Innovation und Fortschritt

Bewusstsein und Politik

Die immer noch zunehmende Dominanz des ökonomischen Teilsystems der Gesellschaft über das Gesamtsystem hat eine – medial verstärkte – Bewusstseinskrise ausgelöst, die sich in der Dominanz neoliberaler Ideologie und einer entsprechenden Einschränkung von Denk- und Handlungsalternativen für die gesamte Gesellschaft, und daher auch für die Kultur und die Politik, ausdrückt.

Die kulturelle Sphäre, die eigentliche Reflexions- und Bewusstseinssphäre im Hinblick auf das gesellschaftliche Ganze, wird faktisch eingeschränkt und abgewertet. Die herrschende neoliberale Ideologie verstärkt, weil sie die Ideologie der Herrschenden ist, trotz ihres praktischen Versagens ihren Einfluss, und sie beschränkt in gleichem Maße den kulturellen Denkhorizont. Damit ist das gesellschaftliche Potenzial kreativer Problemlösungen einem Schrumpfungsprozess ausgesetzt, während der sich aus der gesellschaftlichen Reproduktionskrise ergebende Problemdruck fortlaufend ansteigt.

Die Bewusstseinskrise und die Erosion der gesellschaftlichen Problemlösungskapazität resultieren unter der Vorherrschaft der Ökonomie aus der Dialektik von verfestigter, internalisierter „Berufsrolle“ (der sogenannten „Charaktermaske“) und „Subjekt“, zwischen denen der Bildungsprozess schwingt. Beide sind identisch und gleichermaßen nichtidentisch.

Identisch sind Sie, insofern das menschliche „Subjekt“ im Verlauf des historischen Prozesses (d. h. der Herausbildung und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft) seiner jeweiligen „gesellschaftlichen Formbestimmung“ untergeordnet wird. Aber die menschlichen Subjekte sind und bleiben mit ihren jeweiligen Berufsrollen nichtsdestoweniger auch nichtidentisch. Und diese Nichtidentität kann sich als Autonomie und im Grenzfall als Revolte des Subjekts darstellen, wenn, wie z. B. Gauguin gezeigt hat, eine „bürgerliche Existenz“ zugunsten eines Daseins als Künstler aufgegeben wird.

Subjekt und Gesellschaft

Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Polen ist von erheblicher Bedeutung. Die zunehmende Dominanz der Ökonomie über die Gesellschaft wird als Tendenz zur Kommerzialisierung unmittelbar erfahrbar, und dieser entspricht die – sich als Gebot individueller Klugheit ergebende – Ökonomisierung der individuellen Handlungskalküle. Das tendenziell rational handelnde Subjekt passt sich an die ökonomisch bestimmten Berufsrollen oder „Charaktermasken“ an. Das Subjekt zieht sich aber durch diesen notwendigen Anpassungsprozess gleichsam selbst aus dem ökonomischen Bereich zurück und entfaltet seine Autonomie und sein Potenzial allenfalls außerhalb dessen, z.B. als familiäre „Eigenarbeit“, als „ehrenamtliche“ Tätigkeit, als religiös motivierte Aktivität, als politisches Engagement, als sogenanntes Hobby, usw.

Aber die ökonomische Irrelevanz seines Tuns entwertet das an seine Berufsrolle (oder Charaktermaske) angepasste Subjekt. So wird das Subjekt – schlimmstenfalls – derart geschwächt, dass es sich dem Anspruch der Gesellschaft, d. h. dem Druck der Berufsrolle nicht mehr entgegenstellen kann. Es wird gleichsam absorbiert. Dann aber ist der Verlust der Berufsrolle – z. B. durch Arbeitslosigkeit, durch Konkurs, durch Pensionierung – häufig nicht nur die Erfahrung der sozioökonomischen Entwertung mit dem Gefühl des Selbstwertverlustes, sondern konfrontiert außerdem unmittelbar mit der Leere des Subjekts, einer erschreckenden Erfahrung des Nichts oder der Todesnähe, die in Angst und Depression umschlägt.

Im Punkt der vollständigen Funktionalisierung des Subjekts durch die Ökonomie ist eine Reflexion außerhalb ökonomischer Kategorien kaum mehr möglich. Das Subjekt verfügt dann kaum noch über den Ansatzpunkt und die innere Kraft zu dem Widerstand, durch das es sich retten könnte. Daher kommt es darauf an, das Widerstandspotenzial des Subjekts rechtzeitig gegen die Anforderungen und Zumutungen der Ökonomie zu stärken.

Subjekt und Bildung

Eine wichtige Möglichkeit hierzu liegt in der Bildung. Sie erlangt in einer „Wissensgesellschaft“, in der unqualifizierte Arbeit durch Maschinen ersetzt, in einen Niedriglohnsektor verdrängt oder in Niedriglohnländern verlagert wird, eine auch soziologisch überragende Bedeutung, weil die funktionale Ausbildung massenhaft immer höhere Qualifikationen erfordert. Deren Vermittlung ist unvermeidlich mit Bildungsprozessen verbunden, was denjenigen Interessenvertretern, die eine möglichst weitgehende Funktionalisierung der Ausbildung anstreben, oft gar nicht gefällt.

In diesen Bildungsprozessen liegt die Chance der Produktion eines gesellschaftlichen Überschusses an Bewusstsein, was vielleicht einmal eine Art „kritischer Masse“ erreichen könnte. Aber dieser Prozeß muß gegen die Ökonomisierungstendenz behauptet werden. Und einschränkend zu bedenken ist auch, dass dieser mögliche zukünftige Überschuss an Bewusstsein nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für ein politisches Handeln ist, das die Reform der Produktionsverhältnisse zum Gegenstand hat.

Während „Ausbildung“ eine gesellschaftliche Vermittlung von Kompetenzen (Kenntnisse, Fertigkeiten usw.) zur Anpassung an eine bestimmte Berufsrolle („Charaktermaske“) ist, handelt es sich bei „Bildung“ bzw. bei der Ingangsetzung und Förderung von Bildungsprozessen darum, das Subjekt zu befähigen, verschiedene gesellschaftliche Rollen zu übernehmen und dabei dennoch fähig zu bleiben, stets die Distanz zur jeweiligen Berufsrolle aufrechtzuerhalten und darüber hinaus fähig zu bleiben, sich von diesen Rollen zu distanzieren und – falls nötig – aus ihnen herauszutreten und autonom zu handeln. Eine gebildete Person ist daher primär nicht durch funktionale Leistung, sondern durch die Fähigkeit gekennzeichnet, trotz eines funktional erfolgreichen Adaptationsprozesses die strukturelle Vorherrschaft des Subjekts gegenüber den jeweiligen Berufsrollen („Charaktermasken“) zu behaupten und damit seine Autonomie als Subjekt zu wahren.

Dies muss aber innerhalb des Bildungssystems gegen die Ökonomisierungstendenz, der es unterworfen ist, erst durchgesetzt werden, weil diese Tendenz – wie derzeit im Hochschulbereich beobachtbar – dazu führt, immer weniger zu „bilden“ und immer mehr „auszubilden“, und d. h. für nützliche Funktionen abzurichten. Die derzeitige neoliberal inspirierte Ökonomisierung der Hochschulen ist ein rückschrittliches und blindes Moment der gesellschaftlichen Verdummung.

Gesellschaftliches Bewusstsein und Politik

Aus diesen ökonomischen, soziologischen und bewusstseinsmäßigen Aspekten ergibt sich die derzeitige Krise der Politik, die zwar versucht, systemische Veränderungen als Strategie von Reform unter dem Leitbegriff der Modernisierung zu kommunizieren, aber als Konsequenz der gesellschaftlichen Bewusstseinskrise (bisher) nicht in der Lage ist, im Denken und im Handeln den aufgeherrschten neoliberalen Ökonomismus analytisch und konzeptionell zu überwinden.

Die Politik reagiert auf die gesellschaftliche Krise in ihrem Selbstverständnis pragmatisch, tatsächlich aber ohne hinreichende Analysen und konzeptionelle Vorstellungen und mit aktionistischem Handeln, und sie laviert dabei zwischen unterschiedlich mächtigen gesellschaftlichen Partialinteressen, bleibt damit aber weithin unter dem Niveau der Probleme. Das entscheidende Problem liegt darin, dass die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht thematisiert werden dürfen. Dies gilt auch, soweit die Politik auf die ökonomischen und sozialstaatlichen Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Krise mit einer Reformstrategie unter dem Leitbegriff der „Modernisierung“ strategisch zu reagieren versucht.

Reformen werden heute als „Modernisierung“ bezeichnet. Eine Analyse der Modernisierungsprojekte auf verschiedenen Politikgebieten zeigt aber, dass sie eine Form der „Amerikanisierung“, der Privatisierung des staatlichen Handelns überhaupt und auch des Rückbaus des Sozialstaats darstellen. Die Notwendigkeit und Sinn werden aber nicht rational begründet und diskursiv vermittelt, sondern interessengetrieben und medial aufgerüstet kampagneförmig durchgesetzt.

Zum ersten kann dies als Ausdruck der kulturellen Hegemonie der USA begriffen werden, zum zweiten als Folge der Tabuisierung der zentralen Verteilungsfrage, und zum dritten als Verlust originärer analytischer und konzeptioneller Kompetenzen.

Die parteipolitischen Programmatiken beziehen sich auf Ideologien, insbesondere den Neoliberalismus, bleiben analytisch-konzeptionell aber weitgehend fundleer. Während die Unionsparteien den Neoliberalismus modernistisch und konservativ interpretieren, versteht die Sozialdemokratie den Neoliberalismus als „Sachzwang“, der durch Herstellung relativer sozialer Gerechtigkeit (praktisch nur innerhalb der Gesamtheit der Lohnabhängigen) zu korrigieren ist. Und die Grünen betonen die ökonomischen Effekte ökologischer Politik, während die Freien Demokraten sich als ökonomistische Fundamentalisten darstellen.

weiter >>

Print Friendly, PDF & Email
Filed in: Dossier, Ökonomie Tags: , , , , , ,

Ähnliche Artikel:

<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Kapitalismus und Freiheit</span><br/>Der Totalitarismus des freien Marktes Kapitalismus und Freiheit
Der Totalitarismus des freien Marktes
<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Flucht und Integration</span><br/>“Das ökonomische System ist ein blinder Fleck” Flucht und Integration
“Das ökonomische System ist ein blinder Fleck”
<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Innovationen</span><br/>Der nützliche Staat Innovationen
Der nützliche Staat

3 Kommentare zu "Innovation und Fortschritt"

  1. Frau Lehmann sagt:

    Vielen Dank für diese außerordentlich gute und differenzierte Analyse!

  2. Ich schließe mich natürlich dem obigen Kommentar an.
    Die einzige Ausführung des Textes, der ich kritisch gegenüber stehe, ist der Punkt “Demographie und Sozialstaat”. Ich bezweifle die übliche Behauptung, – die leider auch hier geteilt wird -, dass die Demographischen Veränderungen bzw. die veränderte Alterstruktur die sozialen Sicherungssysteme tatsächlich überfordern. Dies ist eine These, die von gewissen Interessensgruppen gezielt gestreut wird, allen voran von den privaten Versicherungskonzernen. Die Nachdenkseiten haben sich mit dieser Art von “Meinungsmache” schon häufiger befasst.
    Ich persönlich vertrete vielmehr die Sichtweise, dass die demographische Entwicklung durch die ständig steigende Produktivität – oder im Duktus des Autors die Beschleunigung der Produktivkraftentwicklung – leicht aufgefangen werden könnte.
    In diesem Kontext ist auch die interessengesteuerte Demontage des umlagefinanzierten Rentensystems unverzeihlich.

  3. Pistepirkko sagt:

    Interessant find ich das ich dies schon zweimal als Kommentar so ähnlich gepostet hatte.
    Wo bleibt ein philosphischer Ansatz wie wir leben wollen?
    Letztendlich ist ein System das von Menschen gelebt wird nichts anderes als der Glaube daran das dieses System funktioniert.
    Fangen wir doch wieder damit an daran zu glauben das wirtschaftliches Handeln dem Menschen dienen muss und nicht umgekehrt.
    Fangen wir doch wieder an zu glauben das wir Bildung und nicht Ausbildung brauchen. Die Bildung ist mittlerweile so weit runtergeschraubt das man aus Proletariat das Prekariat machte.
    Ich finde nämlich nicht das das Proletariat nicht mehr vorhanden ist. Man nennt es nur halt anderes. Entweder Prekariat oder Angestellte.
    Soweit verdummt das sie nicht anfrangen ihren Glauben in Frage zu stellen.
    In sofern sind die Neocons nicht besser als radikale Religionsanführer.

    Neusprech gut erklärt. Ich machte die Erfahrung das viele Leute nicht verstehen was gesagt oder geschrieben wird, weil man sie indoktriniert hat. Oder sie verdummt wurden.
    Daher verbreite ich diesen Link wo es nur geht:

    http://www.neoliberalyse.de/index.php?option=com_content&view=article&id=108:leben-im-schnelldurchlauf&catid=40:journalistisches&Itemid=73

Einen Kommentar hinterlassen

Kommentar abschicken

le-bohemien