Jahresbericht der Arbeitsgruppe europäischer Wirtschaftswissenschaftler für eine andere Wirtschaftspolitik in Europa, 24.1.2013
Die Krise, die ihren Anfang im Jahr 2007 nahm und sich 2008 in drastischer Weise verschärfte, hat tiefgreifende Zerwürfnisse in der Architektur der Europäischen Währungsunion freigelegt. Strenge Sparkurse, die zunächst den Ländern in Osteuropa und anschließend den Peripherieländern der Eurozone auferlegt wurden, werden jetzt auch in den Kernländern der Europäischen Union umgesetzt.
Durch die Krise wird der zutiefst undemokratische Aufbau der Europäischen Union deutlich: ohne ernstzunehmende Kontrolle durch das Europäische Parlament übernimmt die Kommission immer größere Kontrolle über die nationalen Haushalte. Gleichzeitig hat sich die Position der nördlichen Kernländer – insbesondere die Position Deutschlands – im Hinblick auf die Peripherieländer verstärkt.
Die deutsche Wirtschaft, die von stagnierenden Löhnen und steigenden Exportüberschüssen abhängig ist, kann jedoch nicht als Modell für die gesamte EU herhalten. Vor dem Hintergrund des weltweiten Klimawandels hat das Verhalten der EU bei der Konferenz Rio+20 im Juli 2012 dazu beigetragen, dass keine ernsthafte Vereinbarung erzielt werden konnte.
Wirtschafts- und Finanzpolitik
Das Wirtschaftswachstum in der EU kam 2012 zum Stillstand, wobei das Produktionsniveau unter dem von 2008 blieb. In den Peripherieländern der Eurozone kam es vielerorts zu Rezessionen und das Produktionsniveau sank im Verlauf des Jahres in Portugal um weitere 3 % und in Griechenland um 6 %. In Osteuropa konnten die meisten Länder 2012 ein Wachstum verzeichnen, das Produktionsniveau blieb jedoch unterhalb des Vorkrisenniveaus, mit Ausnahme von Polen und der Slowakei.
Die Euro-Kernländer konnten ein Wachstum verzeichnen, dieses war jedoch gering und selbst Deutschland, wo es 2010 und 2011 ein starkes Wachstum gegeben hatte, war betroffen, da viele seiner europäischen Handelspartner Sparprogrammen unterlagen.
In erster Linie auf Beharren Deutschlands hin ergriffen 25 Mitgliedsstaaten Anfang 2012 Maßnahmen, um den so genannten Fiskalpakt einzuführen, eine Maßnahme, die das strukturelle Haushaltsdefizit eines jeden Landes gesetzlich auf 0,5 % des BIP begrenzt und die Länder wirksam daran hindern wird, in Zukunft eine aktive Fiskalpolitik zu betreiben. Als die Wechselwirkungen der Schulden und der Bankenkrise sich gefährlich auszuweiten drohten, führte die Europäische Zentralbank (EZB) unterdessen längerfristige Refinanzierungsgeschäfte mit Laufzeiten von bis zu drei Jahren ein. Sie stellte den Geschäftsbanken in der Zeit von Dezember 2011 bis Februar 2012 etwa 1 Billion € für drei Jahre zu einem Zinssatz von 1 % zur Verfügung; trotz dessen ging die Kreditvergabe der Banken an Haushalte und Firmen im Verlauf des Jahres 2012 leicht zurück.
Nachdem Spekulationen gegen spanische und italienische Anleihen Mitte 2012 zunahmen, hat die EZB außerdem das so genannte Outright Monetary Transactions-Programm beschlossen. Dieses verspricht ein uneingeschränktes Einschreiten der Zentralbank zur Stützung von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt – jedoch nur, wenn die Länder zuvor einem von den Euro-Staaten verabschiedeten Politikprogramm mit dem EU-Rettungsschirm, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, zustimmen. Auch wenn die EZB erst noch tätig werden muss, hat diese Bekanntgabe in der zweiten Jahreshälfte zu einer fragilen Finanzstabilität geführt.
Schätzungen über die gebündelten Auswirkungen der in der Eurozone eingeführten verschiedenen Haushaltsregeln zufolge, könnte das BIP in der Zeit von 2013 bis 2016 in der gesamten Eurozone um 3,5 % zurückgehen, in Italien, Portugal und Spanien um jeweils 5-8 % und in Griechenland und Irland um 10 %. Bei dem europäischen Gipfeltreffen im Juli 2012 wurde die Schaffung einer Europäischen Bankenunion vorgeschlagen, die eine gemeinsame Überwachung durch die EZB, eine gemeinsame Einlagensicherung sowie eine gemeinsame Abwicklungsbehörde mit sich bringen würde. In Anbetracht von etwa 6.000 Banken gibt es jedoch noch ungelöste Fragen in Bezug darauf, welche Banken die EZB direkt überwachen wird. Außerdem haben einige nordeuropäische Länder zu verstehen gegeben, dass sie nicht gewillt sind, mit der gemeinsamen Einlagensicherung und der gemeinsamen Abwicklungsbehörde fortzufahren.
Anstelle von Sparkursen sollte die Fiskalpolitik ihr Augenmerk auf die Reduzierung der Arbeitslosigkeit richten. Durch Staatsausgaben sollten sozial und ökologisch wünschenswerte Investitionsprojekte gefördert werden. Eine europäische Währung erfordert eine europäische Fiskalpolitik mit Ausgaben im Bereich von 10 %, um einen Abschwung aufzufangen und um einen wirksamen Ressourcentransfer zwischen reichen und armen Regionen sicherzustellen. Regional- und Industriepolitik sollten gestärkt werden und die Europäische Zentralbank, die die Befugnis besitzt, Euro-Anleihen auszugeben, sollte ein umfangreiches Investitionsprogramm fördern, vor allem in den von der Krise am schwersten betroffenen Ländern in Süd- und Osteuropa.
Um die starken Leistungsbilanzungleichgewichte abzuschaffen, sollte von den Überschussländern eine Ausweitung der Nachfrage gefordert werden. Die Beschäftigungspolitik sollte sich darum bemühen, qualifizierte, gut bezahlte Arbeitsplätze zu fördern, da ein Wettbewerb, der auf niedrigen Löhnen basiert, stets an anderen Orten der Welt entschieden wird. Die wöchentliche Regelarbeitszeit sollte auf 30 Stunden verringert werden, zum einen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, und zum anderen zur Schaffung einer Gesellschaft, in der das Leben nicht von der Lohnarbeit dominiert wird.
Die Überexpansion des Finanzsektors sollte grundlegend umgekehrt werden. Es sollte eine strikte Trennung zwischen Geschäfts- und Investmentbanken eingeführt werden und öffentliche sowie genossenschaftliche Geschäftsbanken sollten unterstützt werden, um die Finanzierung nachhaltiger Investitionsprojekte zu ermöglichen. Die Tätigkeiten von Investmentbanken, Hedgefonds und Privaten Equity Fonds sollten drastisch eingeschränkt werden. Sämtliche Wertpapiere sollten an anerkannten, organisierten Börsen gehandelt werden, neue Wertpapiere sollten strengen Prüfungen unterzogen und eine öffentliche europäische Rating Agentur sollte geschaffen werden. Auf sämtliche Finanztransaktionen sollte eine Finanztransaktionssteuer erhoben werden. Die EZB sollte unter eine wirksame demokratische Kontrolle gestellt werden und ihr Hauptaugenmerk sollte auf die Sicherung der Finanzstabilität durch Schaffung eines umfassenden, antizyklischen, systemübergreifenden europäischen Stabilitätsrahmens gerichtet sein.
Steuerung innerhalb der EU
Als Reaktion auf die Staatsschuldenkrise wurden innerhalb der EU umfangreiche Regierungsänderungen eingeführt: neue Gesetze, wie beispielsweise der „Six Pack“, welcher die Vorschriften des Stabilitäts- und Wachstumspakts bündelt; neue Verträge und zwischenstaatliche Abkommen, wie der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, welcher den Haushalten der Mitgliedsstaaten strengere Beschränkungen auferlegt; neue Verfahren, wie das „Europäische Semester“, welches den jährlichen Zyklus bekräftigt, in welchem die Kommission und der Rat die gesamtwirtschaftliche Politik und die „Reformprogramme“ der Mitgliedsstaaten prüfen.
Der gemeinsame Tenor dieser Änderungen besteht darin, die wirtschaftlich schwächeren Länder unter ein umfangreiches System der Bevormundung zu stellen und unablässig auf Kürzung ihrer Ausgaben, Aushöhlung der Beschäftigungsstandards und Privatisierung von Staatsvermögen zu drängen.
Für diejenigen Mitgliedsstaaten, die Finanzhilfen erhalten haben, fallen die Kontrollen und Beschränkungen noch drastischer aus und nehmen im Fall von Griechenland geradezu koloniale Ausmaße an. Die unvermeidbare Folge dieser Entwicklungen liegt in einer Verstärkung der seit Langem bestehenden Legitimitätskrise der EU. Die demokratischen Defizite werden größer, indem grundlegende Entscheidungen von der Möglichkeit einer demokratischen Einflussnahme abgeschirmt werden, die großen Unternehmen die Politik und die Gesetzgebung in der EU diktieren, die mächtige Europäische Zentralbank bedenkliche Entscheidungen fällt, in Bezug auf welche sie keiner demokratischen Rechenschaftspflicht unterliegt, und indem einzelstaatliche Sozialmodelle im Namen eines gemeinsamen Marktes oder der Haushaltskonsolidierung in Unordnung gebracht und niedergerissen werden.
Obgleich detaillierte Vorschläge vorgebracht werden könnten, um die derzeitigen Regierungsabläufe zu verändern, wären diese ohne eine vollständige Richtungsänderung der EU-Politik mit Priorität für eine menschenwürdige Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit sinnlos. Es muss erkannt werden, dass die Legitimitätskrise der EU inzwischen so schwerwiegend geworden ist, dass mögliche Ablehnungen des bestehenden Regime auf Ebene der Mitgliedsstaaten zunehmend als legitim angesehen werden.
Neustrukturierung der sozialen Agenda
Die Sparprogramme zerstören die Leben von Millionen EuropäerInnen, insbesondere in den südlichen und östlichen Peripherieländern. Die offizielle Arbeitslosenquote in der EU lag 2012 bei 10,6 %, in Spanien und Griechenland betrug sie jedoch 25 %, und während die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen in der EU bei 22,7 % lag, betrug diese in Spanien und Griechenland über 50 %. Anstatt Steuerschlupflöcher zu schließen, konzentrierten sich die Sparprogramme auf Ausgabenkürzungen und führten somit zu einem Aufschub oder einer Streichung von Infrastrukturmaßnahmen sowie zu Senkungen der laufenden Ausgaben für Gesundheit, Bildung, Bereitstellung von Sozialleistungen und Sozialhilfe.
Die Beschäftigung im öffentlichen Bereich wurde in vielen Ländern aufgrund der Rezession und der Auswirkungen der Sparprogramme erheblich abgebaut und es kam zu einem deutlichen Anstieg des Anteils der von Armut bedrohten Bevölkerung. Die ärmsten Sektoren wurden am schlimmsten getroffen, in den von der Krise betroffenen Ländern sind aber auch zahlreiche BürgerInnen der Mittelschicht betroffen. Historisch gesehen wurde die Sozialpolitik in Europa umgesetzt, indem der Markt bei der Erbringung von Gütern oder Dienstleistungen gelenkt oder herausgehalten wurde: Es wurden Lebensmittelzuschüsse, kostenlose Gesundheits- sowie Bildungsleistungen gewährt. Jetzt wird die Dekommodifizierung öffentlicher Dienstleistungen durch die Einführung von Gutscheinen und Erhebung von Gebühren für die Inanspruchnahme von Gesundheits- und Bildungsleistungen umgekehrt.
Zur gleichen Zeit spricht die EU-Kommission sich zunehmend für eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte aus. Eingefrorene Gehälter, Rentenkürzungen, eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters sowie Lockerungen im Kündigungsschutz und Einschränkungen im Bereich des Arbeitslosengeldes bedeuten jedoch eine weitere Schwächung des vielbeschworenen Sozialmodells der EU. Das Versagen der EU und der führenden Mitgliedsstaaten, eine deutliche Harmonisierung der direkten Besteuerung zu erreichen, hat zu einem Aufschwung des Steuerwettbewerbs geführt, da Staaten den existierenden oder potentiellen Investoren Vergünstigungen anbieten, und die Verwundbarkeit von Staaten mit einer niedrigen Besteuerung offengelegt. Sämtliche Mitgliedsstaaten sollten sich dem Prinzip einer progressiven Besteuerung sowie einer Angleichung der Steuertabellen verschreiben. Unternehmenssteuern und vergleichbare Abgaben sollten nahe beieinander liegen, um die Verlagerung von Profiten zu verhindern. Außerdem sollten sich sämtliche Mitgliedsstaaten zu Transparenz und einem vollständigen Informationsaustausch in Bezug auf Einkünfte verpflichten. Einrichtungen zur Steuervermeidung in Europa sollten abgeschafft und die Nutzung von Steueroasen unmöglich gemacht werden. Außerdem sollte Reichtum höher besteuert werden. Die Verlagerung von direkter hin zu regressiver indirekter Besteuerung sollte rückgängig gemacht und die zerstörerische Dynamik des Steuerwettbewerbs muss ausgeschaltet werden.
Entwicklungsstrategie für die europäische Peripherie
Die Spaltung in Zentrum und Peripherie ist älter als die europäische Integration selbst, die neoliberale Gestaltung des Integrationsprozesses hat diese Spaltung jedoch vertieft. In den Mittelmeerstaaten (Griechenland, Spanien und Portugal) folgte auf den EU-Beitritt eine teilweise Deindustrialisierung, da den Regierungen die Möglichkeit genommen wurde, eine nationale Industriepolitik zu verfolgen.
Nach der Einführung des Euro wurde ihnen außerdem die Möglichkeit genommen, die einheimische Industrie durch Abwertungen zu schützen. Aufgrund der Lohndeflation in Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern verschärfte sich die Lage und die Leistungsbilanzdefizite verstärkten sich drastisch. Im Baltikum und in den südosteuropäischen Ländern hing das Wachstum in starkem Maß von der Ausweitung der Kreditvergabe – vor allem in ausländischer Währung – ab. Kapitalzuflüsse aus dem Ausland riefen einen Immobilienboom hervor, überbewertete Wechselkurse waren für die industrielle Entwicklung jedoch von Nachteil und führten zu noch größeren Leistungsbilanzdefiziten als in den Mittelmeerstaaten. In den Visegrád-Ländern (Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen) entstand eine enge Verknüpfung des industriellen Sektors mit der deutschen Exportindustrie und mit Ausnahme von Ungarn fielen die Leistungsbilanzdefizite niedriger aus.
Das Baltikum und die südosteuropäischen Länder wurden im Herbst 2008 von der Krise getroffen, als eine Abnahme oder sogar Umkehrung der Kapitalströme ihre Wachstumsmodelle im Kern traf. Als erste Länder beantragten Ungarn, Lettland und Rumänien Rettungspakete beim Internationalen Währungsfonds und der EU. Das Ziel der Pakete bestand in einer Stabilisierung der Wechselkurse, welche die Priorität der westeuropäischen Banken war, die diesen Ländern umfangreiche Kredite gewährt hatten. Die Auswirkungen der Pakete führten insbesondere in Lettland zu einem drastischen Sinken der Lebensstandards. Die Mittelmeerstaaten sahen sich 2010 mit der gesamten Last abnehmender Kapitalströme, Kapitalflucht und spekulativer Attacken konfrontiert, allen voran Griechenland.
Die Regierungen der Euro-Kernländer reagierten sehr langsam: Strenge Sparprogramme konzentrierten sich auf eine Kürzung der Haushaltsdefizite, zielten jedoch auch auf eine Senkung der Leistungsbilanzdefizite ab. Durch diese Programme erkauften sich die westeuropäischen Banken Zeit, um sich von den Mittelmeerstaaten zu lösen. Die Sparprogramme ließen jedoch das Problem der Deindustrialisierung außer Acht und die betroffenen Länder befinden sich hinsichtlich ihrer Entwicklung in einer Sackgasse. Die Länder Osteuropas waren in erster Linie von dem schweren Exportrückgang Ende 2008 und Anfang 2009 betroffen, ihr anschließender Aufschwung stand in enger Verbindung zum Aufschwung er deutschen Exporte – deren Aussichten sich 2012 infolge der Sparprogramme in Europa und des nachlassenden Wachstums der wichtigsten Märkte, wie beispielsweise China, getrübt haben. Die Regionalpolitiken der EU waren auf die infrastrukturelle Entwicklung fokussiert und nicht auf die Schaffung funktionsfähiger Produktionsstrukturen.
Der neue EU-Haushalt für die Jahre 2014-2020, der Anfang 2013 verabschiedet werden soll, sieht eine Senkung der Ausgaben für die Kohäsionspolitik um etwa 5 % im Vergleich zum derzeitigen Stand vor sowie eine Mittelverteilung zugunsten der reicheren und mittleren „Transformationsstaaten“ auf Kosten der ärmeren Länder. Die sogenannten „Friends of Better Spending“ im Norden Europas fordern ebenfalls makroökonomische Auflagen, die an die Strukturausgaben geknüpft werden sollen, und es erscheint wahrscheinlich, dass eine entsprechende Einigung erzielt wird. Die Peripherieländer der EU haben ihre Leistungsbilanzdefizite erfolgreich gesenkt, dies ist jedoch das Ergebnis einer Drosselung der einheimischen Nachfrage durch strenge Sparkurse und hat dramatische soziale Folgen. Führende Vertreter der EU behaupten, dass die in den Programmen von EU und IWF geforderte Strukturreform – Privatisierung und Deregulierung der Arbeitsmärkte – die Wettbewerbsfähigkeit steigert, proaktive Industriepolitiken tauchen in den Programmen jedoch nicht auf. Die EU-Politik versäumt es auch, die derzeit von Deutschland und den anderen nordeuropäischen Staaten infolge der neomerkantilistischen Strategien erwirtschafteten Überschüsse zu thematisieren.
Die Höhe der Staatsschulden in Griechenland und anderen Peripherieländern kann eindeutig nicht aufrechterhalten werden. Im Hinblick auf die Schulden sollte eine Schuldenprüfung durchgeführt werden, um festzustellen, welche Teile berechtigt sind, und die verbleibenden Schulden sollten bis auf ein tragbares Niveau abgeschrieben werden. Die Rolle der EZB als Kreditgeber letzter Instanz (lender of last resort) auf dem Markt für Staatsanleihen sollte ausgeweitet und von den Forderungen nach strengen Sparprogrammen losgelöst werden. Der EU-Haushalt sollte von derzeit 1 % des BIP der EU auf 10 % erhöht werden, um eine gesamtwirtschaftliche Stabilisierung zu ermöglichen und um umfangreiche Investitions- und Entwicklungsprogramme in der südlichen und östlichen Peripherie der EU durchzuführen. Aktive Industrie- und Regionalpolitiken sind notwendig, um den Entwicklungsprozess in den Peripherieländern zu unterstützen, da Entwicklungen nicht nur infolge von Marktprozessen eintreten.
Die derzeitige Regional- und Kohäsionspolitik der EU hat hauptsächlich großstädtische Ballungsgebiete gefördert, eine Förderung der ärmeren Gebiete ist jedoch erforderlich, um die Beschäftigung und das Produktionsniveau zu erhöhen. Die Regionalpolitik hat sich auf die regionale und kommunale Ebene konzentriert, dies ist für die nationale Ebene, welche für die Förderung der Entwicklung oft besser geeignet ist, jedoch von Nachteil. Die vollständige Ressourcennutzung bedarf einer demokratischen Beteiligung und nicht der Planung durch eine Elite.
Insbesondere die von der EU vorgeschlagene „intelligente Spezialisierung“, bei der jede Region in einem Bereich weltführend sein soll, kann nicht funktionieren, da es nicht genügend Produkte für alle gibt und eine Überspezialisierung wahrscheinlich ist. Darüber hinaus ist der regionenübergreifende Handel zwar wichtig, aber größere Aufmerksamkeit sollte der Förderung ökologisch nachhaltiger Produktionsformen durch den Einsatz lokaler Ressourcen für den lokalen Konsum gewidmet werden, beispielsweise im Fall der Lebensmittelproduktion oder der Energieerzeugung. Die Wirtschaftspolitik in der EU muss neu ausbalanciert werden. Während neu geschaffene Verfahren in der EU auf Länder mit Zahlungsbilanzdefiziten Anwendung finden, sollte auch von Ländern mit Außenhandelsüberschüssen gefordert werden, expansivere Maßnahmen zu ergreifen, um die Zahl ihrer Importe zu erhöhen.
Die Krise der globalen Steuerung
Zwei gewaltige Misserfolge kennzeichnen den Bereich der globalen Steuerung im Jahr 2012. Zunächst wurden in Bezug auf Finanzmarktreformen und wirtschaftspolitische Koordinierung keine wesentlichen Fortschritte erzielt. Die nicht behobene Krise in der Euroregion stellt eine wachsende Bedrohung für die weltweite Konjunktur dar, welche sich langsam abschwächt. Trotz zahlreicher Erklärungen über das Erfordernis, globale Herausforderungen anzugehen, bleiben die Hauptursachen der weltweiten Finanzkrise – erhebliche Leistungsbilanzungleichgewichte, ungleiche Verteilung von Einkommen und Reichtum sowie unkontrollierte und instabile Finanzmärkte – weiterhin bestehen. Die derzeitigen Leistungsbilanzungleichgewichte bleiben weiterhin deutlich oberhalb eines annehmbaren Niveaus. Die Umsetzung neuer Finanzmarktregulierungen ist weit hinter den Absichtserklärungen zurückgeblieben. Die Problematik des „Too big to fail“ (zu groß, um zu scheitern) ist noch lange nicht behoben und die Finanzinstitutionen werden noch größer und konzentrierter. Risikoreiche Geschäfte werden im nicht kontrollierten Schattenbankensystem weiterhin durchgeführt – möglicherweise in zunehmendem Umfang.
Außerdem verbindet der Umweltaspekt der globalen Steuerung Situationen von äußerster und zunehmender Dringlichkeit – z. B. Klimawandel und Zerstörung der Biodiversität – mit einer Abnahme der politischen Handlungsfähigkeit. Das Gipfeltreffen Rio+20 im Jahr 2012 hat sich als unfähig erwiesen, die globale Agenda einer nachhaltigen Politik zu erneuern. Die Umweltpolitik wurde auf ein Nebengleis geschoben, in den wichtigsten Bereichen der Wirtschaftsentwicklung auf Lippenbekenntnisse reduziert und im Bereich des Umweltschutzes auf unzusammenhängende und unzureichende Maßnahmen beschränkt.
Gegenwärtig gibt es keine globalen Institutionen, die globale und systemische Risiken, wie beispielsweise globale Leistungsbilanzungleichgewichte, Vermögensblasen, unverhältnismäßige Wechselkursschwankungen, Richtungsänderungen der Kapitalströme, die Höhe internationaler Reserven oder schädlichen Steuerwettbewerb und Steuerhinterziehung wirksam überwachen und kontrollieren. Die Institutionen, die diese Aufgaben zum gegenwärtigen Zeitpunkt (teilweise) übernehmen sollten – der Internationale Währungsfonds (IWF), die Gruppe der Zwanzig (G20), das Finanzstabilitäts-Forum, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) –, erfüllen diese Aufgaben in der Praxis derzeit nicht. Im Bereich der globalen Umweltpolitik scheint die offizielle Politik der EU seit dem Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise auf dem Rückzug zu sein und erweist sich – sofern sie existiert – als absolut unzulänglich.
Die Reform der Finanzpolitik muss auf den Geboten der Gleichheit sowie der wirtschaftlichen und finanziellen Stabilität beruhen und auf repräsentative und transparente Weise organisiert sein. Anstelle der G20 – einer selbsternannten Ländergruppe – sollten objektive und eindeutige Auswahlkriterien angewendet werden, um einen „Globalen Wirtschaftsrat“ (Global Economic Council) ins Leben zu rufen, wie von der UN-Kommission unter dem Vorsitz von Joseph Stiglitz vorgeschlagen wurde.
Der IWF ist im Hinblick auf seine Lenkung, Mandate und politischen Empfehlungen grundlegend zu reformieren. Sofern der politische Wille vorhanden ist, kann in Steuerfragen durchaus mehr Transparenz erreicht werden. Da die Vereinten Nationen momentan das repräsentativste Koordinierungsforum darstellen, sollten die EU und andere OECD-Mitglieder Ressourcen und das Mandat von der OECD an eine hochrangige Steuerinstitution der Vereinten Nationen übertragen und diese mit ausreichender Fachkompetenz und Macht ausstatten, um die Steuerhinterziehung und die Steuervermeidung wirksam zu bekämpfen und den Steuerwettbewerb abzubauen.
Jede sinnvolle und alternative politische Strategie im Bereich der globalen Umweltpolitik hat die Privatisierung der Wasser- und Energieversorgung sowie generell der Versorgung mit öffentlichen Gütern abzulehnen, die Monetisierung der Natur zu bekämpfen und der Abschwächung oder Ersetzung bindender Vorschriften durch bloße Marktmechanismen eine Absage zu erteilen. Die EU könnte ihre eigene Fähigkeit zur Entwicklung langfristiger Nachhaltigkeit fördern, indem sie sich zu einer neuen Form des Multilateralismus verpflichtet. Anstatt zu versuchen, zu jedem Zeitpunkt die führende Rolle für sich – oder ihre führenden Mitgliedsstaaten – zu beanspruchen, und anstatt die übrigen Mitglieder als Untergebene zu betrachten, die angeleitet werden müssen, sollten die EU und ihre Mitgliedsstaaten eine Art offener Diplomatie praktizieren, in der diejenigen die Führung übernehmen, die in einem bestimmten Bereich am weitesten fortgeschritten sind.
Im Artikel sind schon die wichtigsten Punkte angesprochen. Betrachtet man allerdings die heutigen Schlagzeilen, wie z.B.: “Korruption beim Management – Druck auf Draghi steigt: Staatsanwalt ermittelt gegen italienische Notenbank”, “Spanien: Schwere Korruptions-Vorwürfe gegen Regierungschef Rajoy”, “Korruptions-Verdacht: EU stoppt Zahlungen an Polen”, “Kettenreaktion im Finanzsystem – Derivate: Erste Explosionen im Umfeld der 700-Billionen Dollar Bombe” .. da komme bei mir doch starke Zweifel daran auf, ob die aktuellen Institutionen (=Regierungen) in der Lage dazu sind, die geforderten ‘globalen Institutionen’ für eine Neuregulierung des globalen Finanzsystems und auch eine korrekte Kontrolle der Geldpolitik ins Leben zu rufen ( – etwa Vollgeld, Monetative.. ). Gleichzeitig wird aber die Lage für die betroffenen Bürger und auch die Folgen für die Umwelt, durch die hemmungslose Ausbeutung von Ressourcen, zunehmend dramatischer. -> http://www.youtube.com/watch?v=Uawv09ZnpIY
In der Tat. Wenn man noch die unter Barnier vorangetriebenen Pläne der Konzernlobbys hinzuzählt, das Wasser in der EU zu privatisieren, dann kommt man tatsächlich zu dem Schluss, dass die Apelle der Memorandum-Gruppe ungehört untergehen werden.
Im Gegenteil, die gegenwärtige krisenhafte Entwicklung in den südeuropäischen Ländern scheint auch von manchen Akteuren gewollt zu sein – dazu zählt u.a. die deutsche Regierung.
Und die sogenannte “Schuldenkrise” ist das ideale “Argument”, um den Ausverkauf der öffentlichen Daseinsvorsorge weiter voranzutreiben.