Ausbeutung
“Ethischer Konsum” ist auch keine Lösung

An der Kleidung, die wir tragen, klebt Blut. Doch “ethischer Konsum” ist keine Lösung. Statt an der Logik des globalen Kapitalismus zu rütteln, ist der Trend selbst ein Produkt derselben.

Rana-Plaza Ethischer Konsum

Bild: NYU Stern BHR / flickr / CC BY-NC 2.0

Vor einiger Zeit fanden zwei Frauen in Wales eine versteckte Botschaft in Kleidern, die sie bei Primark gekauft hatten. Auf einem gewöhnlichen eingenähten Kleidungszettel war zu lesen: “Degrading sweatshop conditions”. Auf einem anderen: “Forced to work exhausting hours.”

Bis heute weiß man nicht, wer dahinter steckte. Primark behauptete, die Botschaften sein erst in England angebracht worden. Das ist zwar möglich, bleibt aber eine absurde Verteidigung: Primark kann kaum glaubhaft abstreiten, dass ein chinesischer Lohnsklave uns genau diese Nachricht schicken würde, wenn er es könnte. Jeder, der bei Primark ein T-Shirt für zwei Euro kauft, weiß, welche Arbeitsbedingungen hinter diesen Preisen stehen.

2013 ist in Bangladesh die “Rana Plaza”-Fabrik eingestürzt, in der unter anderem für Primark produziert wurde. 1138 Textilarbeiterinnen starben, 2500 wurden verletzt. Es war nur die schlimmste aus einer langen Reihe ähnlicher Katastrophen in der Textilindustrie Bangladeshs. Höhere Gewalt hat damit nichts zu tun; die Sicherheit der Arbeiter ist nur ein weiterer Kostenpunkt, den sich die Fabrikbesitzer nicht leisten wollen. Trotz sichtbarer Risse in Wänden und Decken hatte das Management den Näherinnen damals verboten, die Fabrik zu verlassen: ein Auftrag musste termingerecht abgegeben werden.

Der vor kurzem erschienene Dokumentarfilm “The True Cost” von Andrew Morgan nimmt Rana Plaza als Ausgangspunkt, um uns einmal mehr zu erzählen, was wir eigentlich alle wissen: die “wahren Kosten” unserer billigen Produkte sind unmenschliche Ausbeutung und die Zerstörung der Umwelt – und sie werden am anderen Ende der Welt bezahlt.

Morgan interviewt Arbeiterinnen in Bangladesh, westliche Aktivisten und NGO-Mitarbeiter und breitet den ganzen Horror der globalen Textilindustrie aus – von den Baumwollfarmern in Indien, die von Monsanto in den Selbstmord getrieben werden, bis zu den Bergen gespendeter Kleidung in Haiti, die dortige Textilarbeiter in den Ruin getrieben haben. Und natürlich die Zulieferer in Bangladesh, die die immer billigeren Preise in Form unmenschlicher Arbeitsbedingungen an ihre Arbeiter weitergeben.

Wer die Geschehnisse in Bangladesh etwas verfolgt hat, wird aber eine etwas merkwürdige Lücke in dem Film bemerken. Nach Rana-Plaza hat der enorme Protest der Arbeiter in Bangaldesh und der jahrelange Aktivismus von westlichen NGOs und Gewerkschaften endlich zu so etwas wie greifbarem Fortschritt geführt. So wurde der Accord for Fire and Building Safety von den meisten europäischen (und einigen amerikanischen) Marken unterzeichnet und deckt fast 50 Prozent der für den Export produzierenden Fabriken in Bangladesh ab. Im Gegensatz zu all den “freiwilligen Verpflichtungen” der Vergangenheit sieht er nicht nur eine Einbindung der lokalen Gewerkschaften vor, sondern verpflichtet die westlichen Konzerne zu verbindlichen Investitionen.

Das ist nicht perfekt, aber zumindest richtungsweisend. Umso merkwürdiger ist es da, dass der Film den Accord einfach ignoriert. Lösungsansätze bietet der Film nämlich schon, vor allem in Form des Unternehmens PeopleTree, das ethisch korrekte und fair gehandelte Mode herstellt.

Der bewusste Konsument soll die soziale Bewegung ersetzen

Dieser Fokus ergibt sich aus einer Grundannahme des Filmes, die auch dem inzwischen blühenden Industriezweig der “ethischen Mode” zugrunde liegt. Deutlich sieht man das an der Sequenz über das Leiden der indischen Baumwollfarmer, die wegen dem Geschäftsmodell von Monsanto ihren Besitz und damit ihren Lebensunterhalt verlieren.

Man will meinen, hier sei Monsanto verantwortlich. Oder gar ein globaler Kapitalismus, der bisher frei zugängiges Saatgut zu einer knappen Ware macht und damit Bauern in der Dritten Welt die Existenzgrundlage entzieht. Doch “The True Cost” klärt auf. Von den indischen Farmern wechselt der Film direkt zu Aufnahmen von Mobs in westlichen Kleidungsgeschäften, die sich um irgendwelche Sonderangebote prügeln. Aus dem Off erklingt das ernste Verdikt: “It becomes clear what impact fashion has on our lives.”

Der wirkliche Schuldige sind also wir – wir Konsumenten und unsere Besessenheit von immer mehr und immer billigerer Kleidung. Besonders angeklagt wird in dem Film das “Fast Fashion”-Konzept von Modeketten wie H&M, Zara und Primark, bei dem kontinuierlich das Sortiment gewechselt wird, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben.

Einen Zusammenhang zwischen Fast Fashion und dem Sweatshop-Archipel in Bangladesh und anderen Ländern gibt es natürlich. Die absurd niedrigen Preise und ständig wechselnden Produkte sind nur mit intensivster Ausbeutung zu haben. Zwischen 2000 und 2014 sind die Produktionskosten eines Kleidungsstücks um 40 Prozent gesunken.

Doch im “High-Fashion” Segment und bei teuren Marken wie Nike sind die Arbeitsbedingungen kaum besser. Höhere Preise führen dort nur zu höheren Gewinnmargen. Die extrem billige Produktion in Ländern wie Bangladesh und China ist also nicht einem Konsumtrend geschuldet, sondern das Ergebnis neuer Strategien der Profitmaximierung. Der Fokus auf den westlichen Konsumenten verstellt da den Blick auf das, was wirklich nötig wäre, um die Lage der Textilarbeiterinnen in der Dritten Welt zu verbessern.

Die Illusion des ethischen Unternehmens

Was das wäre, zeigt einmal mehr das Beispiel Bangladesh. Seit langem ist das Land ein Herzstück der globalen Produktionskette, vor allem weil es noch billiger ist als China. Die Textilindustrie in Bangladesh ist seit 1985 von 116 Millionen Dollar auf 25,4 Milliarden gewachsen und beschäftigt 4-5 Millionen Arbeiter. Die meisten von ihnen sind Frauen, die erst kürzlich vom Land in die Stadt gezogen sind, um Arbeit zu finden.

Vor der Katastrophe in Rana-Plaza war das Feuer in der Tazreen-Fabrik durch die westlichen Medien gegangen, bei dem 112 Menschen umkamen. Tazreen war wiederholt von Inspektoren des Abnehmers Wal-Mart besucht worden, die die Einhaltung von Sicherheitsstandards überprüfen sollten. Nie hatten sie irgendwelche Mängel festgestellt, wie etwa das Fehlen von Notausgängen, was für die meisten Todesopfer verantwortlich war. Auch Rana Plaza ist zweimal von Primark untersucht und für sicher befunden worden. Eine Studie der Universität Sheffield hat vor einiger Zeit herausgefunden, was jedem (außerhalb von Davos) klar sein dürfte: freiwillige Selbstkontrolle bringt nichts. Internationalen Konzernen ins Gewissen zu reden, schien bisher so aussichtsreich, wie einen Wolf zum Vegetarismus zu erziehen: es ist gegen ihre Natur.

Dieser düsteren Sicht der Dinge scheint der erfolgreiche Aktivismus westlicher NGOs wie der CleanClothesCampaign zu widersprechen. Doch nur auf den ersten Blick. Natürlich kann eine moralische Anklage westliche Modemarken dazu zwingen, aus Imagegründen gewisse Standards einzuhalten. Es hat schon seinen Grund, dass Aktivisten in Bangladesh nach jeder Katastrophe in die noch rauchenden Trümmer hinabsteigen, um die Labels der westlichen Modemarken zu retten. Doch die oben genannte Studie zeigt ebenso wie die Fälle Tazreen und Rana Plaza, dass westliche Konzerne zwar bereit sind, PR-Maßnahmen zu treffen, aber alles in ihrer Macht stehende tun werden, um eine wirkliche Kontrolle ihrer Zulieferer zu verhindern.

Eine gängige Verteidigungsstrategie ist die Behauptung, dass es sei unmöglich sei, die komplexe Produktionskette zu überwachen. Kalpona Akter hält das für eine “verdammte Lüge.” Seit sie 12 war, hat sie in Sweatshops gearbeitet, führte mit 15 ihre erste Gewerkschaft an und leitet heute das Bangladesh Center for Worker Solidarity. Sie meint:

“Jedes verdammte Unternehmen, jeder Konzern weiß ganz genau was bei ihren Zulieferern passiert. Sie wollen es nur nicht sehen, weil das die dunkle Seite ihrer Profite ist.

Die Macht, sich zu widersetzen

Der Accord geht einen entscheidenden Schritt über die Selbstkontrolle hinaus, denn er sieht verbindliche Inspektionen und Investitionen vor. Doch auch die könnten leicht von lokalen Arbeitgebern unterwandert werden, wäre da nicht der entscheidende Unterschied zu früheren Abmachungen: die aktive Beteiligung der Gewerkschaften an den Inspektionen. Das hat nicht nur zu greifbaren Ergebnissen geführt (54 000 festgestellte Missstände, die verbindlich behoben werden müssen), sondern auch zur Gründung von 300 neuen Gewerkschaften beigetragen. In den beiden Jahren vor Rana Plaza hatte es nur zwei neue Gewerkschaften gegeben.

Der Accord kam auf Betreiben der internationalen Gewerkschaften IndustriALL und UNI in Zusammenarbeit mit NGOs wie der Clean Clothes Campaign und dem Workers Rights Consortium zustande. Noch wichtiger waren aber vielleicht die Proteste, die in Bangladesh selbst stattfanden. Nach Rana-Plaza erfasste eine enorme Streikwelle das Land, die ein Fünftel aller Fabriken lahmlegte und zehntausende Demonstranten auf die Straße brachte. Als Reaktion wurde der Mindestlohn auf 68$ angehoben und damit fast verdoppelt – immer noch weniger, als man zum Leben braucht, und deutlich niedriger als in Kambodscha und Vietnam, aber ein Fortschritt.

Gewerkschaften spielen dabei eine zentrale Rolle, nicht nur im Bezug auf langfristige Veränderungen. In Rana-Plaza zum Beispiel hätte die bloße Existenz einer Gewerkschaft unzählige Leben retten können. Die Arbeiter hatten schon am Tag zuvor die bedrohlichen Risse in ihrer Fabrik entdeckt und sich deshalb am nächsten Morgen geweigert, die Fabrik zu betreten. Erst als ihr Boss damit drohte, jeden zu feuern, der nicht sofort an die Arbeit ging, gaben sie nach. Wären sie organisiert gewesen, hätten sie sich kollektiv weigern können. Genau dazu sind Gewerkschaften gut: sie geben den Arbeitern die Macht, sich zu widersetzen, ohne die Strafe der Bosse fürchten zu müssen.

Das Gleiche kann man über das Feuer in der Tazreen-Fabrik sagen. Dort hatte der Arbeitgeber den Textilarbeitern verboten, die Fabrik zu verlassen und die Türen abschliessen lassen, nachdem das Feuer schon ausgebrochen war.

Abmachungen wie der Accord werden nie wirklich wirksam sein, wenn es nicht gleichzeitig eine Macht “von unten” gibt – die Macht der organisierten Arbeiter, die die Durchsetzung erzwingen können. Zum Beispiel der höhere Mindestlohn: Zweifellos ein wichtiger Sieg. Doch die Abwesenheit von Gewerkschaften hat dazu geführt, dass Arbeitgeber ihn durch verlängerte Arbeitszeiten und eine höhere Arbeitsintensität wieder ausgleichen. Oder sich einfach weigern ihn zu zahlen.

Ein untrügliches Zeichen dafür, dass Gewerkschaften der beste Weg sind, Arbeitgeber zu Konzessionen zu zwingen, ist, dass sie mit brutaler Gewalt unterdrückt werden. Ein HumanRighsWatch Report hat zwei Jahre nach Rana-Plaza die arbeitsrechtliche Lage in Bangladesh untersucht. Der Bericht stellt fest, dass Arbeiter, die eine Gewerkschaft gründen wollen, “körperlicher Gewalt von Managern und angeheuerten Schlägern, Drohungen und Belästigungen ausgesetzt sind. Gewerkschaftsmitglieder werden oft einfach gefeuert.” Eine Arbeiterin erzählt:

“Ich wurde mit Stahlstangen geschlagen als ich schwanger war. Ich wurde in das Büro des Vorgesetzten gerufen und in den 3. Stock zum Management gebracht, wo das Management und der Direktor arbeitet. Dort wurde ich von Schlägern verprügelt. Es waren auch andere Frauen da, die genauso geschlagen wurden. Sie wollten mich zwingen ein leeres Blatt Papier zu unterschreiben, und als ich mich weigerte haben sie wieder angefangen mich zu schlagen. Sie drohten mir und sagten: ‘Du musst aufhören diese Gewerkschaftssache zu machen, warum hast du versucht eine Gewerkschaft zu gründen? Du musst hier unterschreiben!'”

Selbstverständlich könnte der Staat “von oben” die Einhaltung von Arbeitsrechten überwachen. Würden die Arbeitsgesetze in Bangladesh wirklich angewandt werden, wäre der Accord unnötig. Doch die Regierung Bangladeshs wird dominiert von der neu entstandenen Bourgeoisie, die sich am boomenden Exportgeschäft bereichert. Ein Zehntel der Parlamentsabgeordneten besitzen selbst eine Fabrik. Weitere 146 Abgeordnete haben einer Gewerkschaft zufolge mindestens ein Famillienmitglied, dem eine Fabrik gehört. Kaum überraschend hat der Finanzminister den Accord letztes Jahr scharf kritisiert und als „Schlinge um den Hals“ der Exportindustrie bezeichnet.

Auch westliche Regierungen haben – entgegen dem Gerede von der Entmachtung der Nationalstaaten durch die Globalisierung – weitreichende Möglichkeiten, Druck auf Konzerne und die Regierung in Bangladesh auszuüben. 1992 hat der amerikanische Senator Tom Harkin versucht, ein Gesetz einzubringen, dass durch Kinderarbeit hergestellte Importe verbieten sollte. Das Gesetz scheiterte, doch allein die Drohung reichte aus, die vorher weit verbreitete Kinderarbeit in Bangladesh fast komplett zu beenden.

Die EU müsste vermutlich nur einen Finger heben, um die Regierung Bangladeshs dazu zu bringen, Arbeitsrechte wirksam zu schützen. 2014 hat die EU Produkte im Wert von 12,3 Milliarden Euro aus Bangladesh importiert und ist damit der wichtigste Handelspartner des asiatischen Landes. Europäische Importe aus Bangladesh sind unter dem “Alles ausser Waffen”-Arrangement vollkommen von Tarifen und Zöllen befreit. Nach Rana Plaza wurde kurzfristig damit gedroht, dieses Arrangement zu beenden, um sich dann aber mit dem Accord schon zufrieden zu geben.

Ethischer Konsum hingegen hat erst mal nicht das Ziel, Druck auf Regierungen oder Konzerne auszuüben. Wenn er nicht allein der Reinwaschung des eigenen Gewissens dient, besitzt er vor allem zwei politische Komponenten. Er will ein gesellschaftliches Bewusstsein schaffen und durch einen sanften Boykott die Konzerne überzeugen, zu ihrem eigenen Vorteil einzulenken. Zu ersterem lässt sich sagen, dass es ein solches Bewusstsein schon gibt. Jeder weiss von den Sweatshops. Alle Konzerne sind zu Lippenbekenntnissen gezwungen worden – weitgehend ohne Wirkung. Sie zu verbindlichen Verträgen wie den Accord zu zwingen vermag jedoch nur organisierter Aktivismus.

Ein solcher Aktivismus wird aber wirkungslos bleiben, wenn nicht die Macht der Arbeiter in Bangladesh selbst gestärkt wird. Denn selbst wenn westlichen Konzernen Zugeständnisse abgerungen werden, ändert das nichts an der Ohnmacht der Arbeiter. Nike hat sich zum Beispiel kurz nach Rana Plaza von seinem Zulieferer Lyric Industries getrennt, weil dieser sich nicht an die Sicherheitsvorschriften hielt. Das Ergebnis:

“Nur wenige Tage nachdem die Arbeiter bei Lyric Industries ihren letzten Nike-Jogginganzug genäht hatten, rissen die Manager die Verhaltensregeln des Unternehmens von der Wand. Um für ihren neuen Abnehmer zu produzieren, eine japanische Kette mit halb so großen Profit-margen wie Nike, würde die Fabrik ihre Überstunden verdoppeln müssen, sagte ein Lyric Industries Manager.”

Auch ethische Unternehmen wie PeopleTree haben im Endeffekt ein paternalistisches Verhältnis zu ihren Arbeiten (wie auch das deutsche Unternehmen Trigema). Die Arbeiter erhalten faire Bedingungen als Wohltat, sind aber nicht in der Lage, sie als ihr Recht einzufordern, sollte das Management einmal seine Meinung ändern.

“Ethischer Konsum” bleibt Marktkonform

Der begrenzte Horizont des “ethischen Konsums” will im Endeffekt nicht an der Logik des globalen Kapitalismus rütteln, die für die Zustände in der globalen Produktionskette verantwortlich ist und sie immer wieder neu hervorbringen wird. Denn die Billigproduktion in der Dritten Welt ist nicht der moralischen Verdorbenheit einzelner Konzerne geschuldet, sondern ein zentrales Element des gegenwärtigen Wirtschaftsmodells.

Die Theorie besagt, dass die Verlagerung von Produktionen in die Dritte Welt nur Gewinner kennt. Da die Produktion in Bangladesh “effizienter” (sprich: billiger) ist als im Westen, wächst der Gesamtwohlstand, wenn dort produziert wird. Die Kosten sinken und damit auch die Preise – so profitieren die westlichen Konsumenten.

Die wirklichen Gewinner seien aber Länder wie Bangladesh. Dort werden Arbeitsplätze geschaffen und eine wirtschaftliche Modernisierung beginnt. Von dieser Warte aus argumentieren liberale Apologeten der Sweatshops. Ein prominentes Beispiel ist der NYT-Kolumnist Nick Kristof. Angesichts einer vorsichtigen Initiative der Obama-Regierung 2009 warnte er vor unbeabsichtigten Nebenwirkungen:

“Das zentrale Problem in den ärmsten Ländern ist nicht, dass Sweatshops zu viele Menschen ausbeuten, sondern dass sie zu wenige ausbeuten.”

Die ländliche Armut und die Arbeitslosigkeit der Slumbevölkerung sei nämlich noch viel schlimmer. Deshalb seien “Sweatshops nur ein Symptom der Armut, nicht ihre Ursache, und sie zu verbieten, würde bedeuten einen Ausweg aus der Armut zu versperren.”

Man macht es sich zu leicht, wenn man das einfach als zynischen Versuch abtut, die Geschäftspraxis westlicher Konzerne schönzureden. Denn in einem Punkt hat Kristof recht: Die fast fünf Millionen Arbeiter, die unter unwürdigen Bedingungen in Sweatshops arbeiten, sind wirklich auf diese Arbeit angewiesen. In einer Reportage von The Nation wird die 21-Jährige Textilarbeiterin Khadiza Begum mit folgenden Worten zitiert:

“Wenn die Leute, die im Westen unsere Kleidung kaufen, unsere Produkte boykottieren, wird unser Leben noch schlimmer werden.”

Auch ist die Fabrikarbeit gerade für Frauen ein Ausweg aus bedrückenden patriarchalischen Zuständen auf dem Land. Dass die Landflucht zu einem grossen Teil auf durch den Klimawandel verursachte Naturkatastrophen zurückzuführen ist, ändert nichts an diesen schmerzhaften Tatsachen.

Entgegen dem Fetisch der lokalen und handwerklichen Produktion wäre eine ambivalente Sicht auf die Exportindustrie in der Dritten Welt angebracht. Das wäre gewissermaßen linke Tradition. Schon bei Marx gab es eine auf den ersten Blick paradoxe Mischung aus offener Bewunderung für die Bourgeoisie und die Leistungen des Kapitalismus einerseits; und ehrlichem Hass auf die vampirischen Ausbeuter, die sich sogar gegen ein Verbot der Kinderarbeit wehrten, weil sie sich um die Wettbewerbsfähigkeit der englischen Industrie sorgten. 1

Wenn sich im Westen inzwischen gewisse “normative Leitplanken” entwickelt haben, die Konzerne auch jenseits der Gesetzeslage nicht überschreiten dürfen, liegt das nicht an der langsamen Zivilisierung des Managements – etwa durch humanistische Bildung, die ihnen “Empathie” und “Werte” vermittelt habe. Niemand hat mehr von Moral und Christentum geredet als die britische Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts. Dennoch konnte sie erst jahrzehntelanger Protest und der drohende Sozialismus schließlich zu ein wenig sozialer Gerechtigkeit zwingen. Genau dieser Prozess hat nun in Bangladesh begonnen. Auch in China wächst die Zahl der Streiks und Proteste jedes Jahr.

Die Argumente von Kristof und anderen Apologeten gehen kolossal fehl, sobald sie sich gegen diese Versuche richten, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Ihr Postulat ist, dass harte, schlecht bezahlte Arbeit die einzige Option für ein unterentwickeltes Land wie Bangladesh sei. Doch genau das ist es, was die militanten Arbeiterinnen in Bangladesh fordern: harte, schlecht bezahlte Arbeit – aber mit Sicherheit, Würde, Selbstbestimmung, und einem Lohn, von dem man sich tatsächlich ernähren kann. Zu verlangen, sie müssten darauf verzichten, um zum Wohle ihres Landes das Kapital ihrer Ausbeuter zu vermehren, grenzt an kapitalistischen Stalinismus, der für den Fortschritt bereit ist, über Leichen zu gehen.

Um die obszönen Profite westlicher Konzerne zugunsten der Arbeiter in Bangladesh und anderswo umzuverteilen, bedarf es internationaler Solidarität, die vor allem deren eigenen Kampf unterstützt – nicht unseren Rückzug in ethische private Konsumwelten.

Der Versuch, durch Konsumentscheidungen die Welt zu verändern, ist auch insofern unpolitisch, als dass von vornherein eine politische Lösung auf internationaler Ebene ausgeschlossen wird. Dieser fatalistische Zynismus ist verständlich, doch angesichts der enormen Handlungsmacht der Regierungen erscheint es absurd, sie einfach verloren zu geben. Wenn internationale Freihandelsabkommen rechtlich verbindliche “Investorenrechte” durchsetzen können, warum sollte es dann unmöglich sein, die Rechte der Gewerkschaften auf der ganzen Welt zu schützen?

All das mag reichlich utopisch klingen. Wirklich realitätsfern aber ist der Glaube, dass der Trend zum “ethischen Konsum” ausreichen wird, um sich gegen die Logik des globalen Kapitalismus zu stemmen. Vielmehr ist dieser Trend selbst ein Produkt dieser Logik.

Arbeiten am individuellen ethischen Kontostand

Andrew Morgan, der Macher von The True Cost, forderte in einem Interview:

“Du musst Shopping bewusst betreiben. Impulsive Käufe auf den letzten Drücker sind am schlimmsten. Dann hast du keine Zeit nachzudenken. Ich selbst plane es jetzt immer weit im Voraus, wenn ich Kleidung kaufe, so dass ich Zeit habe nachzuforschen und eine informierte Entscheidung zu treffen.”

Dass er sich dabei wie ein Ratgeber zur Auswahl einer Lebensversicherung anhört, ist kein Zufall. Diese Denkweise ist der traurige Rest, der übrigbleibt, wenn die Möglichkeit des kollektiven politischen Handelns aus dem Blick gerät; es bleibt nur das atomisierte Individuum, dass durch unzählige moralische Mikroentscheidungen an seinem ethischen Kontostand arbeitet.

Die Ko-Produzentin des Films, Livia Firth, drückt es so aus: “Become an active citizen through your wardrobe!” In die Tat setzt sie das unter anderem durch ihre “Green Carpet Challenge” um: als Frau eines Hollywood-Stars hat sie sich öffentlich verpflichtet, auf roten Teppichen nur ethisch korrekte Kleidung zu tragen.

Der “ethische Konsum” ist oft kaum von den Distinktionsbemühungen des liberalen Bürgertums zu unterscheiden. Es gibt ihn in der klassisch links-alternativen, asketischen Form, die vor allem Verzicht predigt; und einer neueren, sonnigeren Version, die die Freuden des bewussten Konsums verspricht. Beiden gemein aber ist ein mal mehr und mal weniger subtiles Naserümpfen über den Fast-Fashion Mob. In The True Cost ist das kaum verhüllt zu sehen, wenn zum Beispiel eine Reihe von bizarren, selbstgemachten Youtube-Videos gezeigt werden, in denen junge Mädchen die Beute ihrer Shoppingtrips vorzeigen.

Diese verlorenen Seelen haben offensichtlich noch nicht vernommen, was der im Anschluss interviewte Psychologieprofessor Tim Kasser, zu sagen hat. Der hat nämlich herausgefunden (wissenschaftlich!), dass materielle Werte und der Fokus auf Konsum unglücklich machen. Oder sie sind Opfer der Werbung geworden, die ihnen erst eingeredet hat, sie wollten sich all diese Sachen kaufen. Werbung ist nämlich Propaganda, so der ebenfalls zu Wort kommende Kulturwissenschaftler Mark Miller. Hilfreicherweise werden dazu Aufnahmen von Nazi-Aufmärschen und Hitler gezeigt. Falls der Zuschauer vergessen hat: Propaganda ist böse.

Was sich als Konsumkritik kleidet, ist in den meisten Fällen nur Dünkel, der den unkultivierten Primark-Kunden kollektive Unbedarftheit unterstellt. Als wüssten die nicht ganz genau, dass “Konsum nicht glücklich macht” oder wie bescheuert und manipulativ Werbung ist.

Das alles ist unangenehm, aber auch politisch unklug. Allzu oft treten Linke vor allem als moralischer Prediger des Verzichts auf, anstatt für ein solidarisches Projekt einzutreten, das vor allem die Befreiung von jeglichem unnötigen Verzicht verspricht. Vor allem wenn man wenig Geld hat, wirkt das sehr befremdlich. Denn dann ist Wal-Mart so etwas wie ein Geschenk des Himmels. Für viele Amerikaner ist es das letzte, was zwischen ihnen und echtem Elend steht.

Viel prinzipieller aber bedeutet die Forderung, ethisch zu konsumieren, eine vorauseilende Abdankung aller Ansprüche, die wir vernünftigerweise an unsere Gesellschaft stellen sollten. Die Möglichkeit, einzukaufen ohne pausenlos das Elend in der Dritten Welt kalkulieren zu müssen: wäre das nicht vielmehr ein gutes Argument für einen radikalen Umbau der globalen Wirtschaft?

Die zutiefst deprimierende Botschaft des “ethischen Konsums” ist aber, dass man davon nicht einmal träumen darf. In den Worten von Andrew Morgan:

“Ich will besonders an junge Leute kommunizieren: Hey, es gibt wirklich eine Möglichkeit für dich, Teil davon zu werden, eine Welt zu schaffen, wie du sie dir vorstellst, und zwar durch die einfache und kleine Entscheidung, welche Kleidung du trägst.”

Aus der sonnigen Unschuld dieses Satzes spricht das ganze Elend des Neoliberalismus. Sogar das Verlangen nach einer gerechteren Welt soll privatisiert werden.

—————————————

1 Die selben vampirischen Ausbeuter haben vor 200 Jahren die blühende Textilindustrie des heutigen Bangladehs (damals britische Kolonie) gezielt zerstört und das Land in bittere Armut gestürzt. http://www.theguardian.com/commentisfree/2014/jun/20/britain-took-more-out-of-india

Artikelbild: NYU Stern BHR / flickr / CC BY-NC 2.0

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8 Kommentare zu "Ausbeutung
“Ethischer Konsum” ist auch keine Lösung"

  1. Nico sagt:

    Sehr interessanter Artikel! Danke!

    Ich habe mich insbesondere mit der Textilindustrie in Bangladesch befasst und möchte folgenden Artikel gerne verlinken:

    Vor fast drei Jahren starben über 1.100 Menschen bei einem Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch. Wie so häufig, betonte die internationale Gemeinschaft, dass sich eine solche Tragödie nicht wiederholen dürfe und dass es endlich zu Verbesserungen im Bereich der Menschenrechte und Gebäudesicherheit in der Textilindustrie kommen müsse. Auch der deutsche Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller, kündigte ein Siegel für den fairen Konsum an. Obwohl es in Bangladesch zu ein paar wenigen Verbesserungen im Brandschutz und bei der Gebäudesicherheit kam, besteht das grundlegende Problem der Textilindustrie fort: die Marktgesetze übertrumpfen noch immer viele Bemühungen zur Durchsetzung der Menschenrechte.

    https://zebralogs.wordpress.com/2016/02/26/drei-jahre-nach-rana-plaza-i-kaum-fortschritte-in-der-textilindustrie/

  2. Axel sagt:

    Interessanter Artikel. Zwei Anmerkungen:

    1. Gramsci hätte da ziemlich viel mitreden können, du kannst das Thema auch über seine These der kulturellen Hegemonie denken.

    2. Der Begriff und damit das Konzept “Dritte Welt” sollte sich mittlerweile wirklich erledigt haben. Noch schlimmer als “Entwicklungsländer” und noch mehr Zeichen einer Weltsicht der kapitalistischen “Gewinner”-Staaten. Sechs mal zuviel in diesem Artikel.

  3. Viktor sagt:

    Informierender Artikel, der mich auch nochmal zur tieferen Recherche angeregt hat!

    Allerdings stört mich sehr, dass in diesem Artikel
    a) Auf der Handlungsebene eine binäres Möglichkeitensystem aufgemacht wird. Entweder man kauft ethisch ein ODER man versucht ein gerechteres globales Wirtschaftssystem angetrieben durch Solidarisierung und Stärkung der Gewerkschaften. Warum schliesst das eine das andere aus? Sollen wir also weiter bei Primark einkaufen, bis dieses Ziel erreicht ist bzw. bis “die EU einen Finger gehoben hat”? Was wiederum eine sehr steile These ist, die eine gewisse Allmacht an insbesondere westliche Regierungen unterstellt.
    b) dem Konsumenten jegliche Verantwortung und Handlungsmacht abspricht. Nach dem Motto: Lasst die Regierungen das machen und wir lehnen uns solange zurück und begnügen uns mit dem Solidarisieren während wir weiter mit unserem Geld Primark, McDonalds, Nestle und Co. weiter unser Geld in den Rachen werfen, während gute unterstützenswerte Unternehmen und Projekte scheitern. Dem Autor scheint eine solche Aversion gegen diesen Dünkel oder Distinktionsversuch zu haben, dass der Verlust der positiven Effekte oder Signale aus ethischem Konsum gerne in Kauf genommen wird. Dabei ist jeder Kauf nicht nur eine Entscheidung wohin Geld fliesst, sondern eben auch ein Signal. Und viele solcher Signale können eben auch einen (kleinen) Beitrag leisten, das globale Wirtschaftssystem zu verändern.

  4. ernte23 sagt:

    In dem Artikel geht es um das Phänomen des “ethischen Konsums” in Staaten/Gesellschaften in einer ähnlichen wirtschaftlichen Position wie der BRD. Sich nun an einer zugegebenermaßen überholten Bezeichnung wie “Dritte Welt” aufzuhängen, gar zu zählen, wie oft der Begriff vorkommt, kommt dem, was im Artikel aufs Korn genommen wird, recht nahe. Viele Leute, die den “ethischen Konsum” pflegen, werden sicher den postkolonialen Sprachgebrauch drauf haben nicht zuletzt, um anderen, die den Sprachgebrauch nicht drauf haben, ihre moralische Überlegenheit demonstrieren zu können. Allein, die ökonomische Kluft wird nicht dadurch aus der Welt geschafft, indem man einen passenderen Begriff fordert.

    Wenn ich die Gramsci-Gelehrten richtig verstanden habe, fragte sich Gramsci nach dem biennio rosso, warum die Revolution in Russland erfolgreich war und in Italien nicht. Er prägte den Begriff der kulturellen Hegemonie des bürgerlichen Staates, um zu erklären, warum die Menschen in Italien wieder auf die alt bewährte Form des Nationalstaates zurückfielen. Meinst Du, man solle den “ethischen Konsum” als Erscheinung der kulturellen Hegemonie deuten?

  5. Ute Plass sagt:

    “Ethischer Konsum” ist auch keine Lösung” verweist darauf, dass es kein ‘richtiges Konsumieren’ im falschen Wirtschaften geben kann, was allerdings nicht bedeutet, dass dies uns aus der Verantwortung nimmt hinsichtlich ethischen Handelns.

    Das Perfide am vorherrschenden profit- u. konkurrenzgetriebenen Wirtschaften liegt ja auch darin, dass wir letztlich alle Komplizinnen zerstörerischer, ausbeutender
    Strukturen sind.
    Dass Appelle zum ethischen Konsumieren auch als Werbestrategien fungieren
    durchschauen allerdings immer mehr Menschen, die bewusst konsumieren.

  6. troy sagt:

    Im Artikel ist der Kulturwissenschaftler Daniel Miller (nicht Mark) gemeint, oder?

    @ Viktor (“Dabei ist jeder Kauf nicht nur eine Entscheidung wohin Geld fliesst, sondern eben auch ein Signal. Und viele solcher Signale können eben auch einen (kleinen) Beitrag leisten, das globale Wirtschaftssystem zu verändern.”)

    Das was du “Signale” nennst, lieber Viktor, sind die Symbole, mit denen in der Warenökonomie bewusst kalkuliert wird. Ein oberflächlicher Blick in die Marketing-Literatur reicht dafür. Die Folge ist eine Warenästhetik, die die Versprechen nach ökologisch und sozial ‘fairen’ Produktionsbedingungen bedient. Welche Tragweite diese im Moralischen verbleibenden Ansprüche jedoch haben, arbeitet der Artikel doch ganz gut anhand konkreter Fälle heraus. Warum dabei auf einmal die Logik, mehr Profit zu erzielen, ausgesetzt werden soll, erschließt sich mir nicht. Das verträgt sich wunderbar und das ist das Problem, mit Walter Benjamin gesprochen: “Dass es so weitergeht ist die Katastrophe”.

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