Die Wiedervereinigung jährt sich zum 25. Mal. Dabei wird ein Aspekt ihrer Geschichte selten erzählt: Dass nämlich mit Ende der DDR auch das Ende des Rheinischen Kapitalismus einherging.
Von Michel Buckley
“Bei der nächsten Wiedervereinigung machen wir alles besser”: So begegnete Kurt Biedenkopf schon 1992 Kritikern des Wiedervereinigungsprozesses. Wünschen tut man sich dies auch 25 Jahre später, denn auch dieses Jahr ist deutlich: Richtig Freude wird nicht aufkommen. Stattdessen wird der fünfundzwanzigste Jahrestag von der Flüchtlingskrise beherrscht. Ohnehin ist der 3. Oktober an sich kaum mehr als ein bürokratisches Datum, ausgesucht vor allem um zu verhindern, dass die DDR noch einen 41. Jahrestag am 7. Oktober feiern konnte.
Wie unvollendet die Einheit immer noch ist, zeigt sich daran, dass wir von einer Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West noch weit entfernt sind. Bis 2009 lag das Lohnniveau im Osten bei nur 77% des Westens. 2014 erreichten zwar die tariflichen Grundvergütungen in den neuen Ländern im Schnitt immerhin rund 97 Prozent des West-Niveaus (bei längerer Arbeitszeit), insgesamt aber fallen die effektiven Bruttoverdienste im Osten um 17 Prozent niedriger aus. Und der Angleichungsprozess stagniert seit Jahren.
Doch auch die Menschen in den alten Ländern scheinen von der Wiedervereinigung nicht profitiert zu haben, wobei die Jammer-Kampagen über den Solidaritätszuschlag und die angeblich zu hohen Transferleistungen von West nach Ost völlig am Kern vorbei gehen: nach Angaben des statistischen Bundesamts erzielten die alten Bundesländer durch die Erschliessung neuer Absatzmärkte im Osten einen „Vereinigungsgewinn“ von rund 100 Milliarden Euro pro Jahr.
Doch im Westen hat sich der Einkommenszuwachs seit 1990 verlangsamt, seit 2000 gibt es sogar einen Rückgang der Reallöhne, und das trotz einer wachsenden Wirtschaft. Seit 2009 steigen die Löhne lediglich aufgrund der geringen Preissteigerung wieder, bleiben aber immer noch unter dem Niveau der Jahrtausendwende. EU-weit hat Deutschland die schlechteste Reallohnentwicklung. Daher verwundert es kaum, dass es zwischen Ost und West erhebliche Unterschiede bei der Wahrnehmung gibt, wer denn nun von der Einheit profitiert hätte.
Ende des Wohlfahrtsstaates
Seit 1990 erlebt der Westen also eine massive Umverteilung von den Löhnen zu den Gewinnen. Die Wiedervereinigung markiert das Ende des “Rheinischen Kapitalismus”, der eine derart große Anziehungskraft auf die Menschen in der DDR hatte. Und das hat ganz wesentlich etwas mit dem Prozess der Wiedervereinigung selbst zu tun, wie wir gleich sehen werden.
Beginnen wir mit einem Rückblick in die 80er Jahre. Die “Wende” von 1982, eingeleitet durch das Lambsdorff-Papier, markiert den Beginn neoliberaler Regierungspolitik auch in Deutschland. Doch der Bruch unter Helmut Kohl fiel weniger stark aus als in den USA unter Ronald Reagan oder in Großbritannien unter Margaret Thatcher. Die Einschnitte bei den Sozialleistungen waren weniger drastisch, während die Einkommen in den 80ern noch kräftig stiegen und es den Gewerkschaften gelang, Fortschritte zu erkämpfen, wie 1984 den Einstieg in die 35-Stunden-Woche.
Der “Rheinische Kapitalismus” schien sich in den 80er Jahren in Deutschland noch zu halten. Geprägt wurde dieser Begriff 1991 von Michel Albert [1], der dieses Kapitalismusmodell dem neoliberalen angelsächsischen Modell entgegenstellt. Er beinhaltet eine ausgewogenere Machtbalance zwischen Anteilseignern und Management, die enge Verflechtung zwischen Banken und Unternehmen, die Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Unternehmern, durch die duale Berufsausbildung besser ausgebildete und loyalere Belegschaften und eine stärkere staatliche Regulierung wirtschaftlichen Handelns.
Es lohnt sich, auf die beiden Punkte ausgewogenere Machtbalance zwischen Anteilseignern und Management sowie die enge Verflechtung zwischen Banken und Unternehmen näher einzugehen. Was oftmals als verkrustete korporative Strukturen kritisiert wurde, hat durchaus auch seine Vorteile: Während sich Unternehmen im angelsächsischen Modell ihre Geldmittel vor allem auf den Finanzmärkten holen und so unter einem starken Rentabilitätsdruck von Seiten der Aktionäre, der Renten- und Investmentfonds stehen, haben die Banken im Modell des rheinischen Kapitalismus eher Interesse an einer langfristigen Entwicklung des Unternehmens. [2] Vor diesem Hintergrund zeigt sich auch die ganze Bedeutung der später von der rot-grünen Regierung beschlossenen Steuerfreiheit für Veräusserungsgewinne von Beteiligungsverkäufen: Es ging darum, diese enge Verflechtung zwischen Banken und Unternehmen aufzubrechen und Deutschland “angelsächsischer” zu machen.
Der Zusammenbruch der DDR und des Ostblocks boten hingegen die Voraussetzung für eine “Schock-Strategie”, wie die kanadische Journalistin und Antiglobalisierungsaktivistin Naomi Klein die Methode der Neoliberalen zur Umwandlung der Volkswirtschaften nennt. [3] Das Ereignis, egal ob durch ein politisch-historisches Erdbeben oder eine Naturkatastrophe hervorgerufen, wird von den Marktradikalen als “entzückende Marktchance” begriffen, um reinen Tisch zu machen und eine Gesellschaft nach marktwirtschaftlichen Prinzipien von Grund auf neu zu errichten. Genau dies ist nach 1990 in Deutschland und in Osteuropa geschehen. Seit Anfang 1990 entwickelte der IWF und der Harvard-Professor Jeffrey Sachs eine neoliberale “Schocktherapie” für die ehemaligen Staaten des Ostblocks. [4] Doch das musste nicht zwangsläufig passieren: Der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, hatte wenige Tage vor seiner Ermordung am 30. November 1989 ein Zehn-Punkte-Programm zur Entwicklung der Länder Osteuropas vorgelegt, die er von den neoliberalen Konditionalitäten des IWF und dem Freihandel des GATT abschirmen wollte. [5]
Blaupause des Ausverkaufs
Nun konnte in Osteuropa und Ostdeutschland die Schocktherapie einsetzen, mit all ihren ökonomischen und sozialen Verwerfungen. Zwei Schocks sorgten speziell für die Zerstörung der DDR-Wirtschaft: Die Währungsreform und die Privatisierungen der Treuhand. Mit der Währungsunion am 1. Juli 1990, zu einem von Helmut Kohl aus politischen Gründen festgelegten Wechselkurs 1:1, erfolgte eine De facto-Verteuerung der DDR-Waren um circa 300 Prozent. Der englische Wirtschaftskolumnist W. Hulton bezeichnete diesen Vorgang als Einsatz einer ökonomischen Atombombe, der keine Volkswirtschaft der Welt gewachsen wäre. So konnte auch das Märchen in die Welt gesetzt werden, die Wirtschaft des reichsten Landes des Ostblocks sei ein nicht konkurrenzfähiger Schrotthaufen gewesen. Ein Schrotthaufen, der noch 1989 ein Bruttosozialprodukt von 354 Milliarden Mark erwirtschaftete.
Den tödlichen Schlag versetzte dann die Treuhandanstalt: Gegründet von der letzten DDR-Volkskammer, wurden ihr 8500 Betriebe unterstellt, im Wert von circa 600 Milliarden DM (der genaue Wert wurde nie ermittelt). Sie beendete ihre Arbeit mit einem Defizit von 256 Milliarden DM. Ihr erster Vorsitzender war der Vorstandsvorsitzende von Hoesch, das SPD-Mitglied Detlev Karsten Rohwedder, der ganz ähnliche Vorstellungen hatte wie Herrhausen: Er wollte grosse Teile der ostdeutschen Betriebe erhalten, indem die Treuhand sie zunächst sanierte und dann privatisierte. Möglichst viele Beschäftigte sollten ihre Arbeit behalten. Doch nach der Ermordung Rohwedders am 1. April 1991 schlug seine Nachfolgerin Birgit Breuel einen neuen Kurs ein. Der Osten Deutschlands wurde deindustrialisiert, circa vier Millionen Arbeitsplätze wurden vernichtet. 95 Prozent des einstigen Volkseigentums gingen in westliche Hände über, ein Umstand, der dazu führte, dass die Ostdeutschen die Bevölkerung in Europa sind, der am wenigsten von dem Territorium gehört, auf dem sie leben. Egon Bahr meinte dazu, dass in Ostdeutschland feudale, frühmittelalterliche Eigentumsstrukturen geschaffen wurden, wie sie selbst in Afrika und im Orient vor zwei Generationen überwunden worden sind.
Katalysator für den gesamtdeutschen Neoliberalismus
Die Wiedervereinigung führte 1991/92 zu einem kurzen Einheitsboom – besonders bei Einkommensmillionären, deren Zahl von 1989 bis 1992 um 40% wuchs – der aber schon 1993 durch die Hochzinspolitik der Bundesbank jäh unterbrochen wurde. Seitdem herrscht in Westdeutschland eine Stagnation der Einkommen, die bis heute anhält – erzwungen durch die zunehmende Exportorientierung der deutschen Wirtschaft, ermöglicht durch die Massenarbeitslosigkeit im Osten und den Druck, den dies auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst hat. Dem Fördern wird ein immer stärkeres Fordern gegenübergestellt, was dann in den “Arbeitsmarktreformen” der Agenda 2010 mündete.
Die Finanzierung der sozialen Einheit über die Sozialversicherungsträger, insbesondere bei der Rente, führte zu Verwerfungen, die bis heute nachwirken. Durch die einseitige Belastung der Sozialkassen (statt der Finanzierung über Steuern), die nun Anprüche von Menschen bedienen mussten, die nie eingezahlt hatten, entstand ein Finanzierungsdruck, dem die Politik unter der Rot-Grünen Koalition mit der Änderung der Rentenformel und den Einstieg in die private Vorsorge mit der Riester- und Rürup-Rente begegnete.
Die Wiedervereinigung stand also nicht unter dem Vorzeichen der alten sozialen Marktwirtschaft westdeutschen Typs, des rheinischen Modells, sie war vielmehr ein Katalysator für einen neuen gesamtdeutschen Neoliberalismus. Sie ist Ausdruck einer neoliberalen Revolution, die in den 80er Jahren noch nicht richtig Fuß fassen, in den 90ern aber an Schwung gewinnen konnte und ab 2000 unter Rot-Grün und den darauf folgenden Regierungen hegemonial wurde.
Von heute aus betrachtet, ist das “korporative” Modell der ehemaligen Deutschland AG mit der Deutschen Bank als Mittelpunkt sogar noch dem heutigen vorzuziehen. Zwischen Herrhausen und Ackermann liegen Welten in der Behandlung sozialer Fragen. Den Geist von Herrhausen würde man sich heute in der Chefetage der DB wieder wünschen. Auch die Bewertung von Rohwedder fiele heute anders aus. Heute wissen wir, dass die Treuhand den Willen der starken Westwirtschaft exekutiert hat, die erstmals derart massiv in den Hinterzimmern der Politik vorstellig wurde.
Seither spielt die Politik routiniert auf einer überschaubaren Klaviatur wiederkehrender Themen:
– Ausländer (“das Boot ist voll”, “der Islam gehört nicht zu Deutschland”)
– Verschuldung (“die Staatskassen sind leer”)
– Arbeitslosigkeit (“nur wer arbeitet, soll auch essen”)
– Export (“wir müssen wettbewerbsfähig bleiben”)
– Bildung (“Exzellenzinitiative” der Hochschulen, Studiengebühren)
– Terror (Verlängerung der Notstandsgesetze)
(Fehlende Stereotypen bitte selbst ergänzen)
1989 bzw. 1991 bedeutet in vielerlei Hinsicht eine Zäsur. Aus dem Jahr 2011 betrachtet, ist es der Startschuss für ein grundlegendes Diktat der Wirtschaft und zwar in alle Lebensbereiche hinein. Prägte Willy Brandt, der Weltkrieg und Teilung noch unmittelbar erlitten hatte, noch den wunderbaren Satz, das nun zusammenwächst, was zusammengehört, so wurde in den beiden folgenden Jahrzehnten de facto von wenigen zusammengerafft, was allen gehören sollte: Rohstoffe, intakte Umwelt, gerechter Lohn, gleiche Lebenschancen, Wohlstand. Die bislang unzertrennliche Real- und Geldwirtschaft lösten sich irgendwann in den Neunzigern voneinander, deregulierte Finanzmärkte schöpften gigantische Werte aus dem Nichts.
Das Resultat, eine andere Bewertung verbietet sich, ist ein Desaster.
So ist die Wiedervereinigung und die Politik zweier Jahrzehnte eines zumindest auf dem Papier vereinten Deutschlands sowohl zeitliche Koinzidenz als auch Ursache selbst. Auf die zu Recht vom Taumel eines geopolitischen Erdrutsches besoffene Politik folgte stehenden Fußes der Furor des Geldes. Irgendetwas ist, auch hier, nach 1991 so richtig schief gelaufen. Die Erkenntnis darüber ist heute sicherlich verbreiteter als vor 20 Jahren. Nur wird es damals schon eine kleine Elite gegeben haben, die, wohl wissend, dass die anderen löschen müssen, lustvoll mit dem Feuer gespielt hat. Diese Elite zündelt immer noch. Und sie will ihre Beute jetzt auf Dauer sichern.
Sehr guter Artikel, der das bringt, was ich mir dachte, was nach 25 Jahre Beobachtung der Wiedervereinung, die eher ein Okkupation war, zu schreiben wäre.
Ich fragte mich seit Beginn der Finanzkrise, ob es diese “kleine Elite”, wie sie mein Vorkommentator bezeichnet, geben könne, die die Welt an den Eiern hat. Und bin fündig geworden:
Wir kommen unseren wahren Weltenlenkern immer näher: Das Komitee der 300