich politikwissenschaftliches Vokabular. Da ist die Rede von „Output-Legitimität“, von der „Handlungsschwäche des Nationalstaates“ und schließlich von den „Kontroversen der Europawissenschaft“, die es unter das „Volk“ zu bringen gelte.

Mit dem letzten Punkt legt Assheuer seinen Finger tief in die Wunde der EU-Forschung. Denn das Fach, dem inmitten der Schuldenkrise die Bühne zum öffentlichen Auftritt so perfekt bereitet scheint, fällt bisher vor allem durch eines auf: Schweigen. Die eigene Irrelevanz kommentierten die Politikwissenschaftler Philipp Genschel und Markus Jachtenfuchs vor ein einigen Monaten in einem Beitrag für die Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB) recht lapidar mit der Feststellung, dass „[…] die Politikwissenschaft wie schon bei der Analyse der globalen Finanzkrise nach 2008 nur wenig zur Debatte [über die Schuldenkrise, Anm. d. Verf.] beiträgt“.

Der „normative bias“ der Integrationsforschung

Nun ist nicht jeder Forscher automatisch ein Intellektueller, doch zumindest ein Experte in seinem Forschungsgebiet und damit (theoretisch) mit einer gewissen Deutungshoheit ausgestattet. Die deutsche EU-Integrationsforschung scheint sich aber en gros gegen die Rolle des öffentlichen Intellektuellen entschieden zu haben. Mit Ulrich Beck, Fritz W. Scharpf, Wolfgang Streeck und Werner Weidenfeld sind alle Sozialwissenschaftler, die öffentlichkeitswirksam Stellung zu Europa beziehen, benannt. Und auch die Genannten kommen in den deutschen Leitmedien nur selten zu Wort.

Doch warum sind die EU-Experten in Zeiten des medialen Expertenhypes so schweigsam? Ganz einfach: Die systematische Analyse von Integrationskrisen spielt, trotz der medialen Omnipräsenz des Wortpaares „EU“ und „Krise“, in der Forschung bisher kaum eine Rolle. Bereits 2005 im Zuge des gescheiterten EU-Verfassungsvertrages machten Anne Faber und Wolfgang Wessels darauf aufmerksam, dass die EU-Forschung „keine ausreichenden […] Angebote zur Konzeptionalisierung, Analyse oder Erklärung europapolitischer Krisen“ vorweisen könne.

Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die europäische Integrationsforschung unterliegt weiterhin einem „normativen bias“ (ebd.), d.h. Krisen werden (ex post) als Motoren der Integration angesehen und mehr Integration als (einzige) Lösung für die Überwindung europapolitische Krisen verstanden. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn die europäische Integrationstheorie blendet damit das wesentliche definitorische Merkmal von Krisen aus: die Ungewissheit über ihren Verlauf und ihr Ergebnis.

Und diese Ungewissheit hat zwei Seiten. Denn es geht nicht nur um die Frage, ob die EU stärker integriert aus der Krise hervortritt oder sich als Europa variabler Geometrien und mehrerer Geschwindigkeiten weiter ausdifferenziert, sondern auch und vor allem um die mit dem Krisenergebnis verbundene demokratische und soziale Qualität. Anders ausgedrückt: Die europäische Integrationstheorie sollte sich davon verabschieden „[…] Integration selbst als Wert und ihr Funktionieren als Maßstab wissenschaftlichen Urteils“ (Puntscher Riekmann 1998) zu verstehen und sich stärker auf die Erforschung der konkreten Kooperations-, Koordinations- und Konfliktpotentiale, die sich aus den vollzogenen Integrationsschritten ergeben, konzentrieren.

„Mehr Integration“ allein ist kein Maßstab

Dass Europa im 21. Jahrhundert nur als kollektiver Akteur seine ökonomische und politische Stellung im internationalen Konzert der Mächte wird behaupten können, steht außer Frage. Wie und mit welchen politischen Instrumenten die globale Handlungsfähigkeit  – auf demokratisch legitime und ökonomisch wie ökologisch nachhaltige Weise – sichergestellt werden kann, dass gilt es neu und womöglich kontroverser als bisher zu diskutieren. Doch dafür muss die EU-Forschung, im Sinne einer kritischen Politikwissenschaft, die Bedingungen ihrer eigenen Existenz stärker reflektieren. Und diese ist höchst prekär. Denn für ein Fach, dass eine Vielzahl an Fördermitteln direkt aus den Töpfen der EU erhält, seien „kritische Projekte […] nur sehr schwer – wenn überhaupt – zu positionieren“ (König/Kreisky 2007).

Nimmt man König und Kreisky ernst, dann ist der mainstream der EU-Forschung (derzeit) nicht viel mehr als eine drittmittelgeförderte Reproduktionsmaschinerie europäischer Elitenerzählungen. Doch selbst wenn man weniger hart mit der EU-Forschung ins Gericht geht, kommt man nicht umhin sich in der politikwissenschaftlichen Debatte um die Zukunft der EU mit der TINA-Logik („There Is No Alternative!“) konfrontiert zu sehen. Denn außer dem Mantra von der Stärkung des europäischen Parlaments, der Einführung direktdemokratischer Elemente sowie der Förderung einer europäischen Öffentlichkeit, hat die EU-Forschung derzeit wenig innovative Lösungsansätze parat. Dafür aber eine Reihe an selbstauferlegten Denkverboten.

Die Notwendigkeit Alternativen offen zu diskutieren

Dazu gehört u.a. die Frage, ob und inwieweit eine (geordnete) Desintegration einzelner Krisenstaaten aus der Währungsunion eine politisch denkbare Alternative zur derzeitigen Austeritätspolitik darstellen könnte. Wolfgang Streeck, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPfiG) und sein Vorgänger Fritz W. Scharpf halten eine ernsthafte öffentliche Debatte darüber für dringend geboten, aber am Ende ist es (mal wieder) nur der Philosoph Jürgen Habermas, der sich dieser genuin integrationstheoretischen Frage, wenn auch ohne neue theoretische Impulse, stellt.

Kurzum: Die europäische Integrationstheorie befindet sich derzeit, wie ihr ureigener Untersuchungsgegenstand, in einer mittelschweren Existenz- und Identitätskrise. Worüber man reden kann, darf man nicht schweigen!

Der Artikel ist ein Crosspost vom Blog Opni.eu

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