Innovation und Fortschritt

Aktuelle Probleme kultureller Entwicklung

Die kulturelle Sphäre – Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Kunst – ist teilweise schon seit längerem gegenüber der Sphäre der Ökonomie in ein Abhängigkeits- und teilweise sogar in ein Unterordnungsverhältnis geraten, wodurch die gesellschaftliche Fähigkeit einer selbstkritischen Reflexion sowie einer „gebildeten“, weitblickenden, langfristigen Zielsetzung und strategischen Planung des politischen Handelns ausgehöhlt worden ist.

Durch den zu beobachtenden Verdrängungsprozess der wissenschaftlichen Politikberatung durch private „think tanks“ (wie z. B. das CHE) sowie durch betriebswirtschaftlich orientierte Consulting -Firmen (wie z. B. Roland Berger) wird die neoliberale Ideologie in praktische Politik transformiert. Der Umgestaltungsprozess des Hochschulsektors ist hierfür ein Beispiel: Lehre und Forschung sollen für die Ökonomie möglichst funktional gestaltet werden. Eine möglichst nützliche innovative Hochleistungsforschung, die Ausbildung preisgünstiger Massenabsolventen (Bachelors) sowie die separate Qualifizierung einer „Führungselite“ (Masters) stehen auf dem Programm, und zwar verbunden mit einer gleichzeitigen Kostensenkung im Hochschulsektor (u. a. durch die neue „W-Besoldung“ der Hochschullehrer).

Aus Sicht ökonomischer Partialinteressen werden Studiengänge „pragmatisch“ als Ausbildung, nicht als Bildung begriffen. Bildung tendiert daher dazu, ein elitärer Luxus zu werden. Die gesellschaftlichen Subjekte werden systematisch an der vollen Entfaltung ihrer Potenziale, damit auch des Bewusstseins ihrer Interessen und Handlungsmöglichkeiten gehindert. Der Bildungsprozess wird blockiert, und das Bildungsniveau wird gesenkt.

Die relative gesellschaftliche Autonomie von Wissenschaft und Kunst, ein positives Ergebnis des Säkularisierungsprozesses der Neuzeit, wird dadurch tendenziell rückgängig gemacht. Es entsteht, nahezu unbemerkt, eine Rücknahme von Autonomiespielräumen und eine Abhängigkeit von einer ökonomistischen Ideologie, deren Kurzsichtigkeit und Borniertheit die gesamte kulturelle Sphäre bedroht.

Damit wird das kreative Problemlösungspotenzial der Gesellschaft zunehmend eingeschränkt, während zugleich die Komplexität und der Problemdruck ansteigen. Die Bewusstseinskrise wird zur Krise der Politik. Das Ergebnis ist gesellschaftlicher Rückschritt und ein Scheitern an den Problemen.

Krise, Innovation und Investition

Die kritische Analyse der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung hat gezeigt, dass wir es mit einer gesellschaftlichen Krise zu tun haben, so dass eine rein ökonomische Betrachtung bereits eine Verkürzung und ein Ausdruck der Bewusstseinkrise ist. Sie steht möglichen Ansätzen einer Problemlösung entgegen, und sie wirkt sich im Hinblick auf eine notwendige gesellschaftsreformerische Weiterentwicklung der Produktionsverhältnisse rückschrittlich aus.

Die historische Betrachtung hat gezeigt, dass sich die Produktivkräfte nicht linear, sondern beschleunigt entfalten – dass also ein Problem zu langsamer Weiterentwicklung aus historischer, langfristiger Sicht gar nicht besteht. Die Entfaltung der Produktivkräfte ist tatsächlich insgesamt so schnell, dass das gesellschaftliche Problem eher in der gesellschaftlichen Integration des technologisch Neuen als in dessen Mangel besteht.

Ökonomistisch über „Innovationsmangel“ zu reden anstatt über das makroökonomische Problem des „Investitionsmangels“, kommt daher aus makroökonomischer Sicht einer „Verschiebung“ des Problems im Bewusstsein gleich. Aber der umfassende Begriff der Innovation schließt neben dem technologischen Fortschritt auch den gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt ein. Der Begriff der “Innovationsoffensive” ist daher entsprechend zu erweitern, und er schließt dann strukturelle gesellschaftliche Reformen ein.

Aus makroökonomischer, kurz- bis mittelfristiger Sicht besteht jedenfalls kein Mangel an Innovationen, sondern an Investitionen, die wegen einer von den Investoren als zu niedrig eingeschätzten Rentabilität unterlassen werden. Die Hemmung und Stockung, als welche die ökonomische Krise erfahren wird, hat ihren ursächlichen Kern nicht in einem Mangel an technologischen Innovationen, sondern in den Eigentumsrechten, der Kapitalverwertung und der ökonomischen Verteilung des Vermögens und der Einkommen einschließlich der hiervon abhängigen Nachfragestrukturen.

Die Investitionen sind makroökonomisch von zentraler Bedeutung. Würde auch bei sinkenden erwarteten Profitraten weiterhin investiert, würden also auf der Kapitalseite die Verteilungsansprüche zurückgenommen werden, dann entstünden genügend expansive ökonomische Kreislaufimpulse – insbesondere genügend Nachfrage – für eine gesellschaftliche Wohlfahrt und eine Überwindung der derzeitigen ökonomischen Krise. Aber eben dies geschieht tatsächlich nicht, weil die Produktionsverhältnisse – in Form der Verteilungsansprüche (z. B. in Gestalt des „shareholder value“ – Konzepts) – hemmend auf die Investitionstätigkeit einwirken, so dass kostenorientierte Unternehmensstrategien dominieren, die den ökonomischen Kreislaufprozess ungewollt abbremsen.

Aus langfristiger und aus regionalpolitischer Sicht ergibt sich ein anderes Bild, denn hier besteht eine Möglichkeit politisch-ökonomischen Wettbewerbs gerade darin, wissenschaftlich-technische Vorsprünge zu erreichen, die über Innovationen in ökonomische Vorsprünge umgewandelt werden können. Innovationen sind hier einerseits qualitativ bedeutsam, weil sie die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, und andererseits quantitativ, weil sie im makroökonomischen Zusammenhang Anlass zu zusätzlichen Investitionen geben können, sofern sie die erwartete einzelwirtschaftliche Rentabilität erhöhen. Aus regionalpolitischer Perspektive ist daher neben der Förderung von Unternehmensgründungen die Innovationsförderung insbesondere im Hinblick auf das Segment der Klein- und Mittelbetriebe (KMU) ein wichtiger und erfolgversprechender wirtschaftspolitischer Ansatzpunkt.

Ergebnisse

Wirksame gesamtgesellschaftliche Reformstrategien mittlerer Reichweite müssen in erster Linie an einer fortschrittlichen Entwicklung der Produktions- und Verteilungsverhältnisse orientiert werden. Diese aber wird nicht ohne Einsatz aller kreativen Ressourcen der Gesellschaft möglich sein. Der derzeit herrschende Ökonomismus mit seiner Ideologie marktradikaler Sachzwanglogik muss zugunsten echter gesellschaftspolitischer Alternativen überwunden werden: das ist die sich stellende theoretische wie praktisch-politische Aufgabe.

Das politische Handeln fällt der Bewusstseinskrise zum Opfer, wenn sie auf die Anstrengung einer Analyse verzichtet und sich darauf beschränkt, pragmatisch auf die an die gesellschaftliche Oberfläche drängenden Probleme und Widersprüche zu reagieren. Sie hat dann zwar tatsächlich und in ihrer Selbstwahrnehmung den Vorteil des „Realismus“ und versteht sich daher auch als „Realpolitik“, begreift aber das gesellschaftliche System und seine fundamentalen Zusammenhänge, innerhalb dessen sie handelt, nicht mehr.

Eine oberflächliche Parteiprogrammatik ohne analytische Tiefe erblindet. Es kann dann nur noch reaktiv und interessegeleitet, – als „politische Charaktermaske“ eben -, gehandelt werden, aber die reflexive Erkenntnis des eigenen politischen Handelns innerhalb des komplexen gesellschaftlichen Systems geht zugleich verloren. Dem ist entgegenzuwirken, wenn die Bedingung der Möglichkeit für ein bewusstes politisches Handeln erhalten bleiben soll.

Artikelbild: Kevin Kurz, “Weltzeituhr”
Some rights reserved.
Quelle: www.piqs.de

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[1] Dalai Lama, Mit weitem Herzen, Berlin 2002, S. 28
[3] Vgl. Herr, Hansjörg: Deregulierung, Globalisierung und Deflation, in: PROKLA 134: Die kommende
Deflationskrise?, Münster 2004, S. 15 ff.
[4] Vgl. Kaiser, Cornelia: Deflation und Arbeitsmarkt in Japan, in: PROKLA 134, Münster 2004, S. 85 ff.
[5] Wittfogel, Karl August: Die Orientalische Despotie, Frankfurt/Berlin/Wien 1977
[6] Vgl. Jaynes, Julien: Die Entstehung des Bewusstseins, Reinbek bei Hamburg 1993; im Original:
“The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind”, Boston 1976.
Jaynes konstatiert und erklärt diese entscheidende soziologisch – anthropologische Veränderung im Rahmen
seiner historisch – neurologische Theorie der Religion auf eine faszinierende Art und Weise durch eine
tiefgreifende hirnorganische Reorganisation, den Zusammenbruch der von ihm so bezeichneten „bikameralen
Psyche“. Auffällig ist, dass dieser Aspekt in historischen Darstellungen sonst regelmäßig unbeachtet bleibt:
aber warum?
[7] Vgl. Thomson, George: Die ersten Philosophen, Berlin 1968
[8] Vgl. Tibi, Bassam: Kreuzzug und Djihad – Der Islam und die christliche Welt, 1. Aufl., München 1999,
S. 168 ff.
[9] Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde., 7. Aufl., Frankfurt/Main 1980
[10] Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 2003
[11] Bloch, Ernst: das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt/M. 1969, Bd. 1, S. 143.
[12] Fetscher, Iring: Karl Marx und der Marxismus, München 1985, S. 305 f.
[13] Vgl. Neumann, Franz: Behemoth – Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 – 1944, Frankfurt/M.
1984; Sohn – Rethel, Alfred: Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus, Frankfurt/Main 1973;
Hoffmann, Jürgen: Politisches Handeln und gesellschaftliche Struktur – Grundzüge deutscher
Gesellschaftsgeschichte, 2. Aufl. Münster 2000, S. 333- 367.
[14] Vgl. Schumpeter, J. A., Konjunkturzyklen, 2 Bde., Göttingen 1961, Kap. IV, S. 139 ff.

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3 Kommentare zu "Innovation und Fortschritt"

  1. Frau Lehmann sagt:

    Vielen Dank für diese außerordentlich gute und differenzierte Analyse!

  2. Ich schließe mich natürlich dem obigen Kommentar an.
    Die einzige Ausführung des Textes, der ich kritisch gegenüber stehe, ist der Punkt “Demographie und Sozialstaat”. Ich bezweifle die übliche Behauptung, – die leider auch hier geteilt wird -, dass die Demographischen Veränderungen bzw. die veränderte Alterstruktur die sozialen Sicherungssysteme tatsächlich überfordern. Dies ist eine These, die von gewissen Interessensgruppen gezielt gestreut wird, allen voran von den privaten Versicherungskonzernen. Die Nachdenkseiten haben sich mit dieser Art von “Meinungsmache” schon häufiger befasst.
    Ich persönlich vertrete vielmehr die Sichtweise, dass die demographische Entwicklung durch die ständig steigende Produktivität – oder im Duktus des Autors die Beschleunigung der Produktivkraftentwicklung – leicht aufgefangen werden könnte.
    In diesem Kontext ist auch die interessengesteuerte Demontage des umlagefinanzierten Rentensystems unverzeihlich.

  3. Pistepirkko sagt:

    Interessant find ich das ich dies schon zweimal als Kommentar so ähnlich gepostet hatte.
    Wo bleibt ein philosphischer Ansatz wie wir leben wollen?
    Letztendlich ist ein System das von Menschen gelebt wird nichts anderes als der Glaube daran das dieses System funktioniert.
    Fangen wir doch wieder damit an daran zu glauben das wirtschaftliches Handeln dem Menschen dienen muss und nicht umgekehrt.
    Fangen wir doch wieder an zu glauben das wir Bildung und nicht Ausbildung brauchen. Die Bildung ist mittlerweile so weit runtergeschraubt das man aus Proletariat das Prekariat machte.
    Ich finde nämlich nicht das das Proletariat nicht mehr vorhanden ist. Man nennt es nur halt anderes. Entweder Prekariat oder Angestellte.
    Soweit verdummt das sie nicht anfrangen ihren Glauben in Frage zu stellen.
    In sofern sind die Neocons nicht besser als radikale Religionsanführer.

    Neusprech gut erklärt. Ich machte die Erfahrung das viele Leute nicht verstehen was gesagt oder geschrieben wird, weil man sie indoktriniert hat. Oder sie verdummt wurden.
    Daher verbreite ich diesen Link wo es nur geht:

    http://www.neoliberalyse.de/index.php?option=com_content&view=article&id=108:leben-im-schnelldurchlauf&catid=40:journalistisches&Itemid=73

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