Strukturen gesellschaftlicher Herrschaft
Das Wahlvolk nimmt die „politische Klasse“ als die maßgeblich gestaltende Gruppe der Gesellschaft wahr. Das ist insofern zutreffend, als sie der personelle Träger der staatlichen politischen Prozesse ist. Wahrgenommen wird auch noch, daß sich zwischen die politische Klasse und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Partialinteressen Verbände geschoben haben, die durch ihre publizistische Wirkung und ihre Lobbyarbeit eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielen. Die systematischen Grenzen der Handlungsspielräume der „politische Klasse“ werden aber verkannt, insofern diese als allein maßgeblich und entscheidend begriffen wird. Die Einbettung des politischen Handelns in eine übergreifende, strukturbestimmende „Herrschaft der Investoren“ wird nicht gesehen.
Die Beziehung zwischen Herrschaft und bürgerlich-demokratischer Regierung ist eine dialektische: Herrschaft und Regierung sind nicht identisch, sondern entgegengesetzt, und zugleich sind sie identisch, also ein und dasselbe. Die Regierenden sind nicht die Herrschenden. Die Herrschenden werden nicht gewählt, und sie regieren auch nicht: sie lassen regieren. Nur die Regierenden werden in einer bürgerlichdemokratischen Demokratie gewählt, nicht aber die Herrschenden. Regieren in einer bürgerlichen Demokratie bedeutet, die Interessen der Herrschenden mit den Interessen der Wähler so zu vermitteln, daß die Beschaffung von demokratischer Legitimität gelingt.
Weil Herrschaft strukturellen Charakter hat, als ein Regieren und Opponieren in Erscheinung tritt und eben deshalb so wahrgenommen wird, erliegen die Beherrschten, also die Wähler, durch diesen politischen Prozess der Legitimationsbeschaffung dem realen Schein, dass die Regierenden tatsächlich herrschen. Verstünden die Wähler, dass die Regierenden eben nicht (unabhängig) herrschen, sondern für die Herrschenden regieren (und nur in dieser Vermittlung herrschen), dann wäre gesellschaftspolitisch etwas Wesentliches erreicht, denn die Kritik der Beherrschten, der Masse der Wähler, richtete sich dann tendenziell nicht länger gegen wechselnde Fraktionen und Koalitionen der Regierenden, sondern gegen die sie „einbettenden“ Strukturen der Herrschaft selbst.
Herrschaft ist in gesellschaftlichen Verteilungsstrukturen fundiert, und sie vollzieht sich daher nicht wirklich durch politisches Handeln; dieses bleibt den je Regierenden überlassen. Aber deren Handeln ist – mit beträchtlichen Spielräumen – strukturell vorbestimmt, gerichtet und begrenzt, also: „eingebettet“.
Was den Herrschenden dabei in die Hände spielt, ist die „Selbstverwertung des Werts“, also die Tatsache, daß die private, am Gewinn orientierte Verwendung von Geldkapital (Investition) die historischen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Ökonomie bestimmt. Weil sie als „ökonomischer Sachzwang“ erscheint, bestimmt die Logik der Investoren überwiegend die verschiedenen Bereiche der Politik, insbesondere aber die Wirtschaftspolitik, deren Rolle darin besteht, rentabilitätssichernde Rahmenbedingungen zu schaffen.
Das reale Übergewicht der Ökonomie bestimmt in Form scheinbar unausweichlicher Denkformen und Denknotwendigkeiten – als „Ökonomismus“ – wie selbstverständlich auch das kollektive Bewusstsein, und zwar um so mehr, je praktischer und pragmatischer sich dieses selbst versteht. Und die Unterordnung des politischen Denkens unter die Logik ökonomischer Gesetzmäßigkeiten führt faktisch, aber nicht notwendig bewusst oder der Absicht nach dazu, daß das Handeln der Regierenden effizient im Interesse der Herrschenden erfolgt.
Geschichte und Fortschritt
Gemessen an der Zeitachse der Naturgeschichte ist die menschliche Gattung sehr jung; ihre afrikanischen Wurzeln reichen lediglich etwa 5 Millionen Jahre zurück. Ihre Zahl war gering, und ihr Überleben war lange gefährdet und höchst unsicher. Ein Aussterben war über sehr lange Zeiträume nicht ausgeschlossen und hat sich innerhalb der Gattung homo mehrfach vollzogen; am bekanntesten ist der Fall des Neandertalers.
Auf seiner Wanderung aufwärts der Donau gelangte der moderne Mensch erstmalig während der letzten Eiszeit vor etwa 30 – 40 000 Jahren nach Zentral- und Westeuropa. Funde in den Höhlen der Schwäbischen Alb sowie in Frankreich dokumentieren, daß der moderne Mensch nicht nur als Werkzeugmacher, sondern, wie Statuetten, Musikinstrumente und Höhlenbilder zeigen – von Anfang an immer auch als Künstler aufgetreten ist.
Vor rund 10 000 Jahren setzte im „fruchtbaren Halbmond“ des Vorderen und Mittleren Orients die „neolithische Revolution“ – d. h. der Übergang zum Ackerbau – ein. Mit diesem Heraustreten aus der bisherigen Naturgeschichte der Gattung begann die eigentliche „Geschichte“, nämlich jene der menschlichen Kulturen und Gesellschaften.
Vor rund 5 000 Jahren entstanden in diesem Raum die bekannten Hochkulturen in Form „orientalischer Despotien[5], und vor etwa 2 500 Jahren ereignete sich die „Geburt des modernen Bewußtseins“[6] und damit auch der Beginn von Philosophie und Wissenschaft[7].
Vor rund 500 Jahren beginnt mit der Renaissance die Neuzeit.[8] Durch die europäischen Entdeckungs- und Eroberungsreisen entstand ab 1500 n. Chr. erstmals so etwas wie eine einheitliche Welt. Etwa 250 Jahre später setzte in England die „Industrielle Revolution“ ein, d. h. die profitgetriebene, maschinengestützte Produktion in Fabriken, die zu dem heute globalisierten Kapitalismus geführt hat.
Die Durchkapitalisierung der Welt hat die Produktivkräfte stark beschleunigt, und die Beschleunigung der Produktivkräfte hat rückwirkend die Durchkapitalisierung erleichtert. Die Beschleunigung der Produktivkraftentwicklung zeigt sich beispielsweise am Beginn des Automobilismus und der ersten Flugversuche – beide liegen erst rund 100 Jahre zurück – und am Beginn der Raketentechnik und der Raumfahrt, der Computertechnologie und der Gentechnologie, die vor erst rund 50 Jahren einsetzten. Und innerhalb weniger Jahrzehnte werden Biotechnologie, Nanotechnologie und andere Anwendungen wissenschaftlicher Erkenntnisse unsere Welt, auch unsere gewohnte Lebenswelt, tiefgreifend weiter verändern: der wissenschaftlich-technische Fortschritt entwickelt sich offenbar nicht linear, sondern stark beschleunigt.
Im Widerspruch dazu wandeln sich aber die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse nur zäh und langsam. Es ist der menschlichen Gattung bisher leider nur sehr unzureichend gelungen, den Prozess der Zivilisierung der menschlichen Gesellschaft[9] nach innen und außen auch nur annähernd in dem Tempo voranzutreiben, das erforderlich wäre, um Spannungen mit der beschleunigten Entwicklung der Produktivkräfte, also den folgenreichen Ergebnissen von Forschung, Wissenschaft und Technik zu vermeiden. Dass sich die Menschheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts während des „Kalten Krieges“ ständig am Rande der atomaren Selbstvernichtung befand, ist hierfür ein Beleg.
Die Ausbreitung der Demokratie mit ihren individuellen Freiheitsrechten, des Rechtsstaats, der Menschenrechte, des Völkerrechts, und Institutionen wie die Vereinten Nationen, der Internationale Gerichtshof und manche anderen internationale Organisationen können zwar als Ausdruck des Zusammenwachsens und des Versuchs einer Zivilisierung der Weltgesellschaft gelten, aber diese Fortschritte sind offensichtlich höchst gefährdet und bleiben von schweren Rückschlägen bedroht, die sich die Menschheit aber angesichts des Tempos der Produktivkraftentwicklung gar nicht leisten kann.
Aus historischer Sicht sind es daher nicht die Produktivkräfte, sondern die Produktionsverhältnisse, die rechtzeitig und schnell genug weiterentwickelt werden müssen. Nur dies wird die Voraussetzung dafür sein, dass eine gereifte und umfassend zivilisierte Weltgesellschaft imstande sein wird, verantwortungsvoll, d. h. weitsichtig und schonend gegenüber sich selbst und der planetaren Natur mit den alten und insbesondere den neuen Möglichkeiten, die von Wissenschaft und Technik beschleunigt eröffnet werden, umzugehen.
Vielen Dank für diese außerordentlich gute und differenzierte Analyse!
Ich schließe mich natürlich dem obigen Kommentar an.
Die einzige Ausführung des Textes, der ich kritisch gegenüber stehe, ist der Punkt “Demographie und Sozialstaat”. Ich bezweifle die übliche Behauptung, – die leider auch hier geteilt wird -, dass die Demographischen Veränderungen bzw. die veränderte Alterstruktur die sozialen Sicherungssysteme tatsächlich überfordern. Dies ist eine These, die von gewissen Interessensgruppen gezielt gestreut wird, allen voran von den privaten Versicherungskonzernen. Die Nachdenkseiten haben sich mit dieser Art von “Meinungsmache” schon häufiger befasst.
Ich persönlich vertrete vielmehr die Sichtweise, dass die demographische Entwicklung durch die ständig steigende Produktivität – oder im Duktus des Autors die Beschleunigung der Produktivkraftentwicklung – leicht aufgefangen werden könnte.
In diesem Kontext ist auch die interessengesteuerte Demontage des umlagefinanzierten Rentensystems unverzeihlich.
Interessant find ich das ich dies schon zweimal als Kommentar so ähnlich gepostet hatte.
Wo bleibt ein philosphischer Ansatz wie wir leben wollen?
Letztendlich ist ein System das von Menschen gelebt wird nichts anderes als der Glaube daran das dieses System funktioniert.
Fangen wir doch wieder damit an daran zu glauben das wirtschaftliches Handeln dem Menschen dienen muss und nicht umgekehrt.
Fangen wir doch wieder an zu glauben das wir Bildung und nicht Ausbildung brauchen. Die Bildung ist mittlerweile so weit runtergeschraubt das man aus Proletariat das Prekariat machte.
Ich finde nämlich nicht das das Proletariat nicht mehr vorhanden ist. Man nennt es nur halt anderes. Entweder Prekariat oder Angestellte.
Soweit verdummt das sie nicht anfrangen ihren Glauben in Frage zu stellen.
In sofern sind die Neocons nicht besser als radikale Religionsanführer.
Neusprech gut erklärt. Ich machte die Erfahrung das viele Leute nicht verstehen was gesagt oder geschrieben wird, weil man sie indoktriniert hat. Oder sie verdummt wurden.
Daher verbreite ich diesen Link wo es nur geht:
http://www.neoliberalyse.de/index.php?option=com_content&view=article&id=108:leben-im-schnelldurchlauf&catid=40:journalistisches&Itemid=73