Griff ins Archiv

Protokoll über deutsche Zustände

Von Sebastian Müller

Es ist noch nicht lange her, Anfang des Jahres war es, da geisterte es wieder kurz durch die deutsche Medienlandschaft: das Gespenst des Kommunismus. Die Bundesparteivorsitzende der Linkspartei, Gesine Lötzsch, wurde in der so genannten Kommunismusdebatte zur Zielscheibe der Presse und ihrer politischen Gegner, weil sie es wagte, in einem Leitartikel für die Junge Welt den Begriff des Kommunismus zu verwenden.

So sehr man auch über die Sinnhaftigkeit dieser Debatte streiten mag, man hat einmal wieder vor Augen geführt bekommen, wie sehr sich der Kommunismusbegriff in der deutschen Gesellschaft als Reizwort etabliert hat. Mit dem “Sozialismus” ist es im Übrigen nicht anders. Sobald diese Wörter fallen, verwandelt sich das Umfeld der konservativen, liberalen aber auch linksliberalen Konsensgemeinschaft in ein schrilles Tollhaus der Skandalisierungen und Polemisierungen, Vereinfachungen und Pauschalisierungen, Verzerrungen und Halbwahrheiten.

Ein Phänomen, das sich gar strukturell ausgebreitet hat: Wer sich zu weit links oder rechts vom vorgekauten Mainstream der Political correctness bewegt, wer über das abgesteckte Ziel eines bürgerlichen Konsens hinaus schießt – also die ominöse Mitte politischer Ideen verlässt – findet sich schnell in der Bedeutungslosigkeit des geistigen Exils wieder. Es scheint, als würde der Spielraum erlaubter Ideen und Debatten in einer Zeit der erklärten Alternativlosigkeit immer kleiner. Die geduldeten Gedanken sind dabei nicht zuletzt Ausdruck der Machtverhältnisse.

Ein tiefer Griff in das Archiv der Geschichte zeigt, dass es auch anders geht, dass man – gleich zu welchem Thema – einen tiefgründigen, sachlichen und vor allem offenen Dialog führen kann. Der Rückblick kann helfen, heutiger Verhältnisse deutlicher gewahr zu werden. Auch mag ein Rückblick, der in diesem Fall vier Jahrzehnte zurückreicht, den einen oder anderen Zeitzeugen erschrecken. Denn die Diskrepanz der Diskussionskultur scheint riesig zu sein: Man kann vom hohen Niveau von damals oder von der Niveaulosigkeit von heute überrascht sein – es ist das gleiche Ergebnis.

Konkret handelt es sich um ein Gespräch, das der renommierte Journalist und spätere Politiker Günter Gaus am 3. Dezember 1967 in seiner Fernsehsendung “Zu Protokoll” mit dem damals 27 Jahre alten Rudi Dutschke führte. Einmal abgesehen davon, dass den Diskurs die Suche nach einer philosophischen Definition des Sozialismus auszeichnet – eine Frage, die im Januar 2011 kein einziges Mal gestellt wurde – war es auch eine von allen ideologischen Fesseln befreite Auseinandersetzung mit dem damaligen Gesellschaftssystem. Dutschkes Kritik wirkt hier phasenweise zeitlos oder gar seiner Zeit voraus.

Die Frage nach den hohen individuellen Arbeitszeiten in einer Gesellschaft, in der die Produktivität immer weiter steigt; die Kritik an einer Alternativlosigkeit eines politischen Systems oder die Erörterungen zum Aufbau einer alternativen Öffentlichkeit („Es gibt eine andere Öffentlichkeit als die bestehende“) sind heute nicht weniger aktuell als damals. Dutschkes Gesellschafts- und Herrschaftskritik wirkt, gerade da sie schon mehr als vierzig Jahre zurückliegt, gar wie ein Brennglas auf die heutigen Zustände.

Bleibt das Resümee aus der sicheren Distanz: Gaus und Dutschke hinterlassen ein beeindruckendes Zeitdokument, dessen zentrale Frage – unabhängig davon, ob man nun Dutschkes Weltsicht teilen möchte oder nicht – auch heute noch gestellt werden muss: Kann der Mensch seine Geschichte in die Hand nehmen? Dutschke selbst hat diese Frage bejaht, doch in einer Epoche der Alternativlosigkeit, die sich geistig und ökonomisch an vermeintlich unverrückbaren Paradigmen orientiert, erscheint der Mensch heute eher als Getriebener seiner Zeit.

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Noch keine Kommentare zu "Griff ins Archiv"

  1. Axel Weipert sagt:

    Von Gaus gibt es ja eine ganze Reihe solch gelungener Interviews. Man denke nur an das mit Otto Brenner. Und ja: Die Debatten heutzutage könnte sicher niveauvoller und offener geführt werden. Wobei beides natürlich eng zusammenhängt. Manchmal bin ich ehrlich erstaunt, wie schwach zum Teil in vermeintlich renommierten Blättern argumentiert wird.

  2. Sehr schade, dass durchaus gut durchdachte Ansätze, wie Dutschke sie zweifelsohne hatte, heute von den meisten, ohne sie wirklich ernst zu nehmen, schnell mit einem etwas melancholischen Lächeln abgetan werden. Damals setzten sich die Leute, die Dutschke Ideen nicht nur aus der Bild kannten, offener ersthafter mit der Suche nach ihrem Bewusstsein auseinander, es existierte ein Glauben an die Möglichkeit gemeinsam eine Utopie schaffen und in ihr zu leben. Heute ist es Induviduation statt gemeinsames Streben nach etwas Besserem das alle betrifft. Sicherlich braucht man dafür ein gesundes Selbstbewusstsein, jedoch erst wenn man nicht mehr selbst der Mittelpunkt seines Strebens ist, kann eine sich selbst organisierende, friedliche und gerechte Weltgesellschaft verwirklicht werden. Selbst wenn man bereit ist Verantwortung zu tragen, fehlt heute das gemeinsame Ziel, der weiße Fleck auf der Landkarte.

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