Sie wollen es nicht wahrhaben

Ein FAZ-Interview mit dem britischen Ungleichheitsforscher Tony Atkinson ist gleich doppelt erhellend. Die Antworten sind interessant. Aber fast noch interessanter sind die Fragen. Sie fassen ziemlich prägnant zusammen, wie die FAZ das Thema Ungleichheit in letzter Zeit anpackt. *

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Foto: HarshLight / flickr / CC BY 2.0

Von Julian Bank

(Dieser Artikel ist zuvor auf Verteilungsfrage.org erschienen)

Klar – die besten Interviewer stellen provokative Fragen. Aber viele Fragen transportieren auch eine Position und sie strukturieren die Debatte über das Thema. Deswegen ist eine kritische Betrachtung provokativer Interview-Fragen ein durchaus erhellendes Unterfangen.

“Den Deutschen” geht es doch gut

Herr Atkinson, den Menschen in Deutschland geht es gut. Warum sollten sie sich Gedanken über Ungleichheit machen?
FAZ, 6.4.2015

Da haben wir bereits in der ersten Frage eine wohlbekannte Suggestion: Die Ungleichheitsdebatte in Deutschland sei ja geradezu hysterisch. In Wirklichkeit überschätzten die Deutschen (einer wirtschaftsfinanzierten Denkfabrik zufolge) die Ungleichheit.

Und auch das ständige Lamento über die zunehmende Armut sei doch eigentlich in Deutschland fehl am Platz. Wo sich nun sogar Andrea Nahles vor den Karren derjenigen spannen lässt, die den Armutsbegriff zurück ins 19. Jahrhundert katapultieren wollen.

Politik von Vorgestern vs. moderne Politik

“Das [Klimawandel, Schuldenabbau, Pensionslasten, Geschlechterungleichheiten] sind teilweise sehr moderne Probleme. Meinen Sie wirklich, die kann man mit den Mitteln von vorgestern lösen – hohe Steuern, mehr Sozialleistungen?”
FAZ, 6.4.2015

Sicher bekämpft man nicht den Klimawandel direkt mit einer stärkeren Progression in der Einkommensbesteuerung, mit einer Vermögenssteuer oder mit besseren Sozialleistungen. Aber so meint Atkinson das ja auch überhaupt nicht. Insofern wäre eine Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ungleichheit und den genannten Herausforderungen tatsächlich interessant. Beispielsweise ist es für die Umsetzung von Politikmaßnahmen, die darauf zielen, die wahren ökologischen Kosten vieler Produktionsprozesse einzubeziehen, von zentraler Bedeutung, ob solche Maßnahmen zu sozialen Härten führen.

Die in der Frage implizierte Unterscheidung von Problemen und Politikmaßnahmen in “modern” und “vorgestrig” transportiert jedoch eine völlig andere Botschaft. Umverteilung sei gestern, nein vorgestern gewesen – moderne Politik aber sei etwas anderes. “Governance” oder sowas…

It’s Globalisierung, stupid!

Wenn Leute mit Geld von solchen Plänen Wind bekommen – dann verschwinden die doch sofort in ein Land, wo sie nicht um ihr Vermögen fürchten müssen.
FAZ, 6.4.2015

Da ist sie, die Globalisierungskeule. Atkinson weist sie zwar zurück – denn der Einwand ist angesichts eines wachsenden politischen Willens, international gegen Steuerflucht und -vermeidung vorzugehen, viel eher “von vorgestern”. Aber man kann ja nochmal nachhaken:

Für wirklich globale Steuern müssten irrwitzige Mengen von Finanzdaten ausgetauscht werden. Machen Sie sich keine Sorgen, wer die alles zu sehen kriegt?
FAZ, 6.4.2015

Irrwitzig. Wirklich schlimm. Dann könnte es sogar dazu kommen, dass auch die Vermögenden, die sich bisher einer Beteiligung an öffentlichen Gütern entziehen, gezwungen sind mitzumachen. Man stelle sich zusätzlich vor, sie könnten am Ende sogar nur noch gleichberechtigt in der Demokratie ihre Stimme einbringen… Halblang: Zu ihrem Glück sind wir ja in der Lobby-Regulierung noch nicht so weit.

Es ist schon interessant, an welchen Stellen in bestimmten Kreisen der Liberalismus und die Sorge um den Datenschutz bemüht wird, und um welche und wessen Freiheit die Sorge dann am größten ist.

Umverteilung bremst wirtschaftliche Dynamik

Ihr gesellschaftliches Vorbild ist die Nachkriegszeit. Wenn sich herausstellt, dass sich die heutige Ungleichheit nicht ohne große Wohlstandsverluste verringern lässt – und Sie zwischen damals und heute wählen müssten: Wo würden Sie leben?
FAZ, 6.4.2015

Es ist zwar offen formuliert. Aber das ganze Framing der Frage macht klar, woher der Wind weht. Denn ein Standard-Argument gegen die Umverteilung ist – wenn das Globalisierungsargument schon verbraucht ist und der Verweis auf das vermeintlich brachliegende Frankreich gerade nicht passt (Atkinson ist Brite, nicht Franzose, wie Piketty) – der Hinweis auf mögliche große Wohlstandssverluste, mit denen vermeintlich zu rechnen wäre, wenn die wirtschaftliche Dynamik durch Umverteilung vermeintlich geschwächt würde.

Wie gesagt: Gute Interviews basieren auf provokativen Fragen. Insofern könnte man sagen: es ist ein hervorragendes Interview, weil lauter sonderbare Positionen vorgebracht werden, denen entgegnet werden kann. Wenn man aber bedenkt, dass diese Fragen in einem publizistischen Kontext stehen, wo in ihnen enthaltene Thesen ständig reproduziert werden, sei es in redaktionellen Kommentaren, zuspitzenden Artikelüberschriften oder ‘ausgewählten’ Studien, dann zeigt dies aus meiner Sicht eher, wie bitter es weiterhin um die Ungleichheitsdebatte in Teilen der deutschen Medienöffentlichkeit bestellt ist.

Julian Bank ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialökonomie der Uni Duisburg-Essen und Herausgeber des Blogs Verteilungsfrage.org, wo auch dieser Artikel erschien.


*Das Interview erschien zunächst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 29.3.2015, seit 6.4. ist es auch online verfügbar

Artikelbild: HarshLight / Flickr.com / CC BY 2.0

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Ein Kommentar zu "Sie wollen es nicht wahrhaben"

  1. rote_pille sagt:

    die wahren ökologischen kosten können nur in die produktionsprozesse miteinbezogen werden, wenn das eigentumsrecht auch auf die emissionen ausgeweitet wird, d.h. wenn die menge der zulässigen emissionen aufgeteilt und an die individuen verkauft wird und man allen anderen (produzenten) jegliche emission verbietet. die unternehmer werden dann gezwungen sein, das in ihre rechnung mit einzubeziehen, was natürlich zu preissteigerungen bei den produkten führt, die viele emissionen verursachen. energie ist z.b. so ein produkt. selbstverständlich ist es völlig sinnwidrig, dann ärmeren haushalten energiesubventionen zu zahlen, da dann der anreiz, der von den durch die emissionshandelssysteme ausgelösten preissteigerungen ausgeht (energieverbrauch bzw. die energieeffizienz zu erhöhen), verloren geht. diese “sozialen härten” müssen eben akzeptiert werden, wenn man feststellt, dass gewisse natürliche ressourcen knapper sind als man vorher angenommen hatte. natürlich kann man, wenn man nicht an den menschengemachten klimawandel glaubt, die emissionshandelssysteme nur für die tatsächlichen umweltschädlichen giftstoffe einführen und für das CO2 nicht.
    die ungleichheit zwischen der bezahlung der geschlechter ist ein erfundenes problem, das sich gibt sobald man denn näher hinschaut, was tatsächlich geleistet in den unternehmen wird. ein unternehmer kann wenig erfahrenere frauen, die jahre auf kindererziehung verwendet haben, nicht so hoch entlohnen wie die erfahreneren arbeiter. die beseitigung dieser ungleichheit bedeuten, dass mäünner und frauen sich gleich viel um die kinder kümmern und auch gleiche ausbildungen wählen usw. aber an der geschlechtlichen zusammensetzung des kita-, grundschul-, usw. personals sehen wir, dass das in einem system mit individueller freiheit nicht zustande kommt, denn es gibt eine immer stärkere polarisation, egal wieviele “girls days” man abhält. es gibt eben unterschiede, die NICHT sozial konstruiert sind.
    es wird immer offensichtlicher, dass die wirtschaftliche ungleichheit von den zentralbanken verursacht wird, die finanzwerte, also die vermögen der reichen, steigen ständig im wert ohne bezug auf die realwirtschaft. das ist nur möglich, weil ständig nachgedruckt wird. auch eine art der umverteilung, oder? wenn die von der regierung geld bekommen und wir nicht, dann wurden wir ausgeraubt. anstatt jetzt vorzuschlagen, zur kompensation selbst zu räubern zu werden, ist es sinnvoller, wir setzen uns dafür ein diesen zentralbankern das handwerk zu legen und auch in die finanzmärkte kapitalismus einzuführen.

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