Wenn „Grenzüberschreitung“, Freizügigkeit und Entwurzelung als höchstes Freiheitsziel gelten.
Der „Grenzüberschreitende Lebensentwurf“ ist „in“. Er hat viele Namen, in denen er zum Ausdruck kommt. Kosmopolitismus, Globalismus, Multikulturalismus, Transnationalismus. Sie meinen nicht alle dasselbe, lassen sich aber in ihrer Verwendung auf ein sich überschneidendes ideologisches Grundmotiv herunterbrechen. Aus diesen Zutaten ist nicht mehr nur die Suppe des hippen, linksgrünen Lifestyles des 21. Jahrhundert gekocht. Und längst nicht alleine die radikale Linke subsumiert all dies unter dem Slogan „no borders, no nations“.
Migrationsbewegungen und Transformationsprozesse, die durch diese Begriffe mitunter beschrieben werden sollen, sind in Großstädten seit Jahrzehnten Realität. So wird der „grenzüberschreitende Lebensentwurf“ etwa in Erol Yildiz Buch „Die weltoffene Stadt“ als fortgeschrittenes Phänomen multikultureller Urbanität geschildert. Freilich ist gegen solche, natürlich gewachsenen Formen von Vielfalt und Internationalität, wie sie der türkischstämmige Professor für Soziologie skizziert, im Mikrokosmos diverser selbstgewählter Einzelschicksale nichts einzuwenden.
Problematisch wird es dann, wenn daraus, wie in dem oben erwähnten Slogan, eine politökonomische Agenda wird, die Globalisierungs-, Migrations- und Transnationalisierungsprozesse zu einem ideologischen Leitbild macht, dem alles andere untergeordnet werden soll. Genau dies geschieht etwa in Form von Freihandelsabkommen wie TTIP oder Ceta, sowie in der EU durch Marktliberalisierungen im Namen der „Vier Grundfreiheiten“.
Der Puls der „Freiheit“
Und doch impliziert der „Grenzüberschreitende Lebensentwurf“ mehr als etwa die Unverhandelbarkeit der „Vier Grundfreiheiten“ der EU, wie sie der PR-Gag #pulseofeurope reklamiert. Obwohl der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital aus guten Gründen an sich schon diskussionswürdig genug wäre.
Deutlich wird das etwa in einem Einwurf eines Politikwissenschaftlers beim Max-Plank-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG). Dieser reagierte in einer hitzigen Debatte auf die Kritik eines Kollegen an #pulseofeurope mit der Behauptung, „dass die Aussage‚ Grundfreiheiten sind nicht verhandelbar‘ keine sinistre Unterstützung von Marktliberalisierung“ implizieren „oder gar eine politökonomische Analyse hinter sich“ herschleifen würde, „sondern vielmehr ein Bekenntnis zu offenen Grenzen und grenzüberschreitenden Lebensentwürfen ist.“
Nebenbei bemerkt, die Anerkennung der „Vier Grundfreiheiten“ impliziert genau dies: nämlich zwangsläufig die Unterstützung der „Marktliberalisierung“. Und genauso ist das „Bekenntnis zu offenen Grenzen und grenzüberschreitenden Lebensentwürfen“ nicht von einer Freizügigkeit des Kapitals zu trennen. Einem Politökonomen des MPIfG müsste der Umstand, dass die Vier Grundfreiheiten im engen Zusammenhang mit der Marktliberalisierung auch im „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)“ benannt werden, eigentlich bewusst sein.
Bezeichnend ist dieses Postulat auch insofern, als dass ein neoliberales Vorzeigeprojekt, der freie Kapitalverkehr in einem freien – kurzfristig europäischen Binnen-, aber langfristig global gedachten – Weltmarkt, mittlerweile auch von einer „progressiven“ Ökonomenzunft verteidigt wird. Und das, obwohl der EuGH schon längst im Namen dieser Grundfreiheiten dabei ist, die Sozialordnungen der Mitgliedsstaaten auszuhebeln.
So reicht der Umstand, dass diese Freiheiten „seit Jahren oder Jahrzehnten vertraglich gesichert sind“, für einen Ökonomen in der gleichen Debatte offenbar schon als Rechtfertigung aus, diese für sakrosankt zu erklären. Wer sie „bedroht“, gehört für diesen, immerhin im IMK der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung tätig, in die Riege aus „Faschisten, Rechts- und wohl auch Linkspopulisten“.
Neoliberale Mythen
Doch zurück zum ideologisierten Konstrukt des „grenzüberschreitenden Lebensentwurfs“. Zum Ausdruck kommt darin weit mehr als nur ein frohes Bekenntnis zur bloßen Personenfreizügigkeit im Rahmen des Schengener Abkommens. In ihm offenbart sich der gesamte neoliberale, postmoderne Mythos, der keine Einschränkungen mehr zulässt und damit in seiner „Grenzüberschreitung“ maßlos ist. Keine „Grenzen“ zu kennen, ist nicht nur ein gescheitertes antiautoritäres pädagogisches Konzept der 68er. Die „Grenze“ ist in den Dekaden ökonomischer und kultureller neoliberaler Hegemonie zu einem Synonym für alles Negative geworden, sprich zum Gegenbild der „Freiheit“.
„Think global“ ist das Leitmotiv einer trendigen, urbanen Elite, aus der sich auch die diffuse postmoderne Linke speist. Wohlgemerkt, global zu denken, ist natürlich alles andere als schlecht, wenn damit ein Verantwortungsbewusstsein gemeint ist. Treibt man diese Geisteshaltung jedoch auf die Spitze, ist sie in ihrer extremen Form die Schwester des „Grenzüberschreitenden Lebensentwurfs“.
Yildiz etwa versteht unter dieser Wortschöpfung „Lebensentwürfe, Differenzen und Zugehörigkeiten“, die „in Bewegung geraten“ und „ihre Eindeutigkeit und räumliche Fixierung“ verloren haben und damit den „Einzelnen immer wieder zum Nachdenken über die eigene Biographie und Lebenskontexte nötigt“. „Nationale Erzählungen“ würden „fragwürdig“, „Globalität wird in urbanen Kontexten zur alltäglichen Erfahrung“ und die Migration lasse den „Mythos der andauernden Sesshaftigkeit in Frage [stellen]“.
In letzter Konsequenz ist der „grenzüberschreitende Lebensentwurf“ damit das Pendant zur ökonomischen Globalisierung samt ihren marktfundamentalistischen Paradigmen, die mit dem Ende von Bretton Woods und der Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen einsetzte. Konsens und politisches Credo ist dementsprechend die Poppersche „Offene Gesellschaft“. In ihrem Sinne wird in einer Forschungspublikation des Max-Plank-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht folgendes postuliert:
«Während in geschlossenen Gesellschaften staatliche Gesetzgeber mit einiger Sicherheit den künftigen Verbleib ihrer Staatsbürger vorhersagen konnten, haben sie dieses Wissen mit der Öffnung der Gesellschaften eingebüßt.»
Das ist eine starke These angesichts der Tatsache, dass die Zahl der Fortzüge von deutschen Staatsbürgern seit 1991 in der Größenordnung zwischen knapp 100.000 und 175.000 variert und auch historisch kein neues Phänomen ist. Abzüglich von Heimkehrern betrug die Nettoauswanderung 2015 nur ca. 17.500 Staatsbürger, was gerade einmal 0,02 % der Bevölkerung entspricht. Von diesen 0,02 % waren der überwiegende Teil wiederum gut ausgebildete Fach- und Führungskräfte, was bestätigt, das der „grenzüberschreitende Lebensentwurf“ in Deutschland vor allem ein Elitenprojekt ist.
Die Staatsbürgerschaft als Konsumgut
Deutlich wird durch die Publikation also vor allem eine konzeptionelle Umdeutung der Staatsbürgerschaft als beliebiges, liberalisiertes und entnationalisiertes Konstrukt, bei dem das Wissen, wohin und wozu es gehört, nur „noch bei den Individuen vorhanden“ ist, welche vom „Wettbewerb der Rechtsordnungen“ profitieren. Folgerichtig glaubt die Philosophin Catherine Colliot-Thélène, in der Entnationalisierung der Staatsbürgerschaft neue Perspektiven für eine Demokratie ohne demos und jenseits des staatlichen Gemeinwesens erkennen zu können.
Diese extreme und bisweilen immer aggressiver zum Ausdruck gebrachte postnationale Agenda ist zur Realität in den sozialwissenschaftlichen, ökonomischen, kulturellen und öffentlichen Debatten geworden. Alles nationale, staatliche, einhegende, kontrollierende und beschränkende wird als verstaubt, übergriffig, reaktionär und einschränkend für das individuelle Freiheitsstreben empfunden. Wer den Nationalstaat heute noch als Hort der Interessenvertretung – etwa für soziale Rechte – begreift und verteidigt, wird auch in den Feuilletons schnell als Populist oder Nationalist diffamiert.
Für die postmoderne Gesellschaft hat folglich das Denken in Kategorien sozialer Gerechtigkeit, die über Kollektive im nationalstaatlichen Bezugsrahmen erkämpft und erstritten werden, keine Bedeutung mehr. Hier gilt das Arbeiten am eigenen ethischen Kontostand. Gerecht ist – global gedacht –, wer Fairtrade-Produkte konsumiert. Ansonsten gilt das Prinzip der grenzenlosen Selbstverwirklichung. Es ist also kein Zufall, dass die soziale Frage längst dem Projekt der kulturellen Diversity zum Opfer gefallen ist.
Stößt das grenzenlose Selbstverwirklichungsversprechen als liberales Projekt der Moderne, das man als „progressiv“ denkender Mensch fast zwangsläufig in den „Grenzüberschreitenden Lebensentwurf“ als höchste und vollendete Steigerung des autonomen Individualismus transzendieren muss, an seine zum Glück noch real existierenden Grenzen, macht sich die gleiche Desillusionierung breit, der gerade auch der verwandte Mythos des „American Dream“ ausgesetzt ist.
Vergessen wird in unserer hyperindividualisierten und -beschleunigten Welt, dass Grenzen auch Schutz und Rechte bedeuten und damit Freiheit überhaupt erst ermöglichen. So steht hinter der „Grenzüberschreitung“ in letzter Konsequenz auch eine Grundhaltung der Verantwortungslosigkeit. Seine eigene Grenze/Freiheit bis ins unendliche auszudehnen nämlich bedeutet, die des anderen aufzukündigen. Keine Grenzen zu kennen oder zu wollen heißt auch, sich nicht binden zu wollen, die Zugehörigkeit und Verpflichtung als Citoyen eines Gemeinwesens zu leugnen und die Staatsbürgerschaft als ein allerorts und jederzeit zu erwerbendes Konsumgut misszuverstehen.
Citizen of Nowhere
Die britische Premierministerin Theresa May brachte diesen Umstand im Oktober vergangenen Jahres auf den Punkt:
«If you believe you’re a citizen of the world, you’re a citizen of nowhere.»
Der Entwicklungsökonom Dani Rodrick griff dieses Zitat in einem Artikel für Project Syndicate auf und wies zu Recht darauf hin, dass die wirkliche Staatsbürgerschaft die Interaktion und die Beratungen mit anderen Bürgern in einer gemeinsamen politischen Gemeinschaft beinhaltet. Sie bedeutet, an der Politik teilzunehmen, um die Politik mitzugestalten. “Globale Bürger” dagegen haben derlei Rechte oder Pflichten nicht. Ihnen gegenüber ist niemand verantwortlich und es gibt niemanden, dem sie sich rechtfertigen müssen.
Nun passt es für das Figurativ der globalen Staatsbürgerschaft wie des „grenzüberschreitenden Lebensentwurfs“ trefflich ins Bild, dass deren Exponenten das Gemeinwesen als überholt (Thélène) wie die Gemeinschaft für „imaginär“ (Yildiz) ansehen. Spätestens hier wird der „Grenzüberschreitende Lebensentwurf“ zu einer gefährlichen Chimäre, der dem Gedanken des Souveräns und der Demokratie (die an den begrenzenden Nationalstaat gebunden sein muss) diametral entgegensteht.
Rodrick bekanntes „Trilemma der Weltwirtschaft“ besagt auch warum: Es könne nicht gleichzeitig Demokratie, nationale Selbstbestimmung und wirtschaftliche Globalisierung betrieben werden. Denn wer die Globalisierung weiterführen wolle, so Rodrick, müsse entweder den Nationalstaat oder demokratische Politik aufgeben. Wer hingegen die Demokratie behalten und vertiefen wolle, müsse zwischen dem Nationalstaat und internationaler wirtschaftlicher Integration wählen.
Erpresster Wanderungszwang
Beherzigt man diese These Rodricks, steht nicht nur der vielgeschmähte Protektionismus plötzlich in einem anderen Licht, sondern auch die eigentlich banale Erkenntnis, dass jegliches Privatrecht letztlich an das öffentliche Recht des Staates gebunden sein muss.
So weit aber wird nicht gedacht in den urbanen Vierteln der selbsternannten Avantgarde. Die „progressiven“ Globalisten mögen unter Freizügigkeit und „Grenzüberschreitenden Lebensentwürfen“ das privilegierte und weltoffene Jetsetleben einer elitären Schicht im Auge haben und glauben dabei, die Demokratie gegen die „Populisten“ gleich mit zu verteidigen.
Für die Mehrheit im Zeitalter des Neoliberalismus bedeutet dies jedoch schlicht, dass das „Humankapital“ umstandslos und jederzeit für den beliebigsten Zweck gerade an den hochagglomerierten Orten des Globus bereitzustehen hat. Für die Prekarisierten der Welt nämlich ist Freizügigkeit – insbesondere die des Kapitals – nichts anderes als ein erpresster menschlicher Wanderungszwang. So entpuppt sich die Unfreiheit der Masse in einer entgrenzten Welt unverhüllt als höchstes Freiheitsziel.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Makroskop
»Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden noch die Frucht derselben zu genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.« (Wilhelm von Humboldt). Nicht daß sich jemand wünschen sollte, es wäre Nacht oder die Preußen kommen!
Der „grenzüberschreitende Lebensentwurf“ verneint die Bindung an Nation oder Staat als Solidargemeinschaft. Ähnlich wird aber auch gegenüber der Solidargemeinschaft Familie grenzenlose Freiheit propagiert. Wie problematisch das ist (nur wenige Gewinner, aber viele Verlierer entstehen), wird etwas dramatisierend beschrieben im Buch “Das Ende der Liebe – Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit” von Sven Hillenkamp. Das Buch beschreibt den Stress durch den Beziehungsmarkt, wo man ständig “marktkonform” weitersuchen soll, sobald ein “Partner” nicht glücklich macht. Wie soll dieses labile, egoistische Verfahren eine gemeinsame Entwicklung erlauben? Die daraus resultierende Ödnis alternder Singles beschreibt Michel Houellebecq in “Elementarteilchen”, “Unterwerfung”.
Absolute Freiheit ist auch Bluff im Interesse der Nutznießer, da überall, wo Leistungen erzielt werden (zB Industrie, Handel usw), keine “Freiheit” herrscht, sondern Disziplin durchgesetzt wird, d.h. die Unterordnung der Einzelperson unter die Ziele der Körperschaft.
Eine sehr schöne Ergänzung.