Eine andere Welt mit welchem Geld?

Im vorangegangenen, von dem Volkswirt Werner Onken verfassten  Artikel Markwirtschaft ohne Kapitalismus wurden Silvio Gesells Geldtheorien vorgstellt und positiv diskutiert. Der marxistische Politikwissenschaftler Elmar Altvater übt jedoch scharfe Kritik an Gesells Denkansätzen und unterstellt ihnen strukturellen Antisemitismus und eine verkürzte Kapitalismuskritik. Da in einem theoretischen Diskurs immer These und Antithese zu hören sein sollten, wird nun in Ergänzung der folgende Aufsatz Altvaters präsentiert.

 

 

Über neoliberale Kritik der Globalisierungskritik, unbelehrte Ignoranz und Gesells Lehre von Freigeld und Freiland

Von Elmar Altvater

Einleitung: Kritik der Kritik der Globalisierungskritik

Sie haben sich inzwischen gesammelt, die Geschichtenerzähler der „Erfolgsstory der Globalisierung“ gegen deren Kritiker, die man in diesen Kreisen gern als „Globalisierungsgegner“ bezeichnet. Die Linienschiffe der Kritiker sind dreifach bestückt. Die leichte Munition aus den vorderen Reihen darf von denen verfeuert werden, die den „Globalisierungsgegnern“ Irrtümer, Fehlinterpretationen, Übertreibungen vorwerfen. Schweres Geschütz feuert aus der zweiten Reihe: Nicht nur Irrtümer, sondern tief sitzende Ängste vor dem frischen Wind der großen weiten Welt, Suche nach verlorenen Sicherheiten in der Vergangenheit und daher reaktionäres Gedankengut werden bei den Hunderttausenden vermutet, die sich im brasilianischen Porto Alegre oder im indischen Mumbai zum „Weltsozialforum“ versammelt haben oder in ATTAC organisiert sind. In der Kritik der Globalisierungskritik sind bekennende Neoliberale und Ignoranten vereint.

In der dritten Reihe kommen jene zum Einsatz, die sich der kompletten De-Konstruktion und De-Legitimierung der Globalisierungskritik verschrieben haben. Insbesondere in Frankreich, inzwischen aber auch hierzulande, werden Globalisierungskritiker mit dem Vorwurf des Antisemitismus überzogen. Zu diesem Zweck wird folgende Argumentationskette konstruiert: Wer die Globalisierung, und dabei insbesondere die globalen Finanzmärkte kritisiert, der hat zumindest implizit die Akteure der Finanzmärkte im Blickfeld. Nun braucht der Interpret den Globalisierungskritikern nur noch zu unterstellen, sie meinten „die Juden“ und flugs gilt ihnen Globalisierungskritik als „implizit“ antisemitisch.

In der „Zeit“ konnte man im Oktober 2003 in einem Bericht über den Attac-Ratschlag von Aachen lesen: „Ein Teil der Attac-Mitglieder mag nicht wahrhaben, dass Globalisierungskritik Gefahr läuft, nicht nur in Nationalismus, sondern auch in Antisemitismus abzugleiten. Wenn über ‚das Finanzkapital’ oder ‚die Wall Street’ geraunt wird, ruft dies das alte Vorurteil vom geldgierigen Juden wach. Etliche Globalisierungskritiker erliegen der Versuchung, für unübersichtliche Entwicklungen Sündenböcke verantwortlich zu machen. Die komplexen Zusammenhänge der Globalisierung reduzieren sie auf ein Komplott dunkler Mächte…Doch wer an Verschwörungen glaubt, denkt auch die Verschwörer implizit mit, Und das nächstliegende Stereotyp dafür sind ‚die Juden’“ (Toralf Staud, Die Zeit, Nr 44/ 2003).

Der Vorwurf, offene Ohren für Verschwörungstheorien zu haben, trifft zwar die globalisierungskritische Bewegung insgesamt nicht. Doch Beifall von rechts gerichteten Neonationalisten und konservativen Ideologen des Nationalstaats gibt es ebenso wie so genannte „Querfrontstrategien“. Nationalistische Gruppen mischen sich unter die Globalisierungskritiker mit der Absicht, ein williges Wirtstier für ihre Ideen und Aktivitäten, die sonst in der Bevölkerung nicht gerade gut ankommen, zu finden. Globalisierungskritik muss daher auf der Höhe der Zeit formuliert sein, damit sich diese unwillkommenen Trittbrettfahrer nicht auf den Zug aufschwingen können. Auch eine seltsame Strömung ganz links außen, die sich als „antideutsch“ bezeichnet, pflegt den Vorwurf des Antisemitismus mit der Begründung, dass Kritik an der Globalisierung ein Zurück zur deutschen Nationalstaatlichkeit oder generell zum Nationalismus nahe lege und Nationalismus bringe nun einmal Antisemitismus hervor. Dieses Verdikt könnte von George Orwell aus den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammen: „…dass der Antisemitismus endgültig geheilt würde, ohne dass die größere Erkrankung des Nationalismus geheilt würde“, so schrieb er, „glaube ich nicht.

Orwell hat sicher Recht, aber sind es die Globalisierungskritiker, die aus dem „post-nationalen Zeitalter“ in die Epoche nationaler und nationalistischer Borniertheit zurück zu fallen drohen? Versuchen wir eine Antwort, indem wir die drei Gattungen von „Kritik der Globalisierungskritik“ zu Wort kommen lassen: diejenigen, die der globalisierungskritischen Bewegung Irrtümer und Fehler nachzuweisen trachten, dann jene, die die Globalisierungskritik für reaktionär halten und schließlich jene, die den Vorwurf des Antisemitismus gegen die globalisierungskritische Bewegung erheben. Dabei ist es unerlässlich, sich mit einer geldtheoretischen Tradition auseinander zu setzen, deren Urheber Silvio Gesell ist. Deren Kritik des Geldes und der Finanzen enthält tatsächlich Elemente, die dem Vorwurf des strukturellen Antisemitismus in der globalisierungskritischen Bewegung Argumente liefern. Dies vor allem deshalb, weil die Geldtheorie in gesellschaftspolitische Vorstellungen eingebettet ist, die sich paradoxerweise als anschlussfähig sowohl an antisemitisches und nationalsozialistisches Gedankengut als auch an einen extrem individualistischen Neoliberalismus erwiesen haben. In Auseinandersetzung mit dieser Strömung rückt die Frage nach dem Geld der modernen kapitalistischen Gesellschaft ins Zentrum. Im Geld scheinen alle ihre Widersprüche auf, und daher ist das Verständnis des Geldes immer und untrennbar auch Bestandteil der Interpretation der Gesellschaft, der Aktionen, die sie strukturieren und mithin auch der Akteure.

Docta ignorantia

Doch zunächst beschäftigen wir uns mit jenen Kritikern, die der Globalisierungskritik Irrtümer vorhalten. Als Anfang der 90er Jahre der kometenhafte Aufstieg des Begriffs ‚Globalisierung’ begann, wurde zunächst mit Entdramatisierung darauf reagiert. Die gegenwärtige Globalisierung sei nichts Neues, erklärte mit seiner gewichtigen Autorität der Internationale Währungsfonds (IMF 1997). Er bemühte renommierte Wirtschaftshistoriker, um zu belegen, dass Welthandel, Auslandsinvestitionen oder Migrationsbewegungen der Menschen schon vor mehr als 100 Jahren so intensiv waren wie sie es heutzutage sind. Allerdings war dieser Vergleich nicht ganz zu Ende gedacht. Denn immerhin folgte der Phase einer Globalisierung vor mehr als 100 Jahren, die traditionell als „Zeitalter des Imperialismus“ bezeichnet wird, eine Periode der „Ent-globalisierung“ mit ultranationalistischen, faschistischen und extrem antisemitischen Bewegungen. Viele Jahrzehnte der Stagnation und Krise und die Machtergreifung von Faschismus und Nationalsozialismus kulminierten in zwei schrecklichen Weltkriegen und dem Holocaust. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Zeit der „Wirtschaftswunder“ und danach führte die Integration zur Weltwirtschaft erneut in einen Zustand, der als Globalisierung bezeichnet wird (vgl. dazu Altvater/ Mahnkopf 2004).

Der Kapitalismus und seine Prinzipien haben sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts weltweit durchgesetzt. Nach dem Ende des realen Sozialismus scheint es keine Alternative zu geben. Das sei auch gut so, behaupten vor allem neoliberale Ökonomen. Denn Globalisierung bedeute Offenheit gegen Abgeschlossenheit, Effizienz steigernde Arbeitsteilung und daher höheren Wohlstand, Zugang von Investoren zu den globalen Kapitalmärkten und daher Chancen der günstigen Finanzierung, mehr kulturellen Austausch als je zuvor in der Menschheitsgeschichte, Intensivierung der Kommunikation durch das Internet. Das ist „ein erfolgreiches System“, das eine „große Sogwirkung“ entfaltet. „Der Prozeß der Globalisierung ist in seinem Kern der Prozeß der weltweiten Imitation des westlichen kapitalistischen Modells. Diese aber ist im Prinzip von der großen Mehrheit der Weltbevölkerung angestrebt, also gewollt“ (Weizsäcker 2003: 811). So der Ökonomen Carl Christian von Weizsäcker im Sonderheft der Zeitschrift „Merkur“, das mit dem Titel „Kapitalismus oder Barbarei“ daher kommt.

Zu diesem selbstbewussten Optimismus passt der kritische Kontrapunkt der so genannten „Antiglobalisierer“ nicht, die ihrem Zweifel an der einzig richtigen Interpretation des Willens der Weltbevölkerung immer zahlreicher Gehör verschaffen. Das ehemalige Mitglied der „fünf Weisen“ in Deutschland, Horst Siebert empört sich folgerichtig in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.8.02) darüber, dass sie ihre Kritik „mit Wut und Haß“, und mit „Militanz“ vortragen. Die ökonomische Theorie biete doch sichere Erkenntnisse über die Vorteile der Globalisierung; die Angst der „Antiglobalisierer“ sei eine Folge der „Ignoranz gegenüber wirtschaftlichen Grundzusammenhängen“.

Die Selbstgewissheit des ökonomischen Mainstream ist allerdings atemberaubend, und Ausdruck einer „unbelehrten Ignoranz“, wie Nikolaus von Kues sagen würde; auf ihn wird zurück zu kommen sein. Die Globalisierung könne später die „Interessen und Machtpositionen der unterschiedlichen Regionen besser ausbalancieren“ und den Wohlstand steigern, wenn die Industrieländer den Protektionismus abbauen und die Entwicklungsländer ihre Märkte weiter öffneten. Vom freien Handel erwartet der Zeit-Journalist Uwe Jean Heuser im bereits erwähnten „Merkur“-Sonderheft (Heuser 2003: 804ff) die Lösung aller Probleme, ohne sich die Frage zu stellen, warum so viele Menschen weltweit gerade im freien Handel das größte Problem erblicken.

Dabei wäre mehr Zurückhaltung seitens der Ökonomen angebracht. Denn warum kann sich Jochen Hörisch im „Merkur“ über die „Wirtschaftsweisen“ lustig machen? Hörisch gibt selbst die Antwort: „Die Wirtschaftweisen – wie die Staranalysten, Manager, Investmentbanker – lesen heute nicht mehr gerne, was sie in den neunziger Jahren prognostiziert hatten. Die standardisierte Rechtfertigung für systematische Fehldiagnosen und –prognosen ist bekannt: eine falsche Wirtschafts- und Finanzpolitik, die sich nicht an die Weisungen der Weisen gehalten habe, sei schuld an den sich nicht erfüllenden positiven Prognosen. Dem ist einfach nicht so. Umgekehrt liegt das Problem darin, dass die Politik die Maximen wirtschaftsweiser Neoliberaler grundsätzlich und weitgehend befolgt hat“ (Hörisch 2003: 893).

Der britische Historiker Eric Hobsbawm bezeichnet die Ökonomen ob ihrer närrischen Haltung spöttisch als Hohepriester der Moderne. Alles was ihrem Dogma widerspricht, erscheine ihnen als Häresie, ja als Blasphemie, und Hobsbawm fügt hinzu: „Denjenigen von uns, die die Jahre der Weltwirtschaftskrise miterlebt haben, fällt es noch ungeheuer schwer zu verstehen, wieso die Orthodoxien der reinen freien Marktwirtschaft, die doch damals so offenkundig in Misskredit geraten waren, in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren wieder einmal über eine weltweite Periode der Depression herrschen konnten, obwohl sie auch diesmal nicht in der Lage waren, eine solche Depression zu verstehen oder in den Griff zu kriegen. Dieses merkwürdige Phänomen sollte uns an einen der wichtigsten Charakterzüge der Geschichte gemahnen…:an das unglaublich kurze Gedächtnis der Wirtschaftstheoretiker und –praktiker“ (Hobsbawm 1995: 136f).

Gegen eine Wirtschaftstheorie, deren Analysen nicht von der Absicht, gesellschaftliche Missstände zu verstehen, sondern von Ideologie geprägt sind, die selbstbezogen und in mathematisierter Sprache nur noch für Eingeweihte schreibt, ist eine globale Gegenbewegung einer „post-autistischen Ökonomie“ entstanden (http://www.paecon.net ). Nikolaus von Kues, der im Jahre 1440 sein Werk „De docta ignorantia“ (die belehrte Unwissenheit) vollendete, würde den ignoranten Ökonomen des neoliberalen mainstream die Gelehrsamkeit wohl absprechen. „Da… unser Verlangen nach Wissen nicht sinnlos ist, so wünschen wir uns unter den angegebenen Umständen ein Wissen um unser Nichtwissen. Gelingt uns die vollständige Erfüllung dieser Absicht, so haben wir die belehrte Unwissenheit erreicht. Auch der Lernbegierigste wird in der Wissenschaft nichts Vollkommeneres erreichen, als im Nichtwissen, das ihm seinsgemäß ist, für belehrt befunden zu werden“ (von Kues 1964: 9).

Die neoliberale Ökonomie ist eine hermetische, autistische Lehre, und den beinharten Ökonomen dieser Lehre fehlt jene Offenheit, die für das Wissen um das Nicht-Wissen unabdingbar ist. Doch tut dies der Dominanz der neoklassich-neoliberalen Theorie keinen Abbruch, wie Markus Balser und Michael Bauchmüller, zwei Wirtschaftsjournalisten der „Süddeutschen Zeitung“, in einem Buch kundtun, in dem sie „10 Irrtümer der Globalisierungsgegner“ zu entlarven und „Ideologie mit Fakten“ zu widerlegen vorgeben. “Die Globalisierung bereichert unser Leben, sie mischt Kulturen, Ideologien und Moden. Wir haben heute viel mehr Möglichkeiten über unser Leben zu bestimmen als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Die Globalisierung… kann das Tor zu einer offenen, freien, wohlhabenderen und demokratischen Welt sein” (Balser/ Bauchmüller 2003: 230).

Globalisierung ist demnach eine Erfolgsstory, zumindest für jene, die das „höchst erfreuliche Anwachsen der eigenen Bankkonten“ haben erleben können, wie der ehemalige Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter im schon genannten „Merkur“-Sonderheft bemerkt, um mit gehöriger Skepsis fortzufahren: „Sosehr es also zutreffen mag, dass jener moralische Kollaps der westlichen Wirtschaftseliten, die in der vergangenen ‚Decade of Greed’ den ‚Shareholder value’ zum entscheidende Maßstab für erfolgreiches unternehmerisches Handeln ausgerufen hatten, einfach nur eine ebenso unzivilisierte wie zynische ‚Haifischmentalität’ ausgedrückt hat, sowenig dürfen wir vergessen, dass eine zunehmende Zahl von Menschen zutiefst ratlos ist, wie wohl die künftige Ordnung der Welt, in der sie zu leben haben, aussehen könnte“ (Reuter 2003: 830).

Diese Nachdenklichkeit liegt den meisten Kritikern der Globalisierungskritiker fern. Sie können ihre Jubelgeschichte der Globalisierung nur belegen, indem sie mit Fakten umgehen wie die Enron- oder Parmalat-Manager samt ihren Beratern, Bankvertretern und Bilanzprüfern mit der Buchführung. So behaupten etwa Balser und Bauchmüller, dass mit der Globalisierung viele neue Arbeitsplätze entstünden. Letzteres wusste schon der Begründer der Freihandelstheorie im frühen 19. Jahrhundert besser, der immer ehrfürchtig zitierte David Ricardo: Freihandel, so seine Schlussfolgerung, schaffe „redundant population“, überflüssige Bevölkerung (Ricardo 1959: 385). Denn durch Spezialisierung steigt die Produktivität der Arbeit, mehr Produkte können mit weniger Arbeit erzeugt werden. Arbeit wird überflüssig und Arbeitende werden arbeitslos. Die Internationale Arbeitsorganisation zählt 750 Millionen Menschen, die entweder ohne Arbeit oder unter- und prekär beschäftigt sind. Dies ist das Reservoir, aus dem sich der informelle Sektor rekrutiert. In den Industrieländern sind bis zu 30 Prozent der Erwerbsbevölkerung prekär beschäftigt , in Lateinamerika etwa 60 Prozent. In Afrika südlich der Sahara gibt es formelle, vertraglich gesicherte, angemessen bezahlte, sozial geschützte Arbeitsverhältnisse so gut wie überhaupt nicht (Altvater/ Mahnkopf 2002: 81ff.).

Allerdings steigt das Güterangebot für die kaufkräftigen Konsumenten in den Industrieländern, und daher deren Wohlstand. Doch davon haben die 613 Millionen Menschen wenig, die nach Angaben der UNO nur etwa einen US-Dollar pro Tag ausgeben können. Sie können die Früchte in Nachbars Garten nur neidvoll durch den Zaun betrachten. Daher ist es mindestens überraschend, wenn die beiden Autoren behaupten, die Armut in der Welt sei zurück gegangen. Die Statistiken der Weltbank und des Entwicklungsprogramms der UNO beunruhigen mit exakt der gegenteiligen Aussage. Die These, dass die Finanzkrisen des vergangenen Jahrzehnts große Teile der Bevölkerung in Asien und Lateinamerika in Armut gestürzt und hohe Verluste des Sozialprodukts gebracht haben, sei völlig übertrieben, werfen die Wirtschaftsjournalisten den Globalisierungskritikern vor.

Offenbar nehmen die Autoren auch die selbstkritischen Analysen des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank nicht zur Kenntnis. In Thailand, Südkorea, in Argentinien oder Mexiko sind 20% und mehr des Bruttoinlandsprodukts verpulvert worden, um die Finanz-Institutionen zu retten und den Währungsverfall zu stoppen (de Luna-Martínez 2002). Dafür mussten vor allem die ärmeren Schichten der Bevölkerung bluten, denn diese Mittel fehlen für Gesundheit, Bildung und andere sozial benötigte Ausgaben, und anders als die reicheren Schichten können sie sich in der Regel die verknappten öffentlichen Dienstleistungen nicht mit Geld auf dem Markt kaufen. In den 90er Jahren haben die internationalen Finanz-Institutionen und bilaterale Geber 284 Mrd US-Dollar aufgebracht, um verschuldete Länder nicht vollends Pleite gehen zu lassen – zur Erleichterung von international operierenden Banken und Fonds, die ihre Anlagen und Kredite nicht verlustreich abschreiben mussten. Die Finanzkrisen des vergangenen Jahrzehnts sind so etwas wie ein Waterloo der Globalisierung.

Eine Steuer auf Devisentransaktionen, um die Spekulation einzudämmen und den Krisen möglicherweise vorzubeugen, hingegen sei „eine Attacke auf den globalen Wohlstand“, so Balser und Bauchmüller. Auch der Umwelt gehe es in Zeiten der Globalisierung besser, schreiben die beiden Verfechter der Globalisierung, die sie auf der Anklagebank vor dem Richter Gnadenlos der Globalisierungsgegner wähnen. In Amazonien blühe der Ökotourismus und indem man in Namibia Wildtiere in Privateigentum überführe, fördere man ihren Schutz. Außerdem habe die Globalisierung die Ausbreitung umweltschonender Techniken zur Folge. Auch die Kultur werde durch Globalisierung keineswegs auf Cola und Hamburger reduziert. Nein, ihre Vielfalt bleibe garantiert. Selbst Kinderarbeit sei nicht nur von Übel, erzwungen durch die Konkurrenz auf umkämpften Weltmärkten. „Die Gefahr ist groß, dass Klauseln (zum Verbot von Kinderarbeit – EA) die Entwicklungsländer wieder von den internationalen Märkten ausschließen. Oder dass Gewerkschaften oder Wirtschaftsverbände in den Industrieländern sie missbrauchen, um Konkurrenten loszuwerden – zum Schaden der Entwicklungsländer“ (Balser/ Bauchmüller 2003: 152).

Globalisierung ist also eine segensreiche Entwicklung, und wer sich dagegen stemmt, ist entweder ideologisch borniert und in Irrtümern befangen. Die Frage nach dem Geld in einer alternativen Welt stellt sich gar nicht, weil diese weder sinnvoll, noch wünschenswert, noch möglich ist. Wer diese dennoch aufwirft, blickt zurück. Nun kommen die Schützen aus der zweiten Reihe zum Einsatz, jene, die Globalisierungskritik als reaktionär deklarieren.

Globalisierungskritik – eine „reaktionäre“ Donquixoterie?

Daher kommt dem bereits zitierten Uwe Jean Heuser Cervantes’ Don Quixote in den Sinn. Er meint, dass die globalisierungskritische Bewegung „sich immer noch in der Rolle des Don Quichote (wähne)“ (803). Daran schließt er die tiefe Erkenntnis an, dass „die Zeiten des Kampfes gegen Windmühlen vorbei (seien).“ Heuser und andere wähnen sich auf der einzig richtigen Seite, auf der des Fortschritts. Das erspart offenbar einige Mühsal, sowohl beim Faktenstudium als auch bei der Auseinandersetzung mit den Theorien der von ihnen gescholtenen Globalisierungskritiker. Denn gibt es überhaupt eine Alternative zur Globalisierung? Die „deutsche Zeitschrift für europäische Kultur“, der „Merkur“, hat die Antwort im Titel des Sonderheftes parat. Die Alternative des 21. Jahrhunderts lautet: „Kapitalismus oder Barbarei“. Das ist nichts als eine Paraphrase auf das von Francis Fukuyama vor mehr als einem Jahrzehnt erklärte „Ende der Geschichte“, weil es jenseits der kapitalistischen Marktwirtschaft keine Zukunft geben könne. Lautet die Parole des internationalen Netzwerks Attac: „Eine andere Welt ist möglich“, so behaupten Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel die andere Welt sei die Barbarei. Die „Sozialisten des Herzens“ von Attac, wie die Herausgeber spotten, finden sich auf der Seite der Barbarei wieder. Wenn es keine Alternativen gibt, prallt jede Kritik an der Faktizität der gesellschaftlichen Sachzwänge ab. Von den Merkur-Herausgebern werden die Globalisierungskritiker folglich nicht nur als irrende „Ideologen“ wie von Balser und Bauchmüller ins Abseits gestellt, sondern als „Reaktionäre“ verurteilt.

Mit Infamie zitieren Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel die Kritik von Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ an den vorkapitalistischen „Reaktionären“ mit deren „altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen“ aus dem Jahre 1848, um im Jahre 2003 – nach einem Zeitsprung, der den beiden Autoren das Bewusstsein geraubt haben muss – dieses Verdikt des Reaktionären auf die Kritiker des inzwischen globalen Kapitalismus zu münzen (im mit Initialen gezeichneten Editorial, ohne Paginierung). Auch Heuser stößt ins gleiche Horn. „Seit Karl Marx hatten sich die Kritiker des Kapitalismus progressiv gegeben, nun nicht mehr: Während der sogenannte Neoliberalismus die Welt aus den Angeln zu heben schien, wollten die Gegner zunächst einmal das Alte bewahren: eine stabile Arbeitswelt, Handelsgrenzen wenn nötig, den Sozialstaat, die Einkommensverteilung…“ (Heuser 2003: 803).

Die genannten Merkur-Autoren tun ganz so, als ob sich in Attac feudale Junker, korrupte Höflinge, erzkonservative Klerikale oder rechts-tumbe Journalisten gegen Moderne und Fortschritt versammelten. In einem Beitrag des gleichen Heftes schreibt denn auch Helmut Dubiel, Bohrer und Scheel implizit zurecht weisend: „In der Tat weist der gegenwärtige Kapitalismus hinsichtlich seiner umwälzenden Modernisierungsgewalt gewisse Familienähnlichkeiten mit dem des 19. Jahrhunderts auf….. Gleichwohl würden sich bei einem systematischen Vergleich beider kapitalistischer Epochen mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten zeigen. Völlig unterschiedlich sind nicht nur die technologischen, die sozialstrukturellen, die sozialgeographischen, die demographischen und nicht zuletzt die zivilisatorischen Randbedingungen“ (Dubiel 2003: 863).

Ein forsches Urteil wie das der Herausgeber hätte sich also nicht nur aus Gründen der intellektuellen Etikette, sondern aus methodischen Erwägungen strikt verboten. Im übrigen hätten die Merkur-Herausgeber gut daran getan, im zitierten „Kommunistischen Manifest“ von Marx und Engels weiter zu lesen. Denn nach der Begeisterung über die Fortschritte der Bourgeosie folgt eine nüchterne Analyse der kapitalistischen Krisentendenzen, eine Auseinandersetzung mit den Strömungen des Sozialismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts und ein Übergangsprogramm zur Überwindung der Herrschaft der Bourgeoisie, um mit dem Aufruf zu enden: „…Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ (Marx/ Engels MEW Bd. 4: 493). In diesen Ruf werden Bohrer und Scheel kaum einstimmen mögen; das wäre ihnen zu viel des Fortschritts.

Hat sich somit die marktverherrlichende Kritik der Globalisierungskritik erledigt? Wohl kaum, denn tatsächlich gibt es theoretische und politische Fallgruben, vor denen sich die globalisierungskritische Bewegung in Acht nehmen muss. Ihre theoretischen Annahmen und empirischen Analysen sind ja kein Dogma, und die enorme Vielfalt der theoretischen Ansätze und politischen Kulturen, auch das Wissen um das Nicht-Wissen, sind ihre Stärke. Wenn den Globalisierungskritikern eine reaktionäre Haltung unterstellt wird, dann ist dies zwar absurd und nicht schwer zu widerlegen. Dennoch muss man sich fragen, wieso „kluge Leute“ zu einem solchen Urteil gelangen können. Liegt es an der Kritiker Wahrnehmung, oder haben die globalisierungskritische Bewegung oder einzelne ihrer Repräsentanten Anlass für den abstrusen Vorwurf geboten? Wo also liegt der Fehler, beim Sender oder beim Empfänger oder bei der Transmission der Botschaft? In diesem Fall scheint es so, als ob eine gewisse interessierte Gedankenlosigkeit oder eine ins Absurde überschießende Polemik der Grund dafür sind. Doch es soll hier nicht gemutmaßt werden. Die Merkur-Herausgeber müssen sich selbst fragen, welcher Teufel sie bei ihrem Verdikt geritten haben mag.

Kritik der Globalisierung von rechts: Die Gesellianer

Globalisierungskritik wird am meisten desavouiert, ja delegitimiert, wenn sie sich mit nationalistischen Gruppen in der Ecke des Antisemitismus wiederfindet. Dies passiert nicht nur im Zusammenhang mit Äußerungen über Israels Politik. Er wird sehr viel prinzipieller begründet, mit der Nähe einer kritischen Analyse der Wirkungsweise von Finanzmärkten zu traditionell antisemitischen Positionen. Globalisierungskritik gehöre zu einer Art „politischer Ökonomie des Antisemitismus“ (Kurz 2003), weil sie im Fetischismus von Ware und Geld befangen sei und es nicht schaffe, diesen kritisch aufzulösen. Grundsätzlich hat Moishe Postone diesen Zusammenhang konstruiert; damit setzt sich in diesem Reader Alexander Gallas auseinander. Der Verdinglichung, die Georg Lukacs als kennzeichnend für das bürgerliche Bewusstsein und daher auch als Hindernis bei der Bildung des Klassenbewusstseins von Arbeitern feststellte (Lukács 1923: 94ff.), entspricht eine Personifizierung. Die Krisen können angesichts der systematisierenden Durchrationalisierung moderner Gesellschaften nur als irrational, als unbegreiflich, als Folge von vermeidbaren Fehlern verstanden werden. Das Ganze ist angesichts der Rationalisierung aller Teilsysteme nicht mehr zu erkennen: „Durch die Spezialisierung der Leistung geht jedes Bild des Ganzen verloren“ (Lukács 1923: 115).

Doch das Ganze macht sich als Krise doch bemerkbar, und wenn es in kritischer Analyse nicht begriffen wird, beginnt die Suche nach plausiblen Interpretationen, für die sich eine ganze Zunft von sogenannten „Analysten“ bereit hält, und nach geeigneten „Sündenböcken“, die sich nicht wehren können und denen einfache Geister die Verantwortung für die unbegriffene Krise zutrauen. Die Sündenböcke hätten inzwischen wieder ein jüdisches Antlitz, argumentierte in dem zitierten Zeit-Artikel Toralf Staud und vermutete die einfachen Geister vor allem in der globalisierungskritischen Bewegung. Dass simple Verschwörungstheorien Verbreitung finden können, kann nicht bestritten werden. Die Nazis beispielsweise geißelten das „raffende“ und akzeptierten das „schaffende“ Kapital. Zu bestreiten ist aber, dass diese Interpretationsfigur in der modernen globalisierungskritischen Bewegung eine wichtige Rolle spielt. Eine Tendenz allerdings, die in der globalisierungskritischen Bewegung auf gewisse Sympathie stößt, hat in ihrer Geschichte eine Nähe zum Nationalsozialismus nicht immer vermieden. Es geht um die „Gesellianer“, so genannt, weil sich die Strömung vor allem auf die „Freiwirtschaftstheorie“ von Silvio Gesell bezieht (Gesell 1920). Auch heute, viele Jahrzehnte nach der Ausarbeitung dieser Theorie ist die Frage zu stellen, ob deren Kritik an Geldwirtschaft und Finanzmärkten strukturell oder implizit antisemitisch ist oder in diese Richtung instrumentalisiert werden kann.

Geld und Zinsen

Spätestens seit Aristoteles (384-322 v.u.Z.) beschäftigen sich die besten Geister der menschlichen Kulturen mit der Frage des Geldes und der Zinsen, also mit dem Zuwachs des Geldes. Aristoteles schreibt ja deutlich genug: Geld wirft keine Jungen. Und wenn Zinsen trotzdem gezahlt werden, dann stammen diese eher aus dem Arbeitsfleiß als aus dem Gelde, wie Aristoteles hinzufügt (Aristoteles 1969). Wie kann aber etwas, das durch Arbeit erzeugt worden ist, dem Geld zuwachsen? Die Frage ist nur zu beantworten, wenn der gesellschaftliche Kontext in Rechnung gestellt wird, in dem gearbeitet wird und die Produkte der Arbeit gegen Geld getauscht werden. Der Zins erklärt sich also nicht aus dem Geld. Es müssen vielmehr die sozialen Formen der Überschussproduktion berücksichtigt werden, wenn man Geld und Zins verstehen will.

Aristoteles hatte wohl begriffen, dass Geld eine soziale Beziehung konstituiert, und zwar eine zwischen Gläubigern und Schuldnern. Da Geldvermögen gemäß Zinseszins geometrisch wachsen, müssen dies logischerweise auch die Schulden. So kommt es zur Gesellschaftsspaltung in die, die haben, und die anderen, die zahlen. Dies kann zu einem regelrechten Bürgerkrieg führen. Von Solon (630-560 A.C.) sagt Aristoteles (1989), dass seine größte Leistung nicht die Erarbeitung einer Verfassung für Athen gewesen ist, sondern die Entschuldung von Bürgern. Damit ist ein Bürgerkrieg verhindert worden. Aristoteles trat daher konsequent für ein Zinsverbot ein, das später von der christlichen Kirche, aber auch vom Islam übernommen wurde. Das islamische Zinsverbot gilt formell noch heute, das „kanonische Zinsverbot“ ist im 16. Jahrhundert nach und nach gefallen. Aristoteles hatte es vergleichsweise leicht. Denn im alten Griechenland waren die sozialen Formen einer kapitalistischen Produktionsweise noch nicht ausgebildet.

Das Zinsverbot war folgenreich. Zinsen zu nehmen, war Christen nicht gestattet. Erst Machiavelli ebenso wie Calvin und andere Aufklärer des 16. Jahrhunderts rechtfertigen Handelsgewinne und Zinsen. Wer aber unter dem kanonischen Zinsverbot im Mittelalter Geldgeschäfte machen wollte, musste entweder „Höllenqualen“ erleiden (Le Goff 1988) oder er durfte kein Christ sein. Es waren daher vor allem Juden, die die Geldgeschäfte übernommen haben, die für die Ökonomie der Christen notwendig waren. Erst als mit der Ausdehnung des Handels auch Geldgeschäfte üblich wurden und ein Markt entstand, bildeten sich, wie Marx später ausführt, Marktzinssätze, die sehr viel niedriger lagen, als die Wucherzinsen zuvor (dazu vgl. Altvater/ Mahnkopf 2002: 168ff).

Zinsen werden für geliehenes Geld gezahlt. Sie wachsen dem Leihkapital sozusagen zu. An dieser Stelle ergeben sich sogleich zwei Probleme, die in der Geldauffassung der Gesellianer eine wichtige Rolle spielen. Das erste ist das geometrische Wachstum der Geldsumme mit den Zinseszinsen. Dies widerspricht natürlichen Wachstumsprozessen, die immer irgendwann (nämlich im „Erwachsensein“) zum Stillstand kommen. Der Zuwachs des Geldes, sprich Zinsen und Zinseszinsen, sind also unnatürlich und sollten in einer „natürlichen Wirtschaftsordnung“ – dem Gesell’schen Projekt – keinen Platz haben. Das zweite Problem besteht darin, dass nicht jedes Geld geliehen und verliehen wird, also zinsträchtig als Kredit fungiert. Geld dient auch als Tausch- und Zirkulationsmittel. Diese Unterscheidung wirft so manches Rätsel auf, Geld wird sogar zu einem „Mysterium“, dessen Geheimnisse aufzudecken immer wieder von neuem versucht wird. Dieter Suhr versucht die Lösung, indem er Geld mit Nennwert und mit Mehrwert unterscheidet. Das hängt davon ab, für welchen Zweck das Geld vom Geldbesitzer verwandet wird. Nutzt er es als Kaufmittel für Waren, dann sind „1.000 DM genau 1.000 DM. Der Wert meines täglichen Geldes ist gleich seinem Nennwert…. Habe ich jedoch Geld übrig,… dann kann ich es anlegen. Angelegtes Geld hat für mich nicht nur seinen Nennwert. Vielmehr bekomme ich nach Ablauf der Anlegefrist den Nennwert zurück plus Zinsen…“ (Suhr 1983b: 326).

Hier werden unterschiedliche Funktionen des Geldes zusammen geworfen. Denn Geld ist im ersten Fall Zirkulationsmittel von Waren, Kaufmittel. Im zweiten Fall ist Geld selbst eine Ware, die zinstragend an diejenigen verliehen wird, die es als Kapital investieren – und einen Produktions- und Akkumulationsprozess in Gang setzen, der so organisiert ist, dass ein Mehrwert entsteht, aus dem auch die Zinsen gezahlt werden können. Zinsen erzwingen Wachstum, und Wachstum ist zugleich die Bedingung dafür, dass Zinsen gezahlt werden können. Ein Teufelskreis, wie sich herausstellt. Dies sieht Gesell ebenso wie Marx, freilich mit ganz unterschiedlicher Erklärung und mit kontroversen politischen Schlussfolgerungen. Die Betrachtung des Zinses als „Frucht des Kapitals“ und die dazu gehörige Nicht-Beachtung der Lohnarbeit, die ja diese „Frucht“ produzieren, ist die „begriffslose Form des Kapitals“, die fertige „Vorstellung vom Kapitalfetisch“: „Im zinstragenden Kapital erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form. Wir haben hier G – G’, Geld, das mehr Geld erzeugt, sich selbst verwertenden Wert, ohne den Prozeß, der die beiden Extreme vermittelt“ (MEW 25: 404).

Gesell hingegen nimmt die fertige Fetischgestalt des Kapitals für bare Münze. Die Zwischenglieder des Produktionsprozesses zwischen der vorgeschossenen Kapitalsumme G und ihrem zinstragenden Ergebnis G’ interessieren ihn nicht. Denn die „…lange Kette’ ist der Produktionsprozeß, und zwar beginnt und endet diese Kette in der Fabrik. Der Unternehmer ist nicht ein Ausbeuter unter vielen, sondern ist der Ausbeuter. Die Ausbeutung geschieht restlos an der Lohnkasse…“ (Gesell 1920: 326; Hervorhebung durch Gesell)
Das passt nicht zur These von der ausbeuterischen Zinswirtschaft. Gesell betont daher, dass er für seine Geld- und Zinstheorie eine solche Kette von Mittelgliedern, also die Analyse des Produktionsprozesses, gar nicht benötigt. „Die Kraft, die zu der Tauschformel G.W.G’. gehört, werde ich unmittelbar im Tauschvorgang enthüllen“ (Gesell 1920: 326). So wird schon im theoretischen Ansatz auch die politische Weichenstellung vorbereitet: es geht nicht gegen das Kapital schlechthin, sondern gegen das zinstragende, das später so genannte „raffende“ Kapital.

Geldrätsel und Geldheiler

Marx hat sich des aristotelischen Geldrätsels angenommen und es dadurch zu lösen versucht, dass er nicht nur Funktionen des Geldes identifizierte, sondern zuvor die Form des Geldes aus der Warenform abgeleitet hat: Geld stammt aus der Ware, ist aber keine Ware, sondern tritt der Welt der Waren in selbständiger, in verselbständigter Gestalt des Tauschwerts gegenüber. Geld verwandelt sich in einem heute abgeschlossenen historischen Prozess in Kapital. Der Kapitalismus als soziales System entsteht, und erst jetzt wird die Zinszahlung normal und daher zur Norm. Marx’ Geldtheorie wurde zumeist missverstanden, so dass seine Lösung selbst vielen wie ein Rätsel vorgekommen ist, wenn sie sich überhaupt der Mühe unterzogen haben, einen Blick ins Marx’sche Werk zu tun. Daher kann sich beispielsweise Hajo Riese 1995 erneut aufmachen, um das Geldrätsel zu lösen (Riese 1995). Allerdings gerät er wie der Prinz, der die schöne Prinzessin befreien will, auf dem Weg durch das verwunschene Schloss in immer schwierigere Situationen, ja Fallgruben voller Widersprüche und Ungereimtheiten – und die schöne Prinzessin bleibt verzaubert, das Rätsel des Geldes ungelöst. In der „Kritik der politischen Ökonomie“ beginnt Marx die Ausführungen über das Geld mit dem Verweise auf eine Parlamentsrede des britischen Premier Gladstone über Sir Robert Peels Bankakte von 1844 und 1845. Darin „bemerkte Gladstone, die Liebe selbst habe nicht mehr Menschen zu Narren gemacht als das Grübeln über das Wesen des Geldes“ (MEW Bd. 13: 49).

Dabei scheint alles doch so einfach zu sein. Jedenfalls meinen dies Geldheiler, die die Fähigkeit des Geldes, per Zinseszins geometrisch wachsende Zuwächse an sich ziehen zu können, mit ihrem gesunden Menschenverstand als Verrücktheit und als Ungerechtigkeit kritisieren und Heilung versprechen. Zins und Zinseszins sollen abgeschafft, die Ungerechtigkeit des Geldes beseitigt werden. Das ist modern eingekleidet die Fortsetzung der aristotelischen Tradition seit mehr als 2300 Jahren. Eine „natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ nennt Silvio Gesell sein Hauptwerk. „Geld ohne Zinsen und Inflation“ verspricht eine Geldheilerin, Margrit Kennedy. „Geld ohne Mehrwert“ schlägt Dieter Suhr vor. Bernard A. Lietaer bezeichnet das vom wuchernden Zinseszins geheilte Geld als „Geld der Zukunft“.

Eine Begrenzung des Geldtriebs oder der Geldgier ist ethisch sehr gut begründbar. Es ist einleuchtend, dass, wenn Bäume nicht in den Himmel wachsen, dies dem Geld auch nicht möglich sein sollte. Der sozialen Institution des Zinses und des Zinseszins müssen folglich Grenzen gesetzt werden. Das klingt plausibel, aber nur deshalb, weil wesentliche soziale Verhältnisse einer kapitalistischen Gesellschaft nicht berücksichtigt werden. Das Geld vertauscht alle Dinge, schafft eine verkehrte Welt, wie Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten schreibt. Wenn man von der Formanalyse des Geldes nichts wissen will, braucht man den Bezug zur Arbeit nicht zu bedenken und die komplizierten Vermittlungen von Geld, Arbeit, Kapital in einer historischen Gesellschaftsformation auch nicht. Schon die Selbstreferenz der Zinseszinsformel, zumeist suggestiv in Graphiken mit exponentiell steigender Kurve dargestellt, scheint vielen der Kritik genug zu sein. Einer der Graphiker, die die Selbstreferenz des Geldes visualisieren, ist Helmut Creutz. Es ist kein Zufall, wenn Naturwissenschaftler davon besonders fasziniert sind. Sie sind der Auffassung, dass man an der Stellschraube Zins drehen könne, ohne ans Geld oder die Marktwirtschaft zu rühren.

Doch nur auf das Geld und seine Zinseszinsdynamik zu schauen und die Verknüpfung mit dem kapitalistischen Produktionsprozess aus dem theoretischen Horizont zu entfernen, ist Liebedienerei am Geldfetisch, auch wenn diese gar nicht beabsichtigt sein sollte. Das Geldrätsel existiert für diese Geldheiler nicht, weil statt Fragen nur Antworten da sind, oder das rational auflösbare Rätsel als Mysterium irrational verklärt wird. Folglich werden Methoden ersonnen, um Positivzinsen unmöglich zu machen – ohne allerdings an Mehrwert und Akkumulation von Kapital und an die Basisinstitutionen einer kapitalistischen Gesellschaft zu rühren. Der Überschuss darf sein, auch in Geldform. Der Markt – und vor allem der Wettbewerb – sollen sein, aber die Zirkulation des monetären Überschusses als zinstragendes Kapital nicht. Da wird Geld in seiner Funktion als Zirkulationsmittel als unabdingbar und nicht aufgebbar deklariert. In seiner Funktion als Zahlungsmittel und daher als Kredit jedoch wird es für die Übel des Kapitalismus – Arbeitslosigkeit und Krise, Ungleichheit der Verteilung – verantwortlich gemacht. Über die Form des Geldes und deren Beziehung zur Form des Kapitals, also über das Geld in der kapitalistischen Gesellschaftsformation muss man sich keinen Kopf machen.

Das kann so weit gehen, dass die einfachen Regeln der doppelten Buchführung missachtet werden. Geld stellt, sofern es wertvoll ist, einen Vermögenswert dar. Es begründet eine Forderung und ist daher ultimatives Medium der Erfüllung eines Kontrakts. Wo eine Forderung existiert, muss auch eine Verpflichtung sein. Dem Geldvermögen entsprechen daher auf der anderen Seite der Bilanz Schulden. Diese beiden Seiten des Geldes, Vermögenswert zu sein, dem Schuldverpflichtungen gegenüber stehen, haben ja Aristoteles veranlasst, das Geld (den verselbständigten Tauschwert) als einen chrematistischen Spaltpilz der mit Gebrauchswerten auf Bedürfnisbefriedigung der Mitglieder zielenden Hauswirtschaft, der Oikonomie, zu bezeichnen. Ganz anders Joseph Huber, der das Konzept eines „schuldenfreien Vollgeldes“ (debt-free plain money) (Huber 1999: 6) entwickelt. Vollgeld ist Vermögen, dem keine Schulden auf der anderen Seite gegenüber stehen. Es ist auch kein Kapital. Vollgeld wird aus dem Nichts geschaffen, Kapital entsteht aus Ersparnissen. Doch kein Kapitalist würde erst ansparen, bevor er investiert, wenn er Vollgeld von seiner Bank erhalten könnte, die es – so Huber – „ex nihilo“ schöpft. Ob die Heilung der Krisen des Geldes mit diesem Konzept gelingen ist, ist mehr als zweifelhaft. Denn Geld ohne Schulden ist auch kein Vermögenswert. Es ist nicht Vollgeld sondern „Leergeld“.

Hubers Idee eines Vollgeldes ist nur eines von vielen Konzepten eines alternativen Geldes, einer Parallel- und Komplementärwährung, eines Arbeits- oder Zeitgeldes, eines neutralen Geldes (vgl. Douthwaite/ Diefenbacher 1998; Lietaer 1999). Diese Konzepte kommen geradezu inflationär auf den Markt, weil ihnen regelmäßig der Stabilitätsanker fehlt: nämlich eine gut fundierte Geldtheorie, die alle widersprüchlichen Geldfunktionen im Kontext der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu erfassen vermag. Anders sieht es mit Tauschringen aus, die ein Produkt der Not sind. In Argentinien beispielsweise sind nach der tiefen Finanzkrise von 2001, als das formelle Geld von der Staatsbank eingefroren wurde und die Pesos aus dem Verkehr verschwanden, regionale informelle Gelder, Parallelwährungen entstanden. Die Tauschringe waren zwar lokal und regional begrenzt, nutzen aber das Internet zur Kommunikation (vgl. http://www.geocities.com/archivomat2/trueque/creditos/argentina.html ).

Lassen wir nun den Urheber eines zinslosen Alternativgeldes selbst zu Worte kommen, nämlich Silvio Gesell.

Gesells Idee eines Schwundgeldes

Auch Silvio Gesell versucht, das Geldrätsel zu knacken. Aber er formuliert es anders als die bislang zitierten Autoren: „…Man staunt über das, was die Griechen, Römer und ältere Völker vor ihnen in oft verblüffend kurzen Zeiträumen geleistet haben. Dieses Rätsel löst das Gold, oder wie jetzt schon mit Verständnis sagen können: dieses Rätsel löst das Geld und die damit ermöglichte Arbeitsteilung, deren fortschrittfördernde Kraft niemals hoch genug eingeschätzt werden, niemals überschätzt werden wird. Diese erstaunliche Schnelligkeit der Entwicklung jener Völker gibt uns den besten Maßstab für die Bedeutung des Geldes“ (Gesell 1920: 217).

Das Geld ist also Demiurg, und ohne Geld wäre der Schritt aus der Barbarei kaum möglich gewesen. Denn Arbeitsteilung wäre nicht zustande gekommen. Geld also ein „pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel“, wie Marx über jene Vorstellungen spöttelt, die nicht das Geld aus der Warenproduktion und deren Austausch, sondern umgekehrt die arbeitsteilige Warenproduktion und den Austausch aus dem Geld ableiten. Marx zitiert den „geistreichen“ englischen Ökonomen Thomas Hodgskin, der ironisch schreibt, Geld „sei ein bloß materielles Instrument, wie ein Schiff oder eine Dampfmaschine, aber nicht die Darstellung eines gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses und folglich keine ökonomische Kategorie. Es werde daher nur mißbräuchlich in der politischen Ökonomie, die in der Tat nichts mit der Technologie gemein hat, abgehandelt“ (MEW Bd. 13: 36-37).

Hodgskin, dessen Buch 1827 erschien, könnte Gesell vor Augen gehabt haben, der 1892 eine Formel benutzt, die später in seinen Werken immer wieder vorkommt: „Das Geld soll wie die Eisenbahn sein, weiter nichts als eine staatliche Einrichtung, um den Warenaustausch zu vermitteln, wer sie benutzt, soll Fracht zahlen… das Geld ist ‚nur’ Vehikel, ähnlich wie die Eisenbahn, das Schiff auch nur Vehikel sind. Vehikel und das Vehikulierende sind nicht voneinander zu trennen. Bricht die Bahn zusammen, dann bricht auch alles zusammen, was darauf gebaut ist.“ (Gesell 1948: 66)
Gesell beansprucht, die Geldordnung wie die Verkehrsinfrastruktur wieder auf die von ihm angenommenen natürlichen Grundlagen zu stellen und die Probleme des Kapitalismus durch Naturalisierung des Geldes zu heilen. „Das ist mein Ziel: Beseitigung der Krisen, der Arbeitslosigkeit; der Kapitalist soll nicht mehr willkürlich durch Zurückhalten seines Geldes die Arbeitsbetätigung unterbrechen können“ (Gesell 1948: 59).

An der Geldordnung hängt also alles, und die Geldordnung soll in eine „natürliche Wirtschaftsordnung“ – so der Titel seines Hauptwerkes (Gesell 1920) – eingebettet werden. Das von ihm so genannte Freigeld (ebenso wie das Freiland, dazu später) waren also Mittel zu einem Zweck: der Herstellung einer so genannten natürlichen oder „physiokratischen“ Ordnung. Die Zeitschrift Gesells, vor dem Ersten Weltkrieg gegründet, hieß daher programmatisch: „Der Physiokrat“. Denn die Natur soll in der natürlichen Wirtschaftsordnung herrschen. Aus den Naturgesetzen werden daher die gesellschaftlichen Regeln der „natürlichen Wirtschaftsordnung“ hergeleitet. Doch was versteht Gesell unter der Natur?

Die Natur, das sind der Kampf ums Dasein, die Auslese der Besten und daher die Entwicklung eines „Vollmenschen“, des herrschaftslosen, libertären, anarchischen „Akraten“ im Unterschied zum „Halbmenschen“ der gegenwärtigen Gesellschaft. Medizinische Eingriffe zur Rettung fehlerhaft geborener Menschen sollten nicht erfolgen. Für die Auslese und Beseitigung der Degeneration, für die „Hochzucht“ der Menschen sollten freie Frauen verantwortlich sein, mit freier Liebeswahl im freien Wettbewerb. Alkoholiker werden, so hoffte Gesell, „keine Frauen mehr finden, die ihre ekelhafte Gesellschaft dulden, darum in der Regel auch keine Nachkommen hinterlassen“ (Bartsch 1989: 3 von 14; auch Kirschner 2000). Die natürliche Ordnung ist also eine brutale Wettbewerbsordnung der darwinistischen Auslese, und daher wundert es nicht, dass Gesell und seine Nachfolger den Kapitalismus zwar ablehnen, wenn sie denn überhaupt die gegenwärtige Gesellschaft so bezeichnen, aber begeisterte Anhänger der Marktwirtschaft und Wettbewerbsordnung sind. Die Vergötzung des Wettbewerbs in der natürlichen Wirtschaftsordnung hat nach dem Zweiten Weltkrieg viele Gesellianer zu Anhängern des Neoliberalismus werden lassen.

Gesell vertrat zwar keine explizite Rassentheorie. Denn, so schrieb er 1927: „Rassefragen sind private Angelegenheiten, keine Staatsangelegenheiten. Als Staatsangelegenheit behandelt wird die Rassenfrage zur Judenfrage, zur Polenfrage, zur Zigeunerfrage, zur sächsischen, bajuwarischen, preußischen Frage, und schließlich noch zur Frage des blauen und roten Blutes. Solche Politik führt unrettbar zum lächerlichen Fiasko.“ (Gesell 1948: 36f)

Es war wohl Gesells „Privatangelegenheit“, Mitglied der lebensreformerischen Obstbauansiedlung Eden bei Berlin zu sein, zu deren Aufnahmebedingungen 1917 „deutsches Ariertum“ gehörte. Auch der „deutsche Erneuerungsbund“, dem er angehörte, war von der Höherwertigkeit der deutschen Rasse überzeugt (so Kirschner 2000). Überhaupt führte ihn der extreme Individualismus, verkleidet in einen akratischen Anarchismus, zu der Auffassung, dass „die Völker… im Vergleich zu ihren Bestandteilen immer minderwertig“ sind (Gesell 1948: 36). Das ist der Grund, warum „der Mittelpunkt unserer neuen Wirtschaftsordnung… nur der Einzelmensch sein (kann)“ (Schnell 1948: 119). Alle diese Auffassungen, verdichtet zu einem „freiwirtschaftlichen“ Konzept, sind anschlussfähig an rassistische und antisemitische Positionen. Viele der Vertreter dieser und ähnlicher Positionen haben mit den Nazis paktiert und ihre Nähe gesucht.

Die kapitalistische Wirtschaftsordnung wird als nicht natürlich angesehen, weil die Geld- und Bodenordnung und die Ausgangsbedingungen des Wettbewerbs nicht stimmen. Ausbeutung durch den Zins und die Grundrente sind die Folge (Schnell 1948: 76ff). Die Geld- und Bodenordnung an die natürlichen Bedingungen von Auslese und Wettbewerb anzupassen, ist das Ziel Silvio Gesells und seiner Nachfolger. Geld muss seine Monopolstellung verlieren, der Zins muss abgeschafft werden. Geld soll daher nicht als Geld sondern wie andere Waren, genauer: Geld soll nicht als verselbständigter Tauschwert, als soziale Beziehung, sondern als ein Gebrauchswert mit physischen Eigenschaften behandelt werden. „Die Bestie Geld wollen wir… zähmen“, schreibt Gesell. Wir drücken sie auf die Stufe der Ware hinab, und sofort wird aus der Bestie das wertvollste Haustier“ (Gesell 1948: 65).

Geld, eine soziale Beziehung, wie schon Aristoteles wusste, wird als Naturding konzipiert. Dies mag einer der Gründe, warum so viele Naturwissenschaftler auf die Gesell’sche Geld- und Zinstheorie abfahren. Während Waren rosten und verderben können und daher dem Verbrauch zugeführt werden müssen, kann Geld zurückgehalten und aufgeschatzt werden; es verdirbt ja nicht. Geldbesitzer können also ein Monopol errichten und dann nur noch gegen einen Zins, den sogenannten „Urzins“, dazu veranlasst werden, ihre Liquidität aufzugeben und Geld in die Zirkulation zu werfen. Gesell spricht in diesem Zusammenhang vom Zins als einem „Schlagbaumgeld“, das Raubritter für das Passieren einer Sperre erheben (Gesell 1920: 328, 356, 366). Der Urzins ist so hoch wie die Kosten alternativer Tauschmedien, z.B. des Warentausches ohne Geldvermittlung (Barter). „Der Zins, den der Kaufmann in unmittelbarem Verkehr mit der Ware von dieser erhebt – das ist der wahre und volle Urzins. Das, was der Kaufmann seinem Gläubiger von diesem Zins abliefert, das ist der Urzins abzüglich Erhebungskosten. Wie auch das Wegegeld, das der Schlagbaumpächter an den Staat abliefert, nicht das volle Wegegeld ist“ (Gesell 1920: 338).

Die Existenz des Urzinses erzwingt die Produktion eines Überschusses, aus dem neben dem Profit auch der Zins abgezweigt werden kann. Diese Seite der Gesell’schen Geldtheorie macht sie für Keynesianer attraktiv, und Keynes selbst hat seine Sympathien nicht verborgen; darauf verweisen alle Gesellianer extensiv und mit gewisser Befriedigung (z.B. Suhr 1983a:24ff; Keynes 1936: 353-358). In einer monetären Marktwirtschaft sind Zinsen eine „harte Budgetrestriktion“, die die Unternehmen zu effizientem, also profitablem Wirtschaften zwingt und jede andere als eine kapitalistische Wirtschaftsform unter Strafe der Ineffizienz stellt. Vom Gelde geht also das Wirtschaften aus, und dies wird von Gesell in aller Deutlichkeit ausgeführt: „Das sogenannte Realkapital (Sachgut) ist also eigentlich nichts weniger als real. Das Geld allein ist das wirkliche Realkapital, das Urkapital“ (Gesell 1920: 339). Folglich ist es gewissermaßen konsequent, wenn Gesell sich explizit weigert, den Produktionsprozess in Betracht zu ziehen (Gesell 1920: 326), und ebenso explizit an die Stelle der Arbeiterklasse das „Volk“ rückt – gegen die Spekulanten, Wucherer, Couponschneider etc.

Gesells Hauptproblem waren Zurückhaltung und Hortung des Geldes, weil mit der geldvermittelten Zirkulation der Waren auch die Produktion ins Stocken geraten kann. „Mit dem heutigen Geld muß der Wareninhaber den Geldinhaber suchen, mit rostenden Banknoten tritt das Gegenteil ein. Und was ist das Richtigere, dass die schwere Ware das leichte Geld aufsuche oder das leichtflüssige Geld die schwerfälligen Waren?“ (Gesell 1948: 67)

Dies ist Thema aller Gesellianer bis heute. Geld ist „Tauschvermittler“, und wird dieser zurückgehalten, findet der Tausch nicht statt (Walker 1954: 12ff). Die Folge sind Absatzmangel und Arbeitslosigkeit. Dieses Problem sollte dadurch gelöst werden, dass die Geldhortung bestraft wird, indem die Durchhaltekosten des Geldes erhöht werden. Geld muss – wie die Waren auch – veralten, verderben und verrosten. In moderner Terminologie drückt Dieter Suhr dies so aus: „Werden die Durchhaltekosten auf Liquidität so dosiert, dass sie die durchschnittlichen Liquiditätsvorteile aufzehren, dann hat das Geld für diejenigen, die es übrig haben, keinen ‚Mehrwert’ mehr… Das gerechte Geld ist ein Geld ohne Mehrwert.“ (Suhr 1983b: 337)

Die Erhöhung der Durchhaltekosten wird dadurch erreicht, dass das aufgeschatzte Geld regelmäßig entwertet wird. Die Geldhaltung wird verteuert und die Verausgabung von Geld auf dem Markt wird ökonomisch attraktiv. Für Geld ist ein Negativzins zu zahlen. Dies ist die Mutter aller Lösungen der mit dem Geld verbundenen Probleme: „Mehr als das ist aber nicht nötig, um den Austausch unserer Produkte vor jeder denkbaren Störung zu sichern, um Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit unmöglich zu machen, um den Handelsprofit auf die Rangstufe der Tagelöhnerarbeit und des Lohnes herabzusetzen und um in kurzer Zeit den Zins in einem Meer von Kapital zu ersäufen.“ (Gesell 1920: 97)

Geld wird wie eine Ware konzipiert. Die kapitalistische Tatsache, dass Geld als besondere Form aus der Warenzirkulation ausgesondert wird und sich in Kapital verwandeln kann, soll durch technische Maßnahmen revoziert werden: Geldscheine werden regelmäßig gestempelt und so entwertet. Nach Gesells Vorschlag, pro Monat um 0,1 Prozent, so dass sich die Entwertung und mithin die Durchhaltekosten liquider Geldhaltung auf 5,2% Jahreszinsen belaufen. Dem Geld werden künstlich jene Eigenschaften gegeben, die die Waren als Gebrauchswerte haben. Als Tauschwerte haben sie diese Eigenschaft nur in dem Maße, wie der Gebrauchswert Träger des Tauschwerts ist. Aber es ist gerade der Vorzug des Geldes als verallgemeinerter Tauschwert, nicht die natürlichen Eigenschaften eines Gebrauchswerts aufzuweisen.

Daher ist ja auch die Geschichte des Geldes die Geschichte seiner Dematerialisierung: Vom Warengeld über das Goldgeld zu Papiernoten, Giralgeld und schließlich elektronischem Geld in bits und bytes. Eine prä-monetäre und prä-kapitalistische Theorie des Tausches, mit einem Geld, dem wesentliche Form- und Funktionsmerkmale von Geld genommen sind, wird zur handlungsleitenden Grundlage politischer Konzepte. Dem Geld wird die Wareneigenschaft zurückgegeben, indem Geld wie jede andere Ware auch „schwindet“. Mit dem schwindenden Geld („Schwundgeld“) schwindet auch der Kapitalismus, und daher ist es irgendwie konsequent, wenn Gesell und seine Nachfolger dem Kapitalismus alle Nachteile der Geldwirtschaft anheften, aber die Marktwirtschaft als sozialökonomisches Nonplusultra, als eine zentrale Eigenschaft der „natürlichen Wirtschaftsordnung“ verteidigen. Die Freiwirtschaftler predigen den Eigennutz, den sie „wenn irgend möglich… nicht regeln, bevormunden oder unterdrücken“ wollen (Schnell 1948: 118): „Im Ziel unterscheiden wir uns also nicht von den alten Liberalen und Physiokraten, die von einem möglichst freien Gewährenlassen, von einem Vermeiden aller staatlichen Eingriffe in Wirtschaft oder Leben eine vorbildliche Gesellschaft erhofften.“ (Schnell 1948: 118f)

Es wird sich noch zeigen, dass dieser extreme Liberalismus der Gesellianer dazu beiträgt, dass führende Vertreter im Dritten Reich zu den Nazis fanden und nach dem Krieg keine Probleme hatten, sich für Neoliberalismus und „soziale Marktwirtschaft“ zu engagieren.

Wörgl – ein Wunder?

Eine praktische Realisierung der Freigeldidee hat es bislang in der Geschichte nur ein einziges Mal gegeben, und zwar in der kleinen österreichischen Stadt Wörgl im Jahre 1932 – wenn man von einem kanadischen Experiment in den 90er Jahren absieht. Wörgl dient immer noch als Beispiel für die positiven Wirkungen, die der Ersatz des offiziellen Geldes durch Freigeld haben kann, obwohl doch bei genauerer Betrachtung das „Wunder von Wörgl“, wie Peter Kafka (2003: 37) das Experiment mit einem zinslosen Geld bezeichnet, alle Defizite des zinslosen Geldes hervorkehrt: Erstens ist Geld das Symbol der gesellschaftlichen Synthese. Nicht zufällig haben die Ostdeutschen nach 1989 weniger für ein vereinigtes Deutschland als für die D-Mark votiert. Man kann also kein lokales Geld schaffen, ohne die nationale Synthese, die auch in der gemeinsamen Währung einen Ausdruck findet, in Frage zu stellen – darauf kommen wir sogleich zurück.

Dass die Zentralbank gegen konkurrierende lokale Gelder ebenso interveniert wie der Fiskus, der Steuereinnahmen zu verlieren befürchtet, ist daher nicht nur die Äußerung einer kleinkarierten Krämerseele, sondern der Versuch, nationalstaatliche Kohärenz durch Aufrechterhaltung einer einheitlichen Währung zu bewahren. In technischer Hinsicht wäre zweitens das Problem des Wechselkurses zwischen der offiziellen Währung und den Lokalgeldern zu klären, ebenso wie die Frage des Wechselkurses gegenüber anderen Währungen, sofern Wirtschaftsbeziehungen über die lokalen und nationalen Grenzen hinaus bestehen. Die Bedeutung des „Wunders“ darf nicht überschätzt werden. Denn das Freigeld bzw. das „Schwundgeld“ von Wörgl wurde in Form einer “Notabgabe” von monatlich 1% während der Weltwirtschaftskrise im Juli 1932 eingeführt. Obendrein wurden insgesamt nur 12.000 Schillinge ausgegeben, nachdem ursprünglich 32.000 geplant waren. Der Wert des Schwundgelds wurde am offiziellen Geld verankert. Denn die Gemeinde Wörgl sicherte das ausgegebene Schwundgeld durch eine Einlage in offizieller Währung bei der örtlichen Raiffeisenkasse. Die Raiffeisenkasse nahm das Notgeld an. Sie tauschte es gegen offizielle Schillinge um, nahm dafür aber eine Gebühr von 2%. Der Anteil der Umsätze mit Schwundgeld an den Gesamtumsätzen war verschwindend gering. Das Schwundgeld von Wörgl war also immer nur wirtschaftlich unbedeutende Parallelwährung.

Allerdings kam es drittens zu einem Aufschwung in der Gemeinde Wörgl, „eine kleine Wirtschaftsblüte mitten in der Weltwirtschaftskrise“ (Kafka 38). Dies hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass viele Steuerzahler ihre rückständigen Steuern in Schwundgeld bei der Gemeinde entrichteten und die Gemeinde das Schwundgeld nutzte, um Löhne und Gehälter zu zahlen und Investitionen zu tätigen. So konnten einige größere kommunale Projekte finanziert werden, eine Skisprungschanze und die Asphaltierung der örtlichen Hauptstraße.

Viertens bestätigt das Experiment von Wörgl, dass Schwundgeld zu einer Beschleunigung der Geldzirkulation beiträgt: Jeder möchte es so schnell wie möglich loswerden, um die monatliche Geldentwertung von 1% zu vermeiden. Die Vergrößerung der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes wirkt so, als ob die Geldmenge ausgedehnt worden wäre. Dies kann durchaus inflatorische Tendenzen bestärken oder auslösen. In einer schweren Krise wie 1932 kann dies ja erwünscht sein, doch waren die umlaufenden Beträge im Vergleich zur offiziellen Geldzirkulation so gering, dass die Wirkung verpuffen musste.

Damit sind wir beim entscheidenden Defizit des Frei- oder Schwundgeldes, nämlich bei der Nichtberücksichtigung der Reproduktionszusammenhänge, deren synthetischer Ausdruck das Geld ist. Am Geld herum zu experimentieren, ohne die sozialen und ökonomischen Reproduktionsbedingungen prinzipiell anzutasten, ist der Versuch, Symptome zu kurieren. Das ist natürlich statthaft, wenn man von den Grenzen weiß. Doch sind diese den vielen umherschwirrenden Gesellianern keineswegs immer bewusst. Sie wollen ein nicht-kapitalistisches Geld, ohne den Kapitalismus theoretisch und praktisch in Frage zu stellen, so als ob das Geld ohne Gemeinwesen existieren würde und ein Gemeinwesen ohne formspezifisches Geld auskommen könne. Der Überschuss wird nicht als Mehrwert und damit das Kapital als soziale Beziehung in Frage gestellt, sondern nur der Zins und dieser vor allem wegen der Zinseszinsdynamik, durch die der Überschuss irgendwann einmal ausschließlich auf die Konten der Geldvermögensbesitzer umgelenkt wird und für produktive Kapitalisten, aber auch für die Lohnabhängigen weniger und manchmal nichts bleibt (so bei Suhr 1983a; 1983b). Entscheidend ist dabei, dass der Zusammenhang zwischen der sozialen Formation der Überschussproduktion und den historischen Regulationsweisen und Regimen einerseits und der Dynamik des Zinses andererseits aufgelöst wird.

Silvio Gesell und seine Nachfolger betreiben nämlich Geldtheorie ohne Gesellschaftstheorie. Es ist nicht zufällig, dass der Bezug Gesells und vieler seiner Nachfolger eine unterstellte „natürliche Wirtschaftsordnung“ ist. Gesell kann daher gegen den Zins argumentieren und zugleich einem extremen Liberalismus und Individualismus das Wort reden. Er kann das „Manchestertum“ befürworten und den Kommunismus sowie den Marxismus vehement ablehnen – denn „der Kommunismus widerspricht der Natur des Menschen“ (Gesell 1948: 85) – und gleichzeitig für eine strikte Regulation des Geldes, aber auch des Zugangs zu Land eintreten. Denn Land soll frei zugänglich sein, Freiland. Das Geld soll frei sein, und zwar befreit vom Zins, Freigeld. Damit sind wir beim Kern der Gesellschen Gesellschaftskonzeption, die sie so problematisch macht. Die natürliche Wirtschaftsordnung erweist sich nämlich als ein soziales Konstrukt, das anschlussfähig an andere, nämlich nationalistische und rassistische Konstrukte ist.

Das soziale Konstrukt einer „natürlichen Wirtschaftsordnung“?

Die Gesellschaftsformation oder – in anderer Sprache – das soziale, ökonomische und politische System werden als eine „Natürliche Wirtschaftsordnung“ (NWO) aufgefasst, für deren Realisierung sich eine zeitweise in den 1920er und 1930er Jahren nach zigtausenden zählende NWO-Bewegung einsetzt (dazu: Bartsch 1994). Ihre Ziele sind zinsloses „Freigeld“, „Freiland“ und Mutterlohn bzw. eine „Mütterrente“ zur Erziehung der Kinder und implizit auch zur Entlastung der Väter (dies ist auch ein Punkt im „Pfingstprogramm“ von 1943, das der Gesellianer Karl Walker vorgelegt hatte, als die Niederlage der deutschen Truppen bereits absehbar war; vgl. Schulz 1947: 25-31). Denn diese sollten sich auf einen „ewigen, unablässigen, schonungslosen Kampf“ konzentrieren. „Deshalb“, so heißt es in der Zeitschrift „Der Physiokrat“, um die sich seit 1909 die Anhänger Silvio Gesells sammeln, „nennen wir uns Physiokraten, weil wir die Herrschaft dieses Naturgesetzes bewusst anerkennen, uns ihm unterordnen und mit ihm rechnen, da wir sonst geräuschlos zermalmt würden…“ (nach Bartsch 1994: 324-325).

Die Anhänger Gesells entwickeln also einen Diskurs, in dem die Gesellschaft als von Naturgesetzen beherrscht verstanden wird. Ihnen soll die soziale und wirtschaftliche Ordnung angepasst werden. In der Natur herrscht Kampf im „survival of the fittest“, und daher auch in der Gesellschaft. Die Ausgangsbasis freilich soll gerecht sein, und dazu bedarf es des Freilandes und des Freigeldes, also der Beseitigung von Boden- und Geldmonopol. Der Mutterlohn kommt als drittes Element hinzu, weil auch die Mutterarbeit, wie jede andere Arbeit auch, bezahlt werden müsse (Schnell 1948: 143ff). Die Quelle des Lohns für Mütter ist die Grundrente. Denn „die Arbeit der Mutter (hat) über den im Ideellen ruhenden Erfolg einen höchst realen Wertzuwachs im Gefolge: die wachsende Grundrente … Wir haben festgestellt, dass die Grundrente sich entsprechend der Bevölkerungsdichte ändert. Viele Menschen: viel Rente; wenig Menschen: wenig Rente…“ (Schnell 1948: 144)

Die Mütterrente, wie der Mutterlohn daher auch genannt wird, ist also einerseits in Lohn verwandelte Steigerung der Grundrente, andererseits Mittel zu ihrer Abschaffung und daher des Bodenmonopols. Freigeld und freies Land sind die Bedingung für freie Menschen, die im Wettbewerb ihren Eigennutz verfolgen. Die besten setzen sich durch. Im Vorwort zur vierten Auflage seiner „Natürlichen Wirtschaftsordnung“ vom 5. Mai 1920 schreibt Gesell, nachdem er die kommunistische Revolution in Russland als einen „letzten reaktionären Schritt“ gebrandmarkt hat: „Die N.W.O., die ohne irgendwelche gesetzlichen Maßnahmen von selber steht, die den Staat, die Behörden, jede Bevormundung überflüssig macht und die Gesetze der uns gestaltenden natürlichen Auslese achtet, gibt dem strebenden Menschen die Bahn frei zur vollen Entfaltung des ‚Ich’, zu der von aller Beherrschtheit durch andere befreiten, sich selbst verantwortlichen Persönlichkeit, die das Ideal Schillers, Stirners, Nietzsches, Landauers darstellt.” (Gesell 1920: XIV).

Das liegt auf der Linie, die er schon länger verfolgt. So schreibt er in der Zeitschrift „Der Physiokrat“: „Einer der unbändigsten, tiefsten Triebe ist unzweifelhaft der allen höher entwickelten Naturen eigene Sinn für Freiheit,… und das Korrelat dazu der glühende Haß gegen… staatliche Bevormundung jeder Art, namentlich auch gegen alle im voraus gezogenen Richtlinien für die völkische Gestaltung künftiger Geschlechter…“ (Gesell 1948: 32)

Gesell vertritt also einen extremen Individualismus und er verteidigt die Ordnung, die ihn stützt: die Marktwirtschaft, die Wettbewerbsordnung. Die Bezüge zum später wichtig werdenden Neoliberalismus sind offenkundig. Gesell ist gegen die völkische Einvernahme. Damit jedoch ist er in der NWO-Bewegung eher eine Ausnahme. Es ist angesichts der ideologischen Grundlegung nicht überraschend, wenn Teile der NWO-Bewegung mit den Nationalsozialisten paktierten oder zumindest ideologisch flirten. Natürliche Auslese der Besten, schonungsloser Kampf, extremer Ich-Individualismus, Heroisierung der Mutter und Boden für das Volk – das waren Ideologeme, die passgenau in Denkmuster der Nazis integriert werden konnten. Und die Vertreter dieser Positionen gleich mit.

Alte und moderne Vertreter einer Utopie des Freilands

Freiland ist eine Utopie, die im ausgehenden XIX und im ersten Drittel des XX Jahrhunderts weit verbreitet war. Der Arzt und spätere Soziologe Franz Oppenheimer verfolgte diese Idee ebenso wie der “linke” Nationalsozialist und Autor des Parteiprogramms der Nazis aus den frühen 20er Jahren, Gottfried Feder. Henry George war in den USA dabei und Theodor Hertzka oder Eugen Dühring. Oppenheimer wollte durch Siedlungsgenossenschaften das Bodenmonopol brechen, also das kapitalistische Institut der doppelten Freiheit der Lohnabhängigen unterlaufen: frei zu sein, die Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen, aber auch frei zu sein von Produktionsmitteln. Die Arbeiter sollten Zugang zu Freiland erhalten, um nicht gezwungen zu sein, zu den schlimmsten Bedingungen die Arbeitskraft verkaufen zu müssen. Er setzte die Idee auch praktisch um mit den Siedlungsgenossenschaften Bärenklau und Wenigenlupnitz bei Berlin und mit der Obstbausiedlung Eden, die uns schon als Projekt der Gesellianer begegnet ist. So sollte ein „dritter Weg“ aussehen, der von Oppenheimer schon so bezeichnet worden ist, bevor die westeuropäische Sozialdemokratie in den späten 1990er Jahren erneut einen „dritten Weg“ erfand: „Weder Kapitalismus noch Kommunismus“ lautet der Titel eines Buches von Franz Oppenheimer (1931), und auf einem 1933 erschienenen Buch mit dem Titel „Weder so noch so“ waren der Heil-Hitler-Gruß (weder so) und Hammer und Sichel (noch so) auf dem Umschlag abgebildet. Oppenheimer war Sohn eines Rabbiners und musste nach 1933 in die USA emigrieren, wo er 1942 verstarb.

Während bei Gesell das Freiland Ergänzung des Freigeldes und des Mutterlohns ist, dreht sich bei Oppenheimer alles um die Bodenfrage. Das Bodenmonopol soll fallen, um den Arbeitern ein Auskommen mit landwirtschaftlicher Produktion zu ermöglichen. Dann wird die Bodenrente zurückgehen. Da gleichzeitig die industrielle Reservearmee nicht von den Landflüchtigen aufgefüllt wird und auf die Löhne drückt, werden auch die Profite des Industriekapitals sinken.

Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zur Gesellschen Natürlichen Wirtschaftsordnung. Sie ist erreicht, wenn der Zins und die Rente gefallen sind. Vom Profit ist nicht die Rede. Walker bezeichnet den Begriff denn auch als „ressentimentgeladen“ und setzt „Profitstreben“ in Anführungszeichen (Walker 1954: 5,6). Polemisch zugespitzt: Der Profit gehört zur freiwirtschaftlichen Natur, Zins und Rente zur kapitalistischen Unnatur.

Die Ungleichheit der Macht von Arbeitgebern und „Arbeitnehmern“ auf dem Arbeitsmarkt sollte durch die Exit-Option des Arbeiters, Landwirtschaft zu betreiben, ein gutes Stück aufgehoben werden. Subsistenzwirtschaft, so könnten wir heute übersetzen, sollte eine Alternative gegenüber dem Zwang zur Selbstverwertung der eigenen Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt darstellen. Dies war für „Blut-und-Boden-Faschisten“ attraktiv. Ebenso für jene, die der Idylle kleiner Einheiten gegen die Großindustrie anhingen. Dafür stehen einige der deutschen Neoliberalen wie Wilhelm Röpke oder Alexander von Rüstow, die in der Großindustrie schon eine Art Vorform von sozialistischer Planwirtschaft erblickten. Alle eint sie die Ablehnung derjenigen, die zumeist als arbeitslos deklarierte Zinseinkünfte beziehen. Sie werden als Verantwortliche für so manches Ungemach und Desaster und für den sozialen Unfrieden in der Gesellschaft identifiziert. Die formspezifische Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft spielt in diesem Räsonnement keine Rolle. In diesem Denken ist tatsächlich ein struktureller Antisemitismus angelegt und dieser ist bekanntlich unter bestimmten historischen Konstellationen leicht zu aktivieren gewesen.

Seltsamerweise klingen Freiland-Überlegungen auch in einer neueren Schrift von Robert Kurz gegen die Gesellianer mit dem Titel zur „Politischen Ökonomie des Antisemitismus“ an: „Eine elementare Ressource, die einer großen sozialen Bewegung von der Warenform entkoppelt werden könnte, ist wahrscheinlich Grund und Boden. Diese Frage, die auf der ganzen Welt immer drängender wird, kann durchaus unter bestimmten Bedingungen für eine soziale Mobilisierung ohne schlechten utopischen und massenopportunistischen Beigeschmack geeignet sein. Daß auch Silvio Gesell die Idee des ‚Freilands’ propagiert und überhaupt die ‚Bodenfrage’ im irrationalen System der Politischen Ökonomie des Antisemitismus immer wieder auftaucht, darf den Blick auf die tatsächliche Relevanz dieser elementaren Ressourcenfrage nicht verstellen…“ (Kurz 19 von 24) und weil „die Linke“ zur Bodenfrage nichts zu sagen habe, sei sie selbst zum „Katalysator für eine erneuerte Politische Ökonomie des Antisemitismus geworden, die sich ebenso wie frühere ‚Innovationen’ der Linken und ihrer diversen ‚Milieus’ gesellschaftlich zu verselbständigen beginnen“ (23 von 24) Er hat diese Position in einem Kommentar des „Neuen Deutschland“ vom 6.2.04 wiederholt. „Eine von der Warenform befreite Erde gehört in jedem Fall zur Programmatik sozialer Emanzipation…Wenn die Grundrente ersatzlos gestrichen wegfällt, könnten viele Kosten sinken (z.B. Mieten)….“.

Es scheint also, als ob Robert Kurz in der Frage der Abschaffung der Grundrente mit der Freilandbewegung einer Meinung sei. Diese Volte auf dem theoretischen Parcours macht man nur, wenn man die Form der kapitalistischen Produktion, deren Krisentendenzen und Regulationsanforderungen, auch die in einer integralen Regulationsweise regulierten Einkommenskategorien wie Lohn, Profit, Zins und Rente, in grotesker Weise missversteht. Kurz’ Attacke gegen „die Linke“, weil sie zur Bodenfrage nichts zu sagen habe, lenkt nur ab von den offenen Flanken dieser Theorie bei der analytisch-politischen Einschätzung von Produktion und Reproduktion, von Arbeit und Geld, von globalen Finanzmärkten und gesellschaftlicher Hegemonie. Dabei soll gern zugegeben werden, dass die Beschäftigung mit der Bodenfrage im Rahmen einer „solidarischen Ökonomie“ von zentraler Bedeutung ist, wie ja die Landlosenbewegungen in vielen Ländern eindringlich zeigen. Selbstverständlich muss „die Linke“ dem Rechnung tragen, die theoretischen Grundlagen einer „solidarischen Ökonomie“ entwickeln.

Ganz prinzipiell aber wird nicht der Überschuss als Mehrwert und damit das Kapital als soziale Beziehung in Frage gestellt, sondern nur der Zins und die Rente. Der Zins vor allem wegen der Zinseszinsdynamik, durch die der Überschuss irgendwann einmal ausschließlich auf die Konten der Geldvermögensbesitzer umgelenkt wird und für produktive Kapitalisten, aber auch für die Lohnabhängigen weniger und manchmal nichts bleibt (so bei Suhr 1983a; 1983b). Entscheidend ist dabei, dass der Zusammenhang zwischen der sozialen Formation der Überschussproduktion und den historischen Regulationsweisen und Regimen einerseits und der Dynamik des Zinses andererseits aufgelöst wird.

Gesellianer, Faschisten, Neoliberale

Lassen wir die Kurz’sche Variante vom Gegensatz von Grundeigentum und dem Rest der Gesellschaft beiseite und wenden wir uns wieder den Gesellianern zu. Als Akteure stehen sich in deren Welt nicht Lohnarbeit und Kapital bzw. die subalternen Klassen und Schichten und ein herrschender Block an der Macht gegenüber, sondern Geldkapital und der Rest der Gesellschaft. Nun ist es tatsächlich nur ein kleiner Schritt von der Konstatierung der “Macht des Geldes” zu der Identifizierung und Diffamierung einer “Jüdischen Clique von internationalen Bankiers”. Gesellianer waren in der Regel vorsichtig, diesen Schritt zu tun, aber viele Faschisten, die die theoretische Basis mit den Gesellianern teilten, haben dies sehr wohl getan (vgl. Darity: 1998: 7).

Auch die deutschen Nationalsozialisten sprachen von der “Brechung der Zinsknechtschaft”, kritisierten das „raffende“, nämlich Zinsen beziehende, und lobten das „schaffende“, nämlich Mehrwert und Profit heckende Kapital. Daher ist es kein Zufall oder bedauerliche Entgleisung einzelner, wenn Vertreter der Freiwirtschaftslehre nach der Machtergreifung von 1933 mit den Nazis gemeinsame Sache zu machen versuchten. Die ideologischen Grundlagen waren ja gegeben: Die Naturalisierung des Wettbewerbs, des Kampfes in einem Prozess der natürlichen Auslese, die Offenheit der Bodenfrage zu Blut-und-Boden-Interpretationen, die Verteufelung des Zinses auf „raffendes Kapital“, die Überhöhung des Individuums zum hochgezüchteten Über-Menschen, die Auffassung der Frau als Mutter. Viele Gesellianer haben mit den Nazis kollaboriert. Eine der schillerndsten Figuren unter ihnen ist Otto Lautenbach, einst Vorstandsmitglied des Freiwirtschaftsbundes. Er vertrat in der Nazi-Zeit einen „deutschen Sozialismus freiwirtschaftlicher Färbung”. Ein anderer Gesellianer, Wilhelm Radecke, trat in die NSDAP ein und sammelte die anderen Freiwirte in der NSDAP im sogenannten Rolandbund (Bartsch, nach: Niederegger, S. 16).

Nach dem Krieg wurde Lautenbach führendes Mitglied der „Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft“ und in dieser Funktion lautstarker Propagandist des Neoliberalismus deutscher Prägung, d.h. der Freiburger Schule, unterstützt von deren wissenschaftlichen Koriphäen und politischen Aushängeschildern wie Ludwig Erhard. Er tritt nun für „stabile Währungspolitik“ und „Leistungswettbewerb“ als den beiden Grundpfeilern der „sozialen Marktwirtschaft“ ein. Eine Politik der Geldwertstabilität ist nun wichtiger als die Unterbindung von Positivzinsen. Dabei ist auch erwähnenswert, dass der Wirtschaftsminister der Adenauer-Ära, Ludwig Erhard, als ausgewiesener Neoliberaler bei Franz Oppenheimer studiert und promoviert hat, der zwar nicht die Freigeldlehre, wohl aber die Freilandlehre gegen das „Bodenmonopol“ und seine sozial schädlichen Auswirkungen vertreten hatte. Die Einvernahme durch den Neoliberalismus war wegen der Ablehnung von Kommunismus und Sozialismus, die Hervorhebung des Wettbewerbs und des ungebändigten Individualismus und die Betonung der Marktwirtschaft gegen den Kapitalismus eine Leichtigkeit. Die einstigen Freiwirte, die mit den Nazis paktiert hatten, singen nun das Hohelied der freien und sozialen Marktwirtschaft.

Auch der Bankier Wilhelm Radecke hat diese Häutung vollzogen. Er hat die Gesellianer mit den Nazis zusammengebracht, ist selbst in die NSDAP eingetreten und hat viele Jahre lang in Hitler den Feldherrn der Freiwirte gesehen (Bartsch 1994: 327-328). Radecke hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Gesell’schen Theorien weiter verfolgt. Nun aber mit dem zeitgeistig angebrachten Neoliberalismus gefärbt. So schreibt er im Nachwort zur mehrmals zitierten der Schrift von Karl Walker, mahnend an die Mitglieder und Wähler der SPD gewandt: „Diese große und in ihrem Wollen als ehrlich anzusprechende Partei sieht sich wegen der Unhaltbarkeit der marxistischen Theorie in Programmschwierigkeiten. Es wäre höchst bedauerlich, wenn sich in der SPD diejenigen durchsetzen würden, die in den – dem Bundeswirtschaftsminister (gemeint ist Ludwig Erhard – EA) zu verdankenden – Erfolgen der Regierung Adenauer auch die Richtigkeit des herrschenden Systems und die Verlässlichkeit der konjunkturellen Entwicklung zur dauernden Vollbeschäftigung und zu sozialen Entspannung erkennen und erhoffen würden. Es sollten vielmehr diejenigen Kräfte der SPD zum Erfolg kommen, die bei der Suche nach ‚neuen Wegen zu den alten Idealen’ auf Silvio Gesell gestoßen sind.“ (Radecke 1954: 18).

Der Neoliberalismus und seine Ablehnung von Monopolen war also für Gesellianer attraktiv. Dies gilt jedoch in erster Linie für den „alten“ Neoliberalismus, den „Ordo-Liberalismus“. Der „neue“ Neoliberalismus der globalisierenden Deregulation der Märkte und der Konkurrenz von Finanzplätzen, in deren Verlauf die Zinsen nicht abgebaut, sondern nach oben geschaukelt werden (vgl. Altvater 2004), findet das Gefallen der neuen Generation von Gesellianern nicht. Nun werden auch ökologische Argumente gegen die mit den positiven Zinsen ausgeübten Wachstumszwänge vorgetragen.

Zinseszinsen bei ökologischen Grenzen

Allerdings bleiben Gesellianer sich selbst treu. Ihr Antikapitalismus ist individualistisch und die Kritik spart die Marktwirtschaft aus. Zwar spielen die zeitgebundenen sozialdarwinistischen Ideologeme keine zentrale Rolle mehr. Doch die Vereinseitigung der Gesellschaftskritik auf Geld und Zins ist erhalten geblieben und damit das mechanische Weltbild der Mechanismen von Wettbewerb und Auslese. Das diffuse Gefühl, damit nicht auf das Ganze zu zielen, hat die Freigeldbewegung für New Age und Esoterik sowie die Anthroposophie Rudolf Steiners und seiner Adepten geöffnet (Niederegger 1997:17-22).

Eine Reihe von Naturwissenschaftlern haben sich von der Attraktivität des Einfachen in der Freigeldlehre (die Einheit mit der Freilandlehre und dem Mutterlohn wird zumeist vergessen) faszinieren lassen. Ein Beispiel ist der Versuch einer “Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus”, den Peter Kafka in seinem Buch „Gegen den Untergang. Schöpfungsprinzip und globale Beschleunigungskrise“ unternimmt. Der Störenfried des Geldes muss aus dem Kapitalismus herausoperiert werden, um eine wohl funktionierende Marktwirtschaft zurückzulassen. Doch eine nicht-kapitalistische Marktwirtschaft auf dem gegebenen Stand der Technologie und Produktivkräfte gibt es nicht. Die Marktwirtschaft hat sich mit dem Kapitalismus historisch in einem Prozess des „disembedding“ der Ökonomie aus der Gesellschaft herausgebildet (vgl. Polanyi 1978; Altvater/ Mahnkopf 2004, 3. Kapitel).

Und eine Marktwirtschaft verlangt nach dem Geld, mit dem die Waren zirkulieren. Aber geldvermittelte Warenzirkulation wird, dies ist die grandiose Erkenntnis von Karl Marx, warenvermittelte Geldzirkulation. Letztere kann sich auch gegenüber der Warenzirkulation verselbständigen. Jedenfalls zeitweise. Daher scheint es, als ob das Geld losgelöst von der realen Sphäre der Warenproduktion zirkulieren würde und ein Eingriff in die Geldsphäre möglich sei, ohne an der Form der Warenproduktion und –marktvermittelten Zirkulation zu rühren. Beispielsweise durch Abschaffung des Zinses.
Doch ist dies eine Illusion. Geld ist eine Forderung, die erfüllt werden muss, und zwar durch reale Produktion von Waren, die einen Mehrwert enthalten, der bei der Verwandlung in Geld als Profit realisiert wird. Erst wenn dies geschehen ist, kann die Forderung monetär erfüllt werden.

Wenn die Geldvermögensbesitzer infolge steigender Realzinsen sich einen immer größeren Anteil des Überschusses aneignen können und vielleicht die Substanz von Vermögen angreifen, dann ist die gesellschaftliche Krise unausweichlich – so wie wir es in den Finanzkrisen Asiens, Lateinamerikas, Osteuropas in den vergangenen Jahren haben beobachten können. Die Zinsen üben tatsächlich Druck auf den Produktionsprozess und auf den Staatshaushalt aus, und diese Belastung endet, wenn nicht entgegengewirkt wird, in einer brutalen Umverteilung zu Lasten der Bezieher von Lohn- und Gehaltseinkommen und zu Gunsten der Bezieher von Zinsen und Renditen. Dies sehen die Gesellianer ähnlich wie Keynesianer oder Marxisten. Doch schon endet die Gemeinsamkeit. Denn dieser Mechanismus kann nicht durch die Einführung eines Negativzinses gestoppt werden. Dies ginge nur durch komplexe gesellschaftliche Regulierung, nicht nur von Geld und Finanzen sondern auch der Produktions-, Lebens- und Arbeitsbedingungen, durch Umbau des Kapitalismus.

Die heutige Attraktivität der Freigeld- bzw. Schwundgeldtheorie ergibt sich nicht zuletzt aus der größeren ökologischen Sensibilität in der Gesellschaft. Nichts wächst ewig und keine Bäume wachsen in den Himmel. Daher kann dies beim Geld ebenfalls nicht so sein, und folglich muss der Wachstumsprozess des Geldes gestoppt werden. Dies ist auf den ersten Blick eine plausible Überlegung und daher erfreut sich die Theorie Silvio Gesells und seiner heutigen Nachfahren in Teilen der Ökologiebewegung einer gewissen Beliebtheit, zumal sie wegen ihrer Einfachheit außerordentlich elegant daherkommt und süffig hinuntergeht. Die Theorie ist bequem, denn grundlegende Veränderungen einer auf Individualismus beruhenden Marktwirtschaft sind nicht notwendig. Größere theoretische Anstrengungen, wie sie etwa die auf Marx basierende Gesellschaftstheorie oder ein moderner Keynesianismus verlangen, sind scheinbar überflüssig. Es ist auch nicht erstaunlich, dass es sehr häufig kritische Naturwissenschaftler sind, die der Gesellschen Geld- und Zinstheorie anhängen.

So wird ein Unterschied zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft konstruiert, deren Zusammenhang ins Dunkel verrückt wird. Der Gesellianer Johannes Heinrich hält eine „kapitalistische Demokratie für nicht möglich“, wohl aber eine demokratische freie Marktwirtschaft: „Eine qualitativ weiterentwickelte Demokratie ist im Kapitalismus nicht möglich, im Unterschied zur freien Marktwirtschaft, deren Freiheit eine politisch herzustellende ist. Es geht bei der Demokratiereform zentral auch darum, die kapitalistische Verfälschung aller demokratischen Machtverhältnisse zu überwinden“ (Heinrichs, 48) Die Verfälschungen der Marktwirtschaft, das können nur sein: Waren und Geld und deren immanente kapitalistische Dynamik. Eine Marktwirtschaft ist also nur so lange Marktwirtschaft, wie sie keine ist.

Knappe Schlussfolgerung

Es ist nicht schwer, mit Irrtumsvorwürfen, gerichtet an die globalisierungskritische Bewegung, umzugehen, wenn man um sein Unwissen weiß. Wenn diese berechtigt sind, wird man auf jeden Fall Irrtümer korrigieren können und müssen. Allerdings geht es den Kritikern der Globalisierungskritik in aller Regel nicht um den Nachweis von Irrtümern, die diskutabel sind, sondern um Delegitimierung der Globalisierungskritik schlechthin. Es geht also um Diskurshegemonie, und dabei macht sich der Beleg von Irrtümern zur Desavouierung sehr gut. Diese zu bestreiten, nützt dann nicht sehr viel, und es wird notwendig, auf die Diskurse in allen ihren Aspekten Einfluss auszuüben, also nicht nur auf die Inhalte, sondern auch auf die Formen der Vermittlung. Die Adressaten müssen bedacht werden, ebenso wie die politischen Implikationen, nach denen die globalisierungskritische Bewegung umso mehr und ernsthafter gefragt wird, je stärker sie wird und je mehr auch konkrete politische Praxen vorgeschlagen werden.

Die Unterstellung des Reaktionären in der globalisierungskritischen Bewegung lässt sich dekonstruieren, am besten indem der historische Kontext kapitalistischer Entwicklung verdeutlicht wird. Nur an den historischen Tatbeständen und Entwicklungsbahnen lässt sich ja bemessen, was reaktionär, was konservativ, was progressiv oder visionär ist. Kapitalismuskritik enthält unterschiedliche Elemente in der Frühphase der Industrialisierung und zu Zeiten der finanzgetriebenen Globalisierung, und daher müssen diese auch hervorgekehrt werden. Wenn Globalisierungskritik auf bloße Bewahrung überwundener Strukturen zielen würde, wäre ja der Vorwurf berechtigt, nicht aber bei der modernen Globalisierungskritik, die über den gegenwärtigen Zustand des globalen Kapitalismus hinaus weist und Alternativen für eine andere Welt erarbeitet. Reaktionär und gefährlich ist es, wenn zu den herrschenden Tendenzen – und dies sind immer die Tendenzen der Herrschenden – keine Alternativen mehr erarbeitet und verfolgt werden, wenn also implizit der Pessimismus am angenommenen „Ende der Geschichte“ akzeptiert wird.

Die Unterstellung des Antisemitismus ist zum aller größten Teil eine Projektion der Kritiker, sofern mit dem Vorwurf die globalisierungskritische Bewegung insgesamt getroffen werden soll. Eine neuralgische Stelle freilich ist eine Geldtheorie, deren gesellschaftstheoretische Fundierung schwach ist, und die daher einige ihrer Vertreter zu verschwörungstheoretischen Personifizierungen veranlassen mag. Die Gesell’sche Lehre von der „natürlichen Wirtschaftsordnung“ hat sich in der Geschichte als anschlussfähig für nationalsozialistisches, antisemitisches Denken erwiesen.

Freilich haben der extreme Individualismus, die Vergötzung von natürlicher Auslese, Wettbewerb und Marktwirtschaft dazu beigetragen, dass sich Gesellianer nach dem Zweiten Weltkrieg zum Neoliberalismus bekehrten. An den Figuren des Otto Lautenbach und Wilhelm Radecke, die Freigeldtheoretiker, Nazis und Antisemiten, und nach dem Krieg bekennende Neoliberale waren, lässt sich dies zeigen. Es spricht einiges dafür, dass der Antisemitismus, auch wenn er nicht explizit geäußert wurde, strukturell immer vorhanden war. Es ist also nicht allein der Waren- und Geldfetisch, der dazu veranlasst, dass soziale Beziehungen ein Gesicht bekommen und dieses Gesicht zum Feindbild des Antisemiten werden kann.

Dies kann nur dann ausgeschlossen werden, wenn das Geld und die globalen Finanzmärkte nicht als verselbständigte Gestalten, sondern immer mit ihren sozialen Beziehungen im Rahmen einer Kritik der Politischen Ökonomie analysiert werden, also in einem Rahmen, den Silvio Gesell ganz explizit ablehnt. An der Marx’schen Geldtheorie nämlich bemängelt er, dass „die Aufmerksamkeit des Proletariats vollkommen vom Geld abgelenkt und die Börsenräuber, Wucherspieler, Spitzbuben unmittelbar in den Schutz der besitzlosen Klasse, des Proletariats gestellt“ worden sind (Gesell 1920: 325). Die Übel des Geldes sind personifiziert. Dies hat Konsequenzen für die „ökonomische Alphabetisierung“ (Bourdieu). Zinsen kann man nicht abschaffen, ohne die kapitalistische Gesellschaftsformation zu überwinden. Aber man kann sie regulieren, durch geeignete wirtschaftspolitische Maßnahmen auf nationaler wie globaler Ebene. Dafür müssen Konzepte ausgearbeitet werden, um die fatale Hilflosigkeit gegenüber vorgeblichen Sachzwängen der Globalisierung zu überwinden und vor allem jede Sündenbockannahme zu unterbinden. Nur so ist die Immunisierung gegenüber den Gefährdungen eines strukturellen Antisemitismus möglich.

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2 Kommentare zu "Eine andere Welt mit welchem Geld?"

  1. Fdfdd sagt:

    Klasse Gastbeitrag. le-bohemien.net -> für mich der beste Blog in Deutschland.

  2. fakeraol sagt:

    Das hat Altvater und die Marxisten mit den Kapitalismus-Anhängern gemeinsam:
    sie brauchen Unmengen von Text, um sich selber so sehr darin zu verstricken und zu verheddern, das sie ihre eigenen Widersprüche nicht mehr sehen.

    Ich konnte in seinem Text zwar Kritik an Gesell finden, aber keine alternative Lösung für das “Geld heckt Geld”-Problem. Bevor er dazu kommt, schweift er schon wieder ab zur Abwehr des Antisemitismusvorwurfes gegen die Globalisierungsgegner.

    Man merkt, das er Politik studiert hat, nicht Volkswirtschaft. Der einfachste Weg, die Aussagen zu beweisen oder zu widerlegen führt nicht über eine lange heiße Diskussion mit einem Feuerwerk an Argumenten, sondern einfasch über einen Zettel und einen Stift.
    Altvater, mach eine Modellrechnung, zeig uns, wie der Marxismus der Umverteilung durch den Zins entkommt. Alles andere ist Politik und Politik ist bekanntlich ein schmutziges Geschäft.

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