Innovation und Fortschritt

…zwischen Kultur und Ökonomie

Bild: Kevin Kurz, "Weltzeituhr". Some rights reserved. Quelle: www.pigs.de„Wir müssen die dynamischen Methoden des Kapitalismus nutzen, um Gewinn zu machen – und diese dann auf umso nützlichere und sinnvollere Weise anderen zugute kommen lassen. Aus ethischer wie aus praktischer Sicht ist dies eine der besten Möglichkeiten, gesellschaftliche Veränderungen herbei zu führen.“ – Dalai Lama [1]

Von Günter Buchholz

In der gesellschaftlichen Krise

Die bürgerliche Gesellschaft befindet sich gegenwärtig in einer Krise, die sich aus verschiedenen, sich wechselseitig verstärkenden Teilkrisen (der Ökonomie, des Sozialstaats, der Familie und der biologischen Reproduktion, der Kultur und des gesellschaftlichen Bewusstseins, der Politik) ergibt.

Die Krise zu begreifen bedeutet, sie in eine Kritik der Gesellschaft zu überführen. Es handelt sich bei dieser Krise um den Ausdruck tiefliegender innerer Widersprüche der Gesellschaft in Verbindung mit besonderen historischen Umständen.

Ökonomie

Die Ökonomie durchläuft seit mehreren Jahren eine Wachstumskrise, und auch die aktuelle Erholung bleibt schwach. Durch die herrschende neoklassisch-monetaristische Wirtschaftspolitik wird sie nicht nur nicht unterstützt, sondern die an fiktiven Gleichgewichtsmodellen orientierte regelgebundene Geld- und Fiskalpolitik, die einseitig an Preisniveaustabilität orientiert ist, treibt die Ökonomie mittlerweile an den Rand einer Deflationskrise[3]. Sie droht eine langfristige ökonomische Depression einzuleiten; die seit langem beobachtbare ökonomische Entwicklung in Japan ist hierfür ein warnendes Beispiel[4].

Unter den durch die Globalisierung veränderten Randbedingungen – insbesondere der Dominanz der Finanzmärkte – und in Verbindung mit einer machtpolitisch abgesicherten Tabuisierung der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums wird ein Standortwettbewerb betrieben. Dieser bewirkt aufgrund eines bereits mehrere Jahrzehnte anhaltenden massiven Ungleichgewichts am Arbeitsmarkt, welches sich in der Massenarbeitslosigkeit ausdrückt, in der sich nach Osten erweiternden Europäischen Union eine langfristig wirksame Reallohnsenkungstendenz. Sie wird sich voraussichtlich auch gegen die Politik der „organisierten Arbeit“ (die Gewerkschaften) durchsetzen und damit zugleich einer Zunahme der Konsumgüternachfrage auf dem europäischen Binnenmarkt – und damit eine Erholung des Wachstums von dieser Seite – entgegenwirken.

Da zugleich – auch durch die schwach bleibenden „öffentlichen Investitionen“ (Gemeinden, Länder, Bund) – ein endogener Aufschwung verhindert wird, richten sich alle positiven Wachstumserwartungen auf den außereuropäischen Export. Damit wird die ökonomische Entwicklung der europäischen Wirtschaft aber abhängig von der Dynamik der Märkte in den USA und in Ostasien, von Wechselkursschwankungen und von den Maßnahmen der außereuropäischen Wirtschaftspolitik.

Soweit es zukünftig zu den von der neoliberal – merkantilistischen Wirtschaftspolitik erwarteten exportbedingten Wachstumsimpulsen kommen sollte, wird dennoch eine Erholung wegen der Entkoppelung der Binnenmarktentwicklung von der exportgetriebenen Belebung sowie wegen einer Entkoppelung der finanziellen von der realen, industriellen Akkumulation (d. h. durch die Verselbständigung von Finanzspekulationen) schwach bleiben.

Demographie und Sozialstaat

Parallel hierzu haben sich in der Gesellschaft nachhaltige und folgenreiche familiäre und demographische Veränderungen vollzogen. Die Familien unterliegen anscheinend einer fortschreitenden Zerfallstendenz. Die Geburtenzahl (Natalität) ist viel zu stark gesunken, die Lebenserwartung ist gestiegen, und die Folge ist eine immer ungünstiger werdende Altersstruktur. Auch durch eine notwendige Zuwanderung (die aber Integrationsprobleme mit sich bringt) kann diese Situation nicht durchgreifend verbessert werden.

Die sich daraus ergebenden zunehmenden Anforderungen an den Sozialstaat (Sozialversicherungs-Systeme und Sozialhilfe) wirken über steigende Brutto-Löhne auf die private Ökonomie ein, die sich im Interesse ihrer Profitabilität und vermittelt über die staatliche Politik zur Wehr setzt, während die betroffenen Lohnabhängigen und Rentner gegenüber der „Politik des Sozialabbaus“ mit Legitimationsentzug reagieren oder auf vermeintliche Alternativen setzen.

Es geht bei dem sogenannten „Umbau des Sozialstaats“ auch um die Abwehr der Kosten der „Wiedervereinigung“ (1989), denn deren Kosten waren durch Belastung der Sozialversicherung zunächst einseitig auf die Arbeiter und Angestellten abgewälzt worden. Auf diese Weise hat sich eine mit der Ökonomie verquickte, spezifisch soziale Krise entwickelt.

weiter >>

Print Friendly, PDF & Email
Filed in: Dossier, Ökonomie Tags: , , , , , ,

Ähnliche Artikel:

<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Kapitalismus und Freiheit</span><br/>Der Totalitarismus des freien Marktes Kapitalismus und Freiheit
Der Totalitarismus des freien Marktes
<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Flucht und Integration</span><br/>“Das ökonomische System ist ein blinder Fleck” Flucht und Integration
“Das ökonomische System ist ein blinder Fleck”
<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Innovationen</span><br/>Der nützliche Staat Innovationen
Der nützliche Staat

3 Kommentare zu "Innovation und Fortschritt"

  1. Frau Lehmann sagt:

    Vielen Dank für diese außerordentlich gute und differenzierte Analyse!

  2. Ich schließe mich natürlich dem obigen Kommentar an.
    Die einzige Ausführung des Textes, der ich kritisch gegenüber stehe, ist der Punkt “Demographie und Sozialstaat”. Ich bezweifle die übliche Behauptung, – die leider auch hier geteilt wird -, dass die Demographischen Veränderungen bzw. die veränderte Alterstruktur die sozialen Sicherungssysteme tatsächlich überfordern. Dies ist eine These, die von gewissen Interessensgruppen gezielt gestreut wird, allen voran von den privaten Versicherungskonzernen. Die Nachdenkseiten haben sich mit dieser Art von “Meinungsmache” schon häufiger befasst.
    Ich persönlich vertrete vielmehr die Sichtweise, dass die demographische Entwicklung durch die ständig steigende Produktivität – oder im Duktus des Autors die Beschleunigung der Produktivkraftentwicklung – leicht aufgefangen werden könnte.
    In diesem Kontext ist auch die interessengesteuerte Demontage des umlagefinanzierten Rentensystems unverzeihlich.

  3. Pistepirkko sagt:

    Interessant find ich das ich dies schon zweimal als Kommentar so ähnlich gepostet hatte.
    Wo bleibt ein philosphischer Ansatz wie wir leben wollen?
    Letztendlich ist ein System das von Menschen gelebt wird nichts anderes als der Glaube daran das dieses System funktioniert.
    Fangen wir doch wieder damit an daran zu glauben das wirtschaftliches Handeln dem Menschen dienen muss und nicht umgekehrt.
    Fangen wir doch wieder an zu glauben das wir Bildung und nicht Ausbildung brauchen. Die Bildung ist mittlerweile so weit runtergeschraubt das man aus Proletariat das Prekariat machte.
    Ich finde nämlich nicht das das Proletariat nicht mehr vorhanden ist. Man nennt es nur halt anderes. Entweder Prekariat oder Angestellte.
    Soweit verdummt das sie nicht anfrangen ihren Glauben in Frage zu stellen.
    In sofern sind die Neocons nicht besser als radikale Religionsanführer.

    Neusprech gut erklärt. Ich machte die Erfahrung das viele Leute nicht verstehen was gesagt oder geschrieben wird, weil man sie indoktriniert hat. Oder sie verdummt wurden.
    Daher verbreite ich diesen Link wo es nur geht:

    http://www.neoliberalyse.de/index.php?option=com_content&view=article&id=108:leben-im-schnelldurchlauf&catid=40:journalistisches&Itemid=73

Einen Kommentar hinterlassen

Kommentar abschicken

le-bohemien