Innovation und Fortschritt

Dialektik der Aufklärung oder Fortschritt als Rückschritt

Die zentrale geschichtsphilosophische Einsicht des 20. Jahrhundert war auf Grundlage der Erfahrungen des Nationalsozialismus jene in die Dialektik der Aufklärung[10], wonach die Aufklärung in Barbarei und Fortschritt in Rückschritt umgeschlagen ist. Dies aber nicht allein wegen der Aufrechterhaltung bürgerlich-kapitalistischer Produktionsverhältnisse auch unter den Bedingungen ökonomischer Krisen, sondern – viel tiefergehend – durch die Dominanz der instrumentellen, zweckrationalen, um die Kritik verkürzte Vernunft selbst, die damit aus einem Mittel der Emanzipation von natürlichen und gesellschaftlichen Zwängen zum entscheidenden Mittel der Herrschaft geworden ist – sofern sie dies ohnehin nicht immer schon ein solches gewesen ist.

Somit kritisierte dann auch die „Kritische Theorie“ nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus als auch Stalinismus, mit den Mitteln der dialektischen Vernunft radikal ihr eigenes Fundament, den Vernunftbegriff, ohne den sie doch selbst nicht sein könnte.

Zuvor hatte Ernst Bloch, der Philosoph der Zukunft, den Begriff des Novums, des Neuen in die Geschichtsphilosophie eingeführt was – ebenso wie die künstlerische russische Avantgarde der frühen zwanziger Jahre – einer der geistigen Reflexe auf den damals welthistorisch einflussreichen Impuls der russischen Oktoberrevolution war. Dieser – positiv verstandene – Begriff des Novums markiert das nicht vorhersehbare, unerwartete, ins Unbekannte vorstoßende, das Dunkel erleuchtende, das Unwissen beseitigende, den Durchbruch bringende, historisch wirkende, schöpferisches Ereignis der Erkenntnis oder der Tat.

Dieses Neue bahnt sich durch die Geschichte zwar an, als Tendenz, ist aber nie gegen das auch ebenso mögliche, nicht selten wirkliche Scheitern gesichert. Aber es existiert dennoch, sei es auch latent, und der Geschichtsprozess schließt zwar immer wieder Handlungskorridore, öffnet aber auch stets wieder andere.[11]

Die Erwartung der frühen Arbeiterbewegung allerdings, dass die bürgerliche Gesellschaft durch eine soziale Revolution überwunden und aufgehoben werden würde, ist, wie Iring Fetscher als Ergebnis seiner Darstellung zusammengefasst hat, geschichtlich überholt: „Die proletarische, industriekapitalistische Weltrevolution hat nicht stattgefunden und wird auch nicht mehr stattfinden. Die Probleme und revolutionären Potentiale des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts sind mit dem Terminus „proletarisch“ nicht mehr angemessen zu bezeichnen.

In den hochindustrialisierten Metropolen wächst die Angestelltenschicht weit rascher als die Schicht der industriellen Handarbeiter und treten neue Disparitäten stärker in den Vordergrund als die Auseinandersetzung von Lohnarbeit und Kapital. In den Ländern der Peripherie sind agrarische Mehrheiten und marginale Schichten, die sich um die rasch wachsenden Millionenstädte konzentrieren, kaum als „Proletarier“ zu bezeichnen. Sie aber werden die Träger künftiger Revolutionen sein.

Der wachsenden Konzentration der industriellen und Dienstleistungs-Unternehmungen steht die Verwandlung von 90 und mehr Prozent der Bevölkerung in Lohn- und Gehaltsempfänger gegenüber. Die Interessen dieser Mehrheiten an ausreichender Versorgung mit Konsumgütern, an einem befriedigenden Leben und sinnerfüllter Arbeit werden bislang nur unzulänglich artikuliert. Sie zu präzisieren und zum Bewusstsein zu bringen ist die vordringliche Aufgabe demokratischer sozialistischer Parteien. Eine – um der Sache willen nützliche – Konkurrenz solcher Parteien mit anderen Linksparteien ist dringend erwünscht. Ohne einen freien intellektuellen und politischen Wettbewerb besteht nicht nur das Risiko des Rückfalls in monokratische Diktaturen, sondern auch die Gefahr des Verfehlens der genannten Ziele.[12]

Trotz der von Horkheimer und Adorno theoretisch begründeten Verzweiflung, zu der die Geschichte nicht nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Anlass gab, sondern auch immer wieder gibt, bleibt die Hoffnung auf eine mögliche und für das Überleben der Gattung notwendige menschlichere Gesellschaft ein mächtiges Motiv. Und ist – im Vergleich zu älteren Gesellschaftsformationen – die bürgerliche Freiheit, sind die Menschenrechte nicht wirklich unbestreitbare historische Fortschritte, ebenso wie die politische Demokratie und der gesellschaftliche Wohlstand?

Jedenfalls ist die Geschichte mit der bürgerlich-demokratischen, kapitalistischen Gesellschaftsform sicher nicht zu Ende. Während sie sich einerseits antimoderner Kräfte erwehren muss, die gegen die kapitalistische Durchdringung der Welt opponieren (z. B. Islamismus), steht sie selbst unter einem inneren Evolutionsdruck, der sich aus den Widersprüchen der gesellschaftlichen Krise ergibt. Die Hoffnung bleibt, dass es möglich werden könnte, die historischen Entwicklungen zum
Besseren hin zu beeinflussen, auch wenn immer wieder mit Rückschlägen gerechnet und auch immer mitbedacht werden muss, dass das mögliche und gewollte Bessere – auch aufgrund nicht erkannter Fern- und Nebenwirkungen – ungewollt in das Gegenteil, in etwas Schlechtes, umschlagen kann.

Belehrt von den beispiellosen historischen Rückschlägen insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind wir – so ist zu hoffen – gewarnt. Aber was bleibt uns anderes, als mit Wissen und Hoffnung, mit Skepsis und Mut, mit Vorsicht und Risikobewusstsein politisch zu handeln?

Welcher Fortschritt – und wohin ?

Als wissenschaftlich-technischer Fortschritt wird der „lineare“ Fortschrittsbegriff einseitig auf die Entwicklung der Produktivkräfte bezogen. Aber wegen der Dialektik zwischen der Produktivkraftentwicklung und den Produktionsverhältnissen wurde von der frühen Sozialdemokratie erwartet, dass der technische Fortschritt von sich aus die Produktionsverhältnisse strukturell fortschrittlich verändern würde. Der komplexe Vermittlungszusammenhang mit den ökonomischen Prozessen von Akkumulation und Krise, und den politischen Prozessen von Einsicht, Engagement und Selbstorganisation der Subjekte, sowie Aktion, Konflikt und Reaktion wurde dabei jedoch übersehen. Und tatsächlich erfuhren die Produktionsverhältnisse unter dem Nationalsozialismus einen katastrophalen Rückschritt, indem die Zirkulations- oder Marktsphäre durch direkte Eingriffe und staatliche Planung ersetzt und die bürgerliche Freiheit beseitigt wurde [13].

Die „ordoliberal“ begründete Rekonstruktion eines marktgesteuerten Kapitalismus erneuerte dann nach dem Zusammenbruch des NS-Staates die bürgerlich – kapitalistischen, marktwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse, die seitdem im wesentlichen nur durch die von den Gewerkschaften durchgesetzten Mitbestimmungsgesetze sowie sozialstaatliche Regulierungen modifiziert worden sind. Diese stellen insgesamt einen beachtlichen Fortschritt der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse dar, indem der Subjektcharakter der lohnabhängig Beschäftigten gegen das Kapital durchgesetzt worden ist und ökologische Notwendigkeiten gegen die ökonomisch ebenso kurzfristig wie kurzsichtig handelnden Unternehmen.

In jüngerer Zeit jedoch wird im Zusammenhang mit der Dominanz der neoliberalen Ideologie wieder nur an den wissenschaftlich-technische Fortschritt gedacht, wenn von Fortschritt und Innovation die Rede ist.

Das Bewusstsein für die Problematik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist in der Gesellschaft durchaus vorhanden, allerdings im Widerspruch zu anderen einflussreichen Teilen, die weiterhin verkürzend kurzschlüssig ökonomistisch argumentieren (Bewusstseinskrise). Die breite Diskussion über Atom- und Gentechnologie, Bioethik und Technologiefolgenabschätzung belegt dies.

Sie verweist allerdings auch auf die Schwierigkeiten, sich gesellschaftlich auf ethisch reflektierte, vernünftige und verbindliche Regulierungen zu einigen, denn selbst in den Fällen, in denen ethische Beurteilungen in gesetzliche Normen münden, bleiben die Ergebnisse unbefriedigend, weil die neuen technologischen Möglichkeiten früher oder später außerhalb des Geltungsbereichs der nationalen gesetzlichen Normen erprobt und genutzt werden können, so dass jede nationale Norm durch internationale und globale Wettbewerbsprozesse rückwirkend ausgehöhlt werden kann.

Ökonomische Innovationen und lange Wellen des Wachstums

Am ehesten folgt noch die Entfaltung der Produktivkräfte – oder der wissenschaftlichtechnische Fortschritt – der Linearität der ursprünglichen Fortschrittsidee, insofern eine beschleunigte Expansion in alle Richtungen beobachtet werden kann, während der Konservatismus zugleich die Produktionsverhältnisse abzusichern versucht, wenn es z. B. darum geht, bei neuen Produkten oder Prozessen, bei Software oder Internet-Beziehungen, die technologisch von Aushöhlung bedrohten Eigentumsrechte zu bewahren oder wiederherzustellen, oder, wie im Fall der Biotechnologie, durch Patentrechte erheblich auszuweiten.

Die an Produkt- und Prozessinnovationen anknüpfenden Wachstumserwartungen sind nicht völlig falsch, verkennen aber, dass die kapitalistische Ökonomie eine widersprüchliche und krisenhafte ist, und sie gehen an krisen- und werttheoretischen Einsichten in das Wesen von Krisen, Stagnation und Depression vorbei. Die strukturelle Überakkumulation von Kapital kann als ökonomische Krise, als Krise der Wertformen durch eine technologische Innovationsförderung allein nicht gebrochen werden.

Vorrangig sind krisenhaft verlaufende Entwertungsprozesse von Kapital. Wenn und insoweit dann jedoch ein kausaler Zusammenhang zwischen Innovationen, einer steigenden Durchschnittsprofitrate und zusätzlichen Investitionen besteht, d. h. wenn Innovationen genügend zusätzliche überdurchschnittlich rentable Investitionen auslösen, kann sich eine aufschwingende „lange Welle“[14], und damit eine neue Epoche der Kapitalakkumulation entwickeln, die besseren Zeiten, auf die alle hoffen.

Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Entstehung und der Zerfall der Sowjetunion als Beispiel für die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zu dienen vermag. Die Oktoberrevolution (1917) hatte die ständegesellschaftlichen Produktionsverhältnisse Russlands überwunden. Zunächst war eine marktwirtschaftlich orientierte Politik betrieben worden, die aber nach wenigen Jahren durch eine staatlich-bürokratische Planung ohne demokratische Basis abgelöst wurde (Stalinisierung der SU).

Unter Anwendung exzessiver Gewalt nach innen wurde ab 1928 eine beschleunigte Industrialisierung durchgesetzt, die eine wesentliche Bedingung dafür war, dass die Sowjetunion im zweiten Weltkrieg erst standhielt, dann siegte und damit den Krieg entschied. Es folgte, ohne entscheidende Veränderung der eigenen Produktionsverhältnisse, d. h. ohne Demokratisierung, der Aufstieg zur Weltmacht, bis sich die Dynamik der Produktivkraftentwicklung in den 70er Jahren unter der Hemmung der staatsbürokratischen Verhältnisse erschöpfte und eine lange Stagnation einleitete.

Der westliche Wettbewerbsdruck im ökonomischen und auch rüstungspolitischen Sinne ergab eine ökonomische und politische Überforderung des politischen Systems, das 1989 schließlich in eine unerwartete Implosion, den plötzlichen Zerfall, mündete, während, zum Vergleich, die VR China im Hinblick auf die Ökonomie rechtzeitig einen Reformweg einschlug, der die Produktionsverhältnisse im Sinne eines „Marktsozialismus“ modifizierte, allerdings auch hier ohne Demokratisierung.

Das Beispiel zeigt, dass sich die Reformdiskussion weder auf bloße Anpassungen an veränderte Umstände noch auf die ohnehin beschleunigt verlaufende Entfaltung der Produktivkräfte konzentrieren sollte, sondern vor allem auf die Produktionsverhältnisse: die Stichworte sind hier Eigentumsrechte und Verteilung, staatsbürgerliche Rechte, Demokratisierung der Gesellschaft einschließlich Mitbestimmung, Partizipation und Gleichberechtigung, sowie gesellschaftliche Selbstorganisation (Genossenschaftssektor).

Da es hierbei aufgrund der historischen Entwicklung nur um eine gesellschaftliche Evolution gehen kann, ist die Aufmerksamkeit in Abgrenzung zu „sachzwanggetriebenen“ Anpassungen und produktivkraftorientierten Programmen (Innovationsförderung) insbesondere auf Sozialreformen im Hinblick auf Modifikationen der Produktionsverhältnisse zu lenken.

Aber gerade hier bestehen mächtige politische Tabus. Dennoch: wichtiger als wissenschaftlich-technische Innovationen sind fortschrittliche politische, gesellschaftliche und rechtliche Innovationen, um den vorhandenen technisch-ökonomischen Innovationsdruck so zu verarbeiten, dass sich daraus ein gesellschaftlicher Fortschritt – und nicht ein Rückschritt – ergibt.

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3 Kommentare zu "Innovation und Fortschritt"

  1. Frau Lehmann sagt:

    Vielen Dank für diese außerordentlich gute und differenzierte Analyse!

  2. Ich schließe mich natürlich dem obigen Kommentar an.
    Die einzige Ausführung des Textes, der ich kritisch gegenüber stehe, ist der Punkt “Demographie und Sozialstaat”. Ich bezweifle die übliche Behauptung, – die leider auch hier geteilt wird -, dass die Demographischen Veränderungen bzw. die veränderte Alterstruktur die sozialen Sicherungssysteme tatsächlich überfordern. Dies ist eine These, die von gewissen Interessensgruppen gezielt gestreut wird, allen voran von den privaten Versicherungskonzernen. Die Nachdenkseiten haben sich mit dieser Art von “Meinungsmache” schon häufiger befasst.
    Ich persönlich vertrete vielmehr die Sichtweise, dass die demographische Entwicklung durch die ständig steigende Produktivität – oder im Duktus des Autors die Beschleunigung der Produktivkraftentwicklung – leicht aufgefangen werden könnte.
    In diesem Kontext ist auch die interessengesteuerte Demontage des umlagefinanzierten Rentensystems unverzeihlich.

  3. Pistepirkko sagt:

    Interessant find ich das ich dies schon zweimal als Kommentar so ähnlich gepostet hatte.
    Wo bleibt ein philosphischer Ansatz wie wir leben wollen?
    Letztendlich ist ein System das von Menschen gelebt wird nichts anderes als der Glaube daran das dieses System funktioniert.
    Fangen wir doch wieder damit an daran zu glauben das wirtschaftliches Handeln dem Menschen dienen muss und nicht umgekehrt.
    Fangen wir doch wieder an zu glauben das wir Bildung und nicht Ausbildung brauchen. Die Bildung ist mittlerweile so weit runtergeschraubt das man aus Proletariat das Prekariat machte.
    Ich finde nämlich nicht das das Proletariat nicht mehr vorhanden ist. Man nennt es nur halt anderes. Entweder Prekariat oder Angestellte.
    Soweit verdummt das sie nicht anfrangen ihren Glauben in Frage zu stellen.
    In sofern sind die Neocons nicht besser als radikale Religionsanführer.

    Neusprech gut erklärt. Ich machte die Erfahrung das viele Leute nicht verstehen was gesagt oder geschrieben wird, weil man sie indoktriniert hat. Oder sie verdummt wurden.
    Daher verbreite ich diesen Link wo es nur geht:

    http://www.neoliberalyse.de/index.php?option=com_content&view=article&id=108:leben-im-schnelldurchlauf&catid=40:journalistisches&Itemid=73

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