Von Jan Mollenhauer
In Deutschland geht in den politisch interessierten Foren momentan ein Gespenst um, genährt von allgemeinem Verdruss: Es heißt Systemdiskussion.
Freilich kommt dieser Terminus etwas hölzern daher, doch darf die Nüchternheit des Begriffs nicht darüber hinwegtäuschen, dass die parlamentarische Demokratie in ihrer schwersten Legitimationskrise steckt.
Bei der letzten Bundestagswahl lag die Wahlbeteiligung bei historisch niedrigen 70,78%, die Fraktion der Nichtwähler wäre die stärkste im deutschen Bundestag. Zyniker verweisen auf das Ausland, der geneigte Technokrat mag diesen Umstand mit fehlenden Alternativen erklären. Doch ist gemeinhin Konsens, dass die allzu profillose Parteienoligarchie und fast noch profillosere Berufspolitiker vor allem am eigenen Machterhalt interessiert sind und nicht am Wohl des Volkes. Joachim Gauck ist die Projektionsfläche für Hoffnungen einer Gesellschaft, die will, aber nicht kann.
Müßig wäre es nun, all die Reförmchen der Bundesregierung aufzuzählen, die zu einer Vertiefung des Dissenses geführt haben. Die Parteien scheinen einer wohlbehüteten Welt einer sich selbst überworfenen Wohlstandsgesellschaft verhaftet, deren Nährboden eine sich stets im Aufwind befindliche Zustimmung war, gespeist vom „Wohlstand für Alle“.
Doch diese Zeit ist vorbei. Im Zeitalter der häufig konstatierten „Mediendemokratie“ ist der Handlungsspielraum der Volksvertreter eng umrissen: Es gibt wirtschaftliche Sachzwänge und mediale watchdogs, die jeden Schritt genau aufzeichnen und auf seine Fehlerhaftigkeit evaluieren. Die sozialen Hierarchien verkrusten, die Eliten schotten sich nach untenhin ab. Der soziale Ausschuss wird mit Almosen, schlechtem Essen und billigster Unterhaltung abgespeist. Es herrscht das Gewaltmonopol der Beharrung.
Was diese Situation so prekär und die ihr oppositionellen Überlegungen so virulent macht, ist der Umstand, dass sich eine ernsthafte Debatte, die auch andere Ordnungsrahmen vorsieht quasi nicht realitätsnah geführt werden kann. Die parlamentarische Demokratie ist die einzige Gesellschaftsordnung, die ihren Erhalt selbst produziert; durch Narkose oder Assimilation ihrer Feinde. Die totschlagende Keule ist hierbei das Signet der „Freiheit“. Denn die schamlose Bereicherung der Oberen, das asoziale Verhalten der Zocker und Spekulanten, der subversive Lobbyismus können sich im samtig-weichen Mantel der Demokratie verstecken, wiewohl sie Jakobinerkutten tragen.
Es hat einen Grund, warum Žižek, Marx und bisweilen sogar Lenin wieder gelesen und bejubelt werden: Immer mehr entziehen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ihre Unterstützung. Sozialismus und Anarchie feiern eine Renaissance, die sich nicht einmal der krasseste 68er-Anarcho besser hätte vorstellen können. Ein Beweis für die neue Dynamik ist das hektische Zucken des Verfassungsschutzes, der bei Signalwörtern hysterisch aufschreckt und mit pawlowschem Reflex den Überwachungsapparat einsetzt.
Noch moppern die Frustrierten nur vor sich her, doch vielleicht sind sie eines Tages bereit, der schöpferischen Kraft der Zerstörung, die dem Kapital innewohnt, die zerstörerische Wut und Verzweiflung entgegenzusetzen. Es ist das Einzige, was bleibt.
Die Systemdiskussion führe ich auch. Allerdings stelle ich nicht die parlamentarische Demokratie, sondern den Kapitalismus in der jetzigen Form und damit in erster Linie das Geld(schöpfungs)system in Frage. Unser Staatssystem hat zwar eindeutige Schwächen und hängt durch die handelnden Personen unmittelbar mit dem Wirtschaftssystem zusammen, es ist aber das kleinste Übel im vergleich zu anderen Staatssystemen und läßt sich durchaus mit einem anderen Wirtschaftssystem weiter fahren.
Schöner Text, wenn auch mit irreführendem Titel. Denn auf die kritische Masse (es ist wohl die gemeint, die erreicht werden muss um ein Umdenken, bestenfalls einen Systemwechsel zu initiieren) wird mit keinem Wort erwähnt.
Von der k.M. sind wir weit entfernt. Die Mehrheit streichelt das Display ihres Smart-Phones oder schaut RTL2 & Co.
Es besteht eine breite Lethargie in der Bevölkerung; von Umbruchsstimmung ist allerorten nichts zu spüren.
Die Medien sind gleichgeschaltet und prägen weitestgehend die Leitplanken des Denkens. Merkel hat konkurrenzlose Zustimmungswerte.
Wäre schön, wenn der Autor recht hätte und die sich westliche Gesellschaft im Umbruch befände – oder zumindest darauf zusteuern würde.
Optimismus und Hoffnung zu verbreiten ist ein Bärendienst für oppositonelle Bewegungen. Es bedarf einer kritischen Analyse der bestehenden Zustände um Kräfte zu mobilisieren. Nicht Optimismus sondern Wut nährt den Widerstand.
Gruß, Duderich
Ich seh das alles einfach: wer Autobesitzer ist, streikt nicht – da gelten technische Abhängigkeiten, anstatt sozialer Bezogenheit, die dann sekundär ist.
‘Mensch’ ist zur ‘Nutzlasteinheit’ im Rahmen eines reibungslos funktionierenden Transportsystems geworden.
Solang der Sprit von den meisten bezahlt werden kann, ändert sich nie mehr was.
Da liegt – sozial gesehen – ein Totpunkt vor – oder, wenn man so will: die Erfuellung aller Träume per universeller technischer Rundum-Eingebundenheit, was ais ‘Freiheit’ empfunden wird, weil ergonomisch angepasst.
Nur die ‘Stubenhocker’ jammern . Aber das tun sie immer.
Und so werden Marx bis Mao wieder ‘ausgegraben’ …
der Globalismus ‘atomisiert’ das, was eine ‘kritische Masse’ werden könnte (frueher tatsächlich werden konnte – dann aber sinnlos ) per Globalkommunizierbarkeit schon im Moment ihres Entstehen Könnens – in statu nascendi (obwohl es jetzt sinnvoil wäre)…
so entsteht ‘krtische Masse’ wahrscheinlich eher aus zufälligen Verflechtungserscheinungen irgendwie mal im Netz auf rein ‘technische’ Art (z.B. bisher nicht entdeckter Software-Fehler im Uebertragungswesen, den niemand je fuer möglich gehalten hätte – als scheinbares Auftauchen irgendeines ‘Super-Virus’) – und dann wieder ueber alle Köpfe weg – wie eh und je …
Das Wort ‘kritische Masse’ ist zu sehr beladen mit der Vorstellung von Explosion – kommt aus der Kernphysik.
Zur Debatte steht aber keine grosse Explosion (davon gibts eh viel zu viel – und davor haben die meisten – nach Hiroshima – nur Angst ) sondern ein Optimum an Synergie und Zusammenspiel nicht nur – wie bis jetzt auf den ganz ‘hohen’ Ebenen des Kapitals – sondern endlich ‘vor Ort’, wo’s wirklich ‘trifft’.
Es geht um ‘Fusion’ anstatt wie vorher nur die ‘Fission’ (als Folge der kritischen Masse).
Anders ausgedrueckt: das Kennzeichen der Kritikalität der so verstandenen ‘Masse’ ist, dass sie dann ‘leuchtet’ – im metaphorischen Sinn.
Und bei der Metaphorik sollte wahrscheinlich ‘stehen geblieben’ werden, weil man im Grund genommen sowieso nie darueber hinauskommt.
die Frage lautet also:
wie kommt man von der vorherigen Situation, dass per ‘kritischer Masse’ dann alles ‘auseinandergeflogen’ ist, stattdessen dazu, dass ein ‘Zusammenkommen’ erfolgt.
Wie wuerde das aussehen sollen, wenn es ‘besser’ werden können soll, als der jetztige ‘Zustand’ ?
Eine “Kritische-Masse” entsteht durch die Verdichtung von spaltbarem Material.
Wir kann mann nun eine solch menschliche Masse derart verdichten, so das es zu eine (sozialen) Explosion kommt?
Hoffentlich schaut keine auf das Jahr 1929 ;-)
Wut wird nicht mehr reichen – es ist der gerechte Zorn der Menschen der noch korrigierend wirken könnte.
Sehr schön zusammengefasst – die Masse verspielt Ihre Rechte in dümmlicher Lethargie und streichelt das Display ihres Smart-Phones oder schaut RTL2 & Co.
Ich sehe in der Masse leider das Fehlen der “kritischen Potenz” – daher glaube ich in Deutschland weder an das Erreichen der kritischen Masse geschweige denn an den notwendigen gerechten Zorn.
Die Frage ist, was uns nach dem >Break-Even-Point< erwartet. Dies habe ich in meinem Blog zur Diskussion gestellt:
http://aufzeichnungen-eines-gutmenschen.blogspot.de/2012/09/sekt-oder-selters.html
Bleibt die Frage, ob man das, was momentan als “parlamentarische Demokratie” betitelt wird, überhaupt noch als eine solche Ansehen kann. Mein Eindruck ist, dass Oligarchen die Macht übernommen haben und das Wahlspiel nur weiter betreiben, um den demokratischen Schein zu wahren. Die aufgesetzte EU mit ihrer gänzlich undemokratischen Struktur, die ihren Instanzen aber dennoch Bezeichnungen aus der Demokratie verleiht, spiegelt diese Entwicklung deutlich wieder. Abgesehen von den Bezeichnungen stimme ich Ihren Ansichten voll zu.
Wir befinden uns nicht nur in der Politik in einer Systemkrise, sondern in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft… auf eine völlig andere Art, als es uns über die Systemmedien vermittelt werden soll. Vor lauter Ablenkungen bleibt das Wesentliche leider völlig auf der Strecke.
Die ‘kritische Masse’ findet einfach keinen geeigneten Kristallisationspunkt, denn alle bekannten Institutionen ( – Parteien, Medien, Kirchen, Sekten, Clubs oder Aktivisten wie Attac, Campact, Avaaz etc. ) versagen aus dem selben Grund : Sie gehören letztlich zum gleichen SYSTEM und trachten dies zu erhalten – auf die eine oder andere Weise. Und leider ist es so : Auf etwas wirklich anderes kann sich heute kaum jemand einlassen, weil Vorurteile und die üblichen Denkschablonen dies verhindern. Resignation macht sich breit, außer bei jenen, die DAS.ANDERE bereits gefunden haben – „… und ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und … meinen Namen, den neuen.“
Herzerwärmt und dankbar, bin ich dafür, dass ich auf diesen Blog gestoßen bin. Endlich vernunftbegabte Kommentare lesen! Mein Erwachen ist erst 1 Jahr alt (zzgl. 10 Jahren Vorbereitung), umso mehr überkam mich die Angst, als mir das Ausmaß der Lethargie meiner Nächsten bewusst wurde. Mit missionarischem Eifer begann ich mein Umfeld wachzurütteln. Ich muss jedoch schmerzlich feststellen, dass diese “gesättigt” sind, ferner ein Wille zum Ausstieg aus der Gleichschaltung vorhanden sei. Vielmehr ist es ein nachbeten indoktrinierter Informationen aus der Düdelkiste und den Anstalten. Informationskrieger. Spezialisierung. Ich sehe eine Gefahr in der kritischen Masse, den ich habe Zweifel an der Qualität dieser, den sie erscheint mir lenkbar und bissig. Ist Feuer in dem Zusammenhang wirklich reinigend? Ich befürchte, ohne eine soziale Revolution, werden auch die anderen Krisen nicht zu überwinden sein. Ist der Mensch gefangen in einem Zyklus?
Gruß an den Autor und alle Anderen auch