Hintergründe zur Lage in Libyen
Von David Noack
Muammar al-Gaddafi steht nun nach über 40 Jahren der Herrschaft kurz vor dem Ende. Aufständische halten nun bereits Städte im Umfeld der Hauptstadt Tripolis unter Kontrolle. Die Herrschaft des Gaddafi-Klans scheint sich nur noch auf zwei große Städte zu erstrecken. Um den Rest des Landes an der großen Syrte wird gekämpft, sofern die Insurgenten die Territorien nicht bereits vollständig unter Kontrolle haben.
Kalter Krieg
Ende der 1960er Jahre putschte der damalige Hauptmann al-Gaddafi sich in Libyen an die Macht. Die Herrschaft des bis dahin ersten und einzigen Monarchen Idris I. fand ein jähes Ende. Gaddafis großes Vorbild war Gamal Abdel Nasser – ein pan-arabisch orientierter Mittelstandssozialist. Doch bereits 1970 starb Nasser und nahm Gaddafi somit einen wichtigen Verbündeten. Die Beziehungen mit Ägypten verschlechterten sich rapide – und führten 1977 zu einem kurzen Grenzkrieg, den Libyen haushoch verlor. Nachdem Ägypten unter Sadat einen pro-westlichen Schwenk erfuhr, setzte die Sowjetunion verstärkt auf Syrien und Libyen als Vorposten des Einflusses in der arabischen Welt.
Während die USA auf einen Boykott Libyens setzten, verbesserten das gaullistische Frankreich, die mediterrane Fraktion Italiens und die kontinentale Fraktion Deutschlands auf besondere Beziehungen zum libyschen Regime.[1] 1974 unterzeichneten Frankreich und Libyen langfristige Öl-Verträge miteinander. Die wirtschaftlichen Beziehungen dieser beiden Länder sind bis heute sehr gut. Trotz der gemeinsamen ökonomischen Interessen kamen sich die beiden Staaten jedoch oft in die Quere – so stützte Gaddafi den zentralafrikanischen “Kaiser” Jean-Bédel Bokassa. Paris startete die “Operation Barracuda” um Bokassa zu aus dem Weg zu räumen. Jacques Foccart, von de Gaulle als oberster Diplomat für Francafrique vorgesehen, nannte das französische Vorhaben eine “koloniale Expedition” – Frankreich versuchte seinen Rückraum gegen den SU-Verbündeten Libyen abzusichern.[2]
Enge Kooperationen pflegt Libyen auch mit der alten Kolonialmacht Italien. Libyen dient dort als Öllieferant und verlängerte Werkbank – auch das bereits seit Jahrzehnten. Die Kooperation ging so weit, dass – als die USA 1986 bei der „Operation El Dorado Canyon“ Libyen bombardieren wollten – der sozialdemokratische Ministerpräsident Bettino Craxi den USA die Überflugrechte verweigerte. Darüber hinaus warnte Rom Tripolis vor der Bombardierung und rettete somit Oberst Gaddafi das Leben.[3]
Imhausen-Chemie, ein Chemiekonzern, der von der BRD aus im Osthandel engagiert war (Verbindungen zu den Otto Wolff Chemieanlagen von Otto Wolff von Amerongen – dem “heimlichen Osthandelsminister” der Bundesrepublik), baute ab 1985 eine Senfgasfabrik in Libyen – seit 1986 mit Wissen des BND.[4] Bereits seit 1958 förderte die BASF-Tochter Wintershall Erdöl in Libyen. BASF gehörte im Kalten Krieg zur Osthandelsfraktion des deutschen Kapitals.
Über die Jahrzehnte versuchte Gaddafi mehrere pan-arabische Vereinigungsprojekte, die allesamt scheiterten. Stattdessen engagierte sich Gaddafi-Libyen politisch, militärisch und ökonomisch zuerst mehr in der Sahara- und Sahel-Region und dann weiter als Pan-Afrikanist. Gaddafis Armee unterstützte die Regime von Idi Amin (Uganda) und Mengistu Haile Mariam (Äthiopien) und führte gegen das frankophone Tschad Krieg (1978–1987).
Neue Weltordnung
Nach dem Kollaps des Ostblocks verlor Libyen unter Gaddafi seine wichtigsten Verbündeten. Bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre hatten die USA ihre Politik gegenüber Libyen verschärft – gegen den Widerstand von Italien (Andreotti) und Frankreich (Mitterand). Nach den nicht eindeutig geklärten Anschlägen von West-Berlin (siehe die Diskothek La Belle) und Lockerbie in Schottland, verhängten die USA wirtschaftliche Kontaktverbote mit Libyen. Das Land war eines der Staaten, “mit denen osteuropäische Staaten außerhalb des RGW auf Barter- oder Dollarbasis noch kurz zuvor intensiven ökonomischen Austausch gepflegt hatten.” [5]
Eingezeichnet sind die Staaten, die Truppen zur Unterstützung Gaddafis geschickt haben (rot) und die Länder aus denen Gaddafi vor allem Söldner rekrutiert (gelb).Vom Westen ignoriert verstärkte Gaddafi seine Beziehungen zu den afrikanischen und den OPEC-Ländern. Russland zog sich unter Jelzins Phase der Schwäche erst aus Afrika zurück, wurden aber schnell wieder ein Verbündeter Libyens. Gaddafis zelebrierter Panafrikanismus kann zuletzt z.B. bei einer Militäroperation auf den Komoren betrachtet werden.[6]
Nach der Aufhebung des US-Boykotts verstärkten sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Libyen wieder mehr. Gaddafis Truppen wurden von der EU für die Flüchtlingsabwehr aufgerüstet und ausgebildet (so u.a. durch GSG9-“Polizisten” und britische SAS). Während für die inländische Bevölkerung größtenteils soziale Gerechtigkeit existiert, werden schwarzafrikanische Flüchtlinge gejagt, gefoltert und in die Wüste abgeschoben.
Libyen ist das Land mit dem höchsten Pro-Kopfeinkommen in Afrika – der Reichtum ist um einiges gleichmäßiger verteilt als in den meisten anderen Ländern der Region.[7] Unter den arabischen Staaten hat Libyen den fünfthöchsten HDI-Wert.[8] Auch laut BASF nimmt Libyen hohe Erdölfördersteuern im Land. Trotzdem bleibt der Vorstandsvorsitzender der BASF SE dabei, dass man mit Libyen Handel betreiben muss – um “den Ottonormalverbraucher nicht im Stich zu lassen”.[9]
Trotz einer Öffnung gegenüber dem Westen pflegte Gaddafi-Libyen gute Beziehungen zu Herausforderern der US-Globaldominanz. So sind die libysch-kubanischen und die libysch-venezolanischen Beziehungen sehr gut – letztere vor allem im Rahmen der OPEC. Libyens engster Partner in Europa abseits der Großmächte ist Weißrussland. Zuletzt kamen Gerüchte auf, dass der weißrussische Präsident Lukaschenko Waffen an die Syrte verschickte.[10] Libyen war der erste Staat, der dem nach Unabhängigkeit strebenden Camara-Regime in Guinea Unterstützung gewährte.[11] Enge Beziehungen gab es darüber hinaus mit Simbabwe und einigen anderen afrikanischen Ländern. Nach den Umstürzen in Tunesien und Ägypten flammten die Reibereien mit der libyschen Zentralmacht mit den Stämmen im Osten wieder auf. Tripolis bat Guinea, Burkina Faso, Angola, den Tschad und die Zentralafrikanischen Republik um Militärhilfe. Alle Länder entsandten Soldaten zur Unterstützung Gaddafis[12] – zuletzt auch Simbabwe.[13] Eigene Fremdenlegionäre und Söldner werden u.a. aus Rebellengruppen oder Veteranen aus afrikanischen Ländern wie dem Sudan, Niger, Mali, Benin und weiteren rekrutiert.
Im eigenen Land hat Gaddafi seinen Rückhalt weitestgehend eingebüßt – mit dem Warfallah-Stamm hat das Regime seinen letzten wichtigen Verbündeten verloren.[14] Im Osten erheben sich die Stämme, die früher die Hauptstützte des Idris-Königreich waren. Als Flagge der meisten Aufständischen wird die alte royalistische Fahne genutzt. “Niemand spricht [dort] von Demokratie” berichtet eine deutsche Reporterin, die bis vor kurzem vor Ort war.[15] Idris al-Senussi, potenzieller Thronfolger des alten Königs, hat bereits angekündigt, in das Land seiner Ahnen zurückzukehren.[16] Eine Übergangsregierung soll sich im Osten des Landes gegründet haben – was aber von angeblichen Mitgliedern bestritten wird.[17] Die Situation bleibt unklar. Dem israelischen Geheimdienst nahestehende Quellen berichten von bereits eingeflogenen britischen, französischen und amerikanischen Militärberatern im Osten des Landes.[18]
Während die Lage weiter unklar bleibt, marschieren die alten Kolonialmächte bereits mit Truppen auf. London, Washington, Paris, Rom und Berlin haben bereits Schiffe in das Gebiet entsandt – Deutschland hat 1100 Soldaten bereit zum Einsatz.[19] Bei Interventionsdrohungen tun sich atlantische Kreise und in den USA die berüchtigten Neokonservativen besonders hervor.[20] EU und USA beraten wohl bereits die Einrichtung von Flugverbotszonen in dem nordafrikanischen Land[21] – Italien hatte bereits die Alarmstufe für seine Luftwaffe erhöht und die USA gruppieren Truppen um Libyen herum.[22] Der deutsche Außenminister scheint sich primär um die Abwehr von Flüchtlingen kümmern zu wollen.[23]
Nichts steht fest in Libyen – vielleicht kann Gaddafi mit Gewalt und Kompromissen die Macht wiedererlangen. Es kann aber auch sein, dass die Opposition die Kontrolle erlangt oder das Land ins Chaos stürzt. Eine westliche Militärintervention ist ebenso nicht ausgeschlossen – in vollem Umfang oder erst einmal “leicht” im Rahmen der Einrichtung von Flugverbotszonen.
Leider lese ich nichts zur Rolle der VR China zu dem Ende des Herausforderers. Die für uns kaum begreifbare Haltung der Chinesen im Libyen-Konflikt kam doch kaum von ungefähr…..