Geld und Gott – Kapitalismus als Religion

Welche religiösen Elemente sind im Kapitalismus enthalten? Was charakterisiert seine symbolische Gewalt, mit der er nicht nur seine Hegemonie über die Gesellschaft manifestiert, sondern gleichzeitig auch die religiöse Ideologie des Kirchenapparats als Herrschaftsform abgelöst hat?

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Von Armin Stalder

Im Jahr 1921 stellte Walter Benjamin die These auf, dass im „Kapitalismus eine Religion zu erblicken sei“. Er diene der Befriedigung derselben essentiellen Sorgen, Qualen und Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben, so seine prägnante Zusammenfassung.

Gut 70 Jahre später war dieser Befund kaum weniger aktuell. Jean Ziegler attestierte den sich rasant entwickelnden Finanz-Kapitalismus eine genauso große Macht wie vor ihm Benjamin: „Es ist das zunehmend in den Händen weniger monopolisierte, immer stärker multinational sich ausdehnende Finanzkapital, das unserem Planeten ein fast homogenes Kollektivbewusstsein, ein einheitliches Gesetz des Handelns, universale Referenz-‘Werte’ aufzwingt.“

Spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 widerspricht dieser Einschätzung wohl kaum jemand mehr. Der Kapitalismus ist die vorherrschende normative Werte- und Gesellschaftsordnung in der westlichen Geographie und bemächtigt sich weltweit kontinuierlich weiteren Peripherien. Dies ist die inhärente Logik der stets fortschreitenden Kapitalakkumulation.

Gott ist tot – die symbolische Ordnung des Kapitals

Nach diesem Prinzip strukturieren sich die grundlegenden Normen der sozialen Interaktionen. Und sie werden von der Mehrheit der Mitglieder einer kapitalistischen Gesellschaft bewusst und unbewusst akzeptiert und praktiziert. In diesem Sinne kann man nach Jacques Lacan von einer „symbolischen Ordnung“ sprechen. Es ist die Maxime für Entscheidungen aller Art, besonders aber in ökonomischen Situationen, und hat sich als kategorischer Imperativ im kollektiven Über-Ich etabliert.

Georg Simmel beschreibt in „Die Philosophie des Geldes“, wie das Geld in der Neuzeit psychologisch langsam die traditionelle Rolle Gottes übernommen habe. Es ist heute nicht mehr länger nur von einer vorherrschenden Wirtschaftsordnung auszugehen, sondern von einem gesellschaftlichen Universalsystem, das durch seine finanzielle Machtposition sämtliche Aktivitäten von Individuen, Gesellschaften und Nationen determiniert. Der Kapitalismus dringt in sämtliche Bereiche menschlichen Lebens vor. Dieses Spektrum erfasst nicht nur Wirtschaft und Politik, sondern auch die öffentliche Verwaltung und reicht von klassischer Schulbildung über kulturelle Einrichtungen bis ins Detail individueller Alltagsentscheidungen.

Friedrich Nietzsches Zitat „Gott ist tot“ ist der geistig-kulturelle Diagnose einer Gesellschaft, in der sich im 19. Jahrhundert der wissenschaftliche und technische Fortschritt rasant entwickelte. Jene zentrale moralische Instanz (Religion institutionalisiert durch den Kirchenapparat), die dem Menschen eine gewisse Orientierung und die dazugehörende Lebensweise vorgab, verlor an Macht, Sinngebung und Einfluss. Seitdem muss – überspitzt formuliert – ein anderer “Lebenssinn” gefunden werden. Die Ausbreitung und Durchsetzung der industriellen Produktionsweise und die sich daraus entwickelnde Herausbildung der heutigen Konsumgesellschaft scheint offenbar dieser neue Sinn als Ersatz für die Religion zu sein.

Für den Mensch bedeutet seine Existenz im Kapitalismus konkret, dass er dazu gezwungen ist, sich konform zu der „allgemeinen Formel des Kapitals“ (G – W – G) zu verhalten. In der kapitalistischen Produktion hat er die Funktion des Arbeiters zu übernehmen; in der kapitalistischen Zirkulation hat er als Konsument zu funktionieren.

Dieser Zirkulationsprozess des ökonomischen Austausches im Kapitalismus verschafft dem Medium Geld einen gottähnlichen Status, zu einer nicht mehr hinterfragbaren universellen Autorität, von der sämtliche Gesellschaftsmitglieder und Organisationen aller Art abhängig, verbunden und unterworfen sind. In Anlehnung an Karl Marx könnte man postulieren, dass nicht mehr die Religion, sondern das Geld bzw. die damit verbundenen kapitalistischen Vorstellungsmuster und Handlungsprinzipien „das neue Opium des Volkes“ sind.

Neue Abhängigkeiten

Das kapitalistische Industriezeitalter brachte es aber auch mit sich, dass sich der Mensch aufgrund der sich ausbreitenden Warenrationalität entfremdet, er auf seine Warenfunktion reduziert und für das einzig akzeptable Ziel der Mehrwertakkumulation und Gewinnoptimierung bzw. Profitmaximierung instrumentalisiert wurde. Das exakte Gegenteil davon, was um 1300 als Vorbild für die religiösen Vorstellungen galt, dominiert die heutige Welt: Habgier war eine Todsünde, Zinsgeschäfte ein Verstoss gegen die von Gott geschaffene natürliche Ordnung.

Das Individuum in der kapitalistischen Gesellschaftsformation aber verliert seine natürliche Autonomie und ist zunehmend fremdbestimmt. Jean-Jacques Rousseau schrieb: „Dans les relations d’homme à homme le pis qui puisse arriver à l’un est de se voir à la discrétion de l’autre.” Der Mensch hat sich den erforderlichen Ritualen und Praktiken der entsprechenden Produktionsweise anzuschliessen, um nicht das Eingreifen des einen oder anderen Staatsapparates zu provozieren, die das Individuum wieder in den ökonomischen Zirkulationsprozess reintegrieren, um die Stabilität dieses Geld-Kreislaufs nicht zu gefährden.

Für die Aufklärung erfüllte hingegen noch die Religion die gesellschaftliche Funktion der Bewältigung von Lebensangst und zur Legitimation unterdrückerischer Gesellschaftsordnungen. In der Priesterbetrugstheorie erscheint ein areligiöses Bewusstsein der Machthaber, welches die Religion als Herrschaftsinstrument benutzt. Die Aufklärung unterstellt, dass die Herrschenden sich ihrer areligiösen Einstellung bewusst sind und sie absichtlich zu ihrem Vorteil missbrauchen. Es handelt sich um eine Form von Wissen, in dem die Herrschenden von der religiösen Selbsttäuschung emanzipiert sind, aber dennoch die Illusion zu ihren Gunsten weiter arbeiten lassen.

„Dieses Wissen glaubt nicht, aber es lässt glauben. Es müssen viele die Dummen sein, damit wenige die Klugen bleiben“ (Peter Sloterdijk)

Damit aber wird die religiöse Anwendung und die Separierung dieses Wissens auch im Kapitalismus erkennbar, wenn der öffentliche Diskurs mehrheitlich annimmt (also lediglich „glaubt“, und dies ist gleichzeitig der von der Herrschaftsideologie erzielte Effekt zu ihrem vorteilhaften Nutzen), dass es z.B. keine sozialen Klassenunterschiede und somit zumindest im ökonomischer Sicht keine Herrscher und Beherrschte, keine Unterdrücker und Unterdrückte, keine Ausbeuter und Ausgebeutete mehr gibt.

Unterdrückungsapparate der Moderne

Während der Epoche der dominierenden Religion liessen sich die Menschen noch vom Kirchenapparat unterwerfen. Diese Funktion wird in der kapitalistischen Gesellschaft jedoch auf mehrere Instanzen verteilt. In diesem Sinne ist der Unterdrückungsmechanismus nicht mehr eindeutig zu lokalisieren. Aufgrund seiner historischen Entwicklung und Notwendigkeiten hat er sich weiterentwickelt und ist komplexer geworden. Louis Althusser beschrieb diese Transformation wie folgt:

„Jedoch ist es absolut evident, dass es in der historisch vor-kapitalistischen (Im Sinne einer unmittelbaren Vorgeschichte der westeuropäischen Durchsetzung der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) Periode, die wir in sehr grossen Zügen untersuchen, einen herrschenden ideologischen Staatsapparat gegeben hat, nämlich die Kirche. Diese fasste unter sich nicht nur die religiösen Funktionen zusammen, sonder auch die schulischen, und sie übernahm alleine zu einem guten Teil die Funktionen der Informationsverarbeitung und der “Kultur”. Wenn der gesamte ideologische Kampf vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, von den ersten Erschütterungen der Reformation angefangen, sich auf einen antiklerikalen und antireligiösen Kampf konzentriert hat, so war das kein Zufall, sondern es vollzog sich entsprechend der herrschenden Rolle des religiösen ideologischen Staatsapparates.“

Althusser Erkenntnis war, dass es kaum genüge, nur den politischen Staatsapparat zu kontrollieren, um die überwiegende Macht im Staat zu erlangen, sondern vor allem um die Etablierung der bürgerlichen Hegemonie über die Funktionen, die vormals die Kirche ausgefüllt hatte. Und diese Aufgabe hatte vor allem die Schule.

Vor allem die Bourgeoisie stützte sich auf den neuen politisch-ideologischen Staatsapparat, nämlich auf den parlamentarisch-demokratischen. Er war in den ersten Jahren der Revolution eingesetzt worden und wurde später nach langen gewaltsamen Kämpfen für einige Monate im Jahre 1848 und für mehrere Jahrzehnte nach dem Sturz des Zweiten Kaiserreichs wiederhergestellt – mit dem Ziel des Kampfes gegen die Kirche und um sich deren ideologischer Funktionen zu bemächtigen. Kurz, um nicht nur die politische Hegemonie, sondern auch die ideologische Hegemonie der Bourgeoisie zu sichern, wie sie für die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse unverzichtbar ist.

Der Glaube an die “unsichtbare Hand”

Die im Kapitalismus betriebene „Vergötterung“ der Warenherrschaft hat weitreichende Konsequenzen für das menschliche Individuum, weil sich der Kapitalismus selbst wie eine Religion als eine metaphysische Konstruktion erschafft, bestehend besonders aus dem reinen Glauben an seine Funktionsweise bzw. an die Allmacht des Geldes, das als ultimativer Schlüssel zur Erlösung und Freiheit gilt. Dabei ist der Glauben eine ebenso typisch religiöse Eigenschaft wie die Hoffnung, sich durch Akkumulation von Geld die Erlösung aus den permanenten Zwangs- und Schuldabhängigkeiten erkaufen zu können.

In diesem Kontext ist die Wirtschaftstheologie der geheimnisvollen „unsichtbaren Hand des Marktes“ ist bis heute für die Ökonomie bestimmend geblieben. In seinem Buch „Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen“ zeigt der Ökonom Hans Christoph Binswanger, dass nur der Glaube an den positiven Beitrag der Wirtschaft zum Gemeinwohl die heute sich wieder ausbreitende theoretische und praktische Reduktion des Menschen auf den egoistisch handelnden Wirtschaftsmenschen, den „homo oeconomicus“, rechtfertigt. Der Menschentypus ist modifizierbar, und wer entsprechende Interessen durchzusetzen vermag, „erschafft“ den dazu benötigten Menschen aktiv mit, z.B. mit Unterstützung der Techniken des kapitalistischen Marketingapparats.

Um dieses parasitäre Stadium des Kapitalismus mit Max Horkheimer zu beschreiben, in dem der Mensch nur noch Objekt der Geschichte ist und seine eigentliche Bestimmung verliert:

„Die Maschine hat den Piloten abgeworfen; sie rast blind in den Raum. Im Augenblick ihrer Vollendung ist die Vernunft irrational und dumm geworden. Das Thema dieser Zeit ist Selbsterhaltung, während es gar kein Selbst zu erhalten gibt. Wenn wir vom Individuum als einer historischen Kategorie sprechen, meinen wir nicht nur die raum-zeitliche und sinnliche Existenz eines besonderen Gliedes der menschlichen Gattung, sondern darüber hinaus, dass es seiner eigenen Individualität als eines bewussten menschlichen Wesens inne wird, wozu die Erkenntnis seiner Identität gehört. Individualität setzt das freiwillige Opfer unmittelbarer Befriedigung voraus zugunsten von Sicherheit, materieller und geistiger Erhaltung der eigenen Existenz. Sind die Wege zu einem solchen Leben versperrt, so hat einer wenig Anreiz, sich momentane Freuden zu versagen. Gesellschaftliche Macht ist heute mehr denn je durch Macht über Dinge vermittelt. Je intensiver das Interesse eines Individuums an der Macht über Dinge ist, desto mehr werden die Dinge es beherrschen, desto mehr werden ihm wirklich individuelle Züge fehlen, desto mehr wird sein Geist sich in einen Automaten der formalisierten Vernunft verwandeln.“

Das Wirtschaftswachstum, das aufgrund der inhärenten Logik der Kapitalakkumulation notwendig ist, könnte man als sakrales Paradigma interpretieren: Gewinn bis in alle Ewigkeit. Heute steht der Mensch nicht mehr in der Kirchenschuld durch seine Sünden, er steht in der monetären Schuld, dem Preis für endloses Wirtschaftswachstum. Sein schlechtes Gewissen beruhigt er nicht mehr beim Geistlichen in der Kirche, sondern durch ethischen Konsum (z.B. Bio-Produkte).

Zwischen Tittytainment und Disziplinierung

Max Horkheimer fasste diese Phänomen in seiner “Kritik der instrumentellen Vernunft” aus dem Jahre 1974 prägnant zusammen:

„Die Muster des Denkens und Handelns , die die Menschen gebrauchsfertig von den Agenturen der Massenkultur beziehen, wirken wiederum so, dass die die Massenkultur beeinflussen, als wären sie die Ideen der Menschen selbst. Jedes Mittel der Massenkultur dient dazu, die auf der Individualität lastenden sozialen Zwänge zu verstärken, indem es jede Möglichkeit ausschliesst, dass das Individuum sich angesichts der ganzen atomisierenden Maschinerie der modernen Gesellschaft irgendwie erhält.“

Für alle Ethnien und Kulturen im Kapitalismus bedeutet dies, dass ihre Einmaligkeit „darin besteht, typisch zu sein“. Das Individuum verliert Identität, gibt sie an die administrativen Institutionen ab und wird zu einer reaktionären Entität degradiert. Sein Leben organisiert sich in „mechanischen Wiederholungen“.

Die ersten Grundlagen für diese Automatismen wurden bereits um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert gelegt. Zu diesem Zeitpunkt revolutionierte sich die „Ökonomie der Züchtigung“. Eine entscheidende Veränderung war der Wegfall der körperlichen Züchtigung, der Marter, und die Einführung der Isolierung der Gefangenen in Zellen. Die Bestrafungen wurden humaner, die Beherrschung der Körper nahm ab, während die Disziplinartechniken an Bedeutung gewannen. Die physische Gewalt wurde zugunsten der gezielten Formung der Individuen aufgegeben. Statt die Regeln gewalttätig und sichtbar durchzusetzen, wurde die subtile Konditionierung des Verhaltens wichtiger, weil produktiver und kostengünstiger.

Die Disziplinartechniken der Klöster und Armeen wurden in die Schulbildung und Fabriken transferiert. Man bestraft das Individuum nicht, sondern macht es nutzbar. Das Individuum lernt, sich aus Eigeninitiative effizient am im Zuge der Arbeitsteilung „zugewiesenen“ Platz zu verhalten bzw. anzupassen. Im kapitalistischen Produktionsprozess ist dieser Umstand von ausserordentlichem Wert, damit aus der eingesetzten Arbeitskraft ein möglichst hoher Mehrwert resultiert.

Bezeichnend für die Revolutionierung der Disziplinartechnik war das Panoptikum des englischen Philosophen Jeremy Bentham, das Foucault nicht umsonst als Symbol der aktuellen Gesellschaftsformation wählte. Die 1791 entworfene Skizze des Panoptikum war die Konzeption eines perfekten Gefängnisses: In dessen Mitte steht ein Turm, aus dem heraus Wächter die rundherum angeordneten, offenen Gefängniszellen einsehen können. Damit werden die Gefangenen unter die permanente potenzielle Kontrolle eines allumfassenden Blickes gestellt. Das Bewusstsein einer ständigen Überwachung führt bei den Häftlingen zu einer neuen Verhaltenskonzeption, die den potenziellen Blick des Wächters einbezieht.

Perfider wird dieser Ansatz, wenn er – wie Bentham vorschlägt – auch in Schulen und Kasernen angewandt und vergrößert wird. Dann könnten mehrere Ringe von im Kreis angeordneten Zellen bewirken, dass Wärter wieder von Wärtern, die in der hierarchischen Organisation über ihnen stehen, kontrolliert werden. Der Sozialreformer wunderte sich selbst darüber, dass die panoptischen Einrichtungen so zwanglos sein könnten: Es gäbe keine Gittertore mehr, keine Ketten, keine schweren Schlösser; es genüge, “wenn die Trennungen sauber und die Öffnungen richtig sind.“

Die Illusion der Freiheit

Die aus dem kapitalistischen Produktionssystem generierten Widersprüche werden nur allzu gerne verkannt, wenn von liberalen Theoretikern ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kapitalismus – sprich freier Marktwirtschaft – und Demokratie postuliert wird. Das “unauflösliche Spannungsverhältnis”, das Habermas zwischen Kapitalismus und Demokratie erkennt, nämlich die Konkurrenz zweier “entgegengesetzte Prinzipien der gesellschaftlichen Integration”, wird heute weitläufig übersehen.

Hingegen beschreib der französische Politiker und Schriftsteller Frantz Fanon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Parallelen zwischen mittelalterlichen Kirchenapparat sowie seiner Priesterschaft und der kapitalistischen Medien- und Unterhaltungsindustrie: Beide hatten bzw. haben die propagandistische Funktion, die Bürger in Unwissenheit über die realen Herrschaftsverhältnisse zu halten. Damit griff Fanon die Kritik Adornos und Horkheimer auf seine Weise auf:

„In den kapitalistischen Ländern schiebt sich zwischen die Ausgebeuteten und die Macht eine Schar von Predigern und Morallehrern, die für Desorientierung sorgen. Das Unterrichtswesen, gleichgültig, ob weltlich oder religiös; die Ausbildung von moralischen Reflexen, die vom Vater auf den Sohn übertragen werden; die vorbildliche Anständigkeit von Arbeitern, die nach fünfzig Jahren guter Dienste mit einer Medaille bedacht werden; die allgemein ermunterte Liebe zur Eintracht und zur bürgerlichen Bravheit – all diese geradezu ästhetischen Formen des Respekts vor der etablierten Ordnung schaffen um den Ausgebeuteten eine Atmosphäre der Unterwerfung und Entsagung, welche den Ordnungskräften ihre Arbeit beträchtlich erleichtert.“

Die heute untrennbare Symbiose aus liberaler Demokratie und freier Martwirtschaft kommt also nicht von ungefähr. Denn die Entfaltung von Humanpotenzialen gedeiht unter formell liberalen Rahmenbedingungen wesentlich erfolgreicher als in direkt sichtbar repressiven Regimes. Die Disziplinarmacht setzt sich durch, “indem sie sich unsichtbar macht, während sie den von ihr Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt.“ Wie aktuell diese Diagnose Foucaults ist, wird im Zuge des NSA-Skandals mehr als deutlich. Die Umkehrung der Sichtbarkeit der Machtstrukturen gewährleistet also nicht nur dessen Funktionsmechanismus, sondern auch das Verständnis einer explizit repressiven Art von Macht muss neu interpretiert werden.

„In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion“ (Foucault)

Die Schlüsse, die sich daraus ziehen lassen, sind dystopisch. Dahinter verbirgt sich die bereits 1762 von Rousseau in  seinem Bildungsroman Émile geäusserte, düstere Vermutung, dass die Freiheit des Menschen nicht mehr als eine Einbildung ist, die von den Produktionsstätten der Macht vorgegaukelt wird. So schrieb der Philosoph, dass keine Unterwerfung so vollkommen sei “wie die, die den Anschein der Freiheit wahrt”. Damit ließe sich “selbst der Wille gefangen nehmen.“

Adorno, Althusser, Fanon, Foucault, Horkheimer und Rousseau lassen sich hier auf einen Nenner bringen. Alle beschreiben letztendlich einen jahrhunderte alten Prozess, nämlich wie im Kapitalismus die „freien“ Individuen unter die etablierte Gesellschaftsordnung unterworfen werden.

Am Ende dieses Vorganges im klassischen Zeitalter, – und hier decken sich die Beobachtungen der oben genannten Denker, – steht ein gesellschaftlicher Körper der Konformität, ein – wie Foucault es nennt – “System von Normalitätsgraden, welche die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper anzeigen, dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend wirken. Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, anderseits wirkt sie individualisierend, da sie Abstände misst, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt.“

Damit sind die Werke dieser Philosophen leider immer noch Gegenwartsdiagnostik.

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4 Kommentare zu "Geld und Gott – Kapitalismus als Religion"

  1. Wolf sagt:

    Foucault ist weder der einzige noch der erste, schon gar nicht der Letzte, welche von der Normierung des Menschen spricht. Er ist nur einer von denen, welche Normierung auch positiv sieht: „Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, anderseits wirkt sie individualisierend, da sie Abstände misst, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt.“

    Hört sich doch „gut“ an, oder? Da wird gemessen und bestimmt und nutzbringend abgestimmt.

    Marianne Gronemeyer, Ivan Illich, Arno Gruen, Johannes Beck, Günther Anders… lesen sich anders. Menschenfeundlicher. Wenn auch nicht unbedingt optimistisch. Aber mit Empathie, mit Empörung- bis zu Vorschlägen, wie der Normierung wenigstens teilweise zu entkommen sei.
    Foucault das letzte Wort zu lassen, das erinnert an Horkheimer, der über Metaphysiker sagte: „Eines weiß ich über sie: das reale Elend der Menschen interessiert sie weniger.“

  2. Szenon sagt:

    Der französische Philosoph Louis Cattiaux (1904-1953) in “Die Wiedergefunde Botschaft” (Verlag Herder, Basel, 2010, S.193): «Allein der reine Mensch buckelt nicht vor dem Geld und das ist das seltene Zeichen und kostbar unter allen».

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