Das Guttenberg-Syndrom

Über Schein und Sein in einer Turbo-Gesellschaft

Von Sebastian Müller

Das, was Karl-Theodor zu Guttenberg – Adelstitelträger, CSU Spitzenpolitiker, Politstar, Überflieger, Verteidigungsminister i. D. und bis vor kurzem Inhaber der Doktorwürde – sich mit seinem Plagiat geleistet hat, ist kein spezifisches Problem des Franken. Das entbindet ihn keineswegs von seiner persönlichen und gesellschaftlichen Verantwortung als Amtsträger. Dennoch ist das Handeln Guttenbergs in seiner Konsequenz ein Symptom unserer von Effizienzwahn getriebenen Hochgeschwindigkeits- und Hochleistungsgesellschaft, innerhalb ein jeder sich selbst so gut wie möglich verkaufen muss – im Sinne einer ständigen Lebenslaufoptimierung und der ökonomisch-gesellschaftlichen Verwertbarkeit.

Die Zwanghafte und dubiose Erhaschung des Doktorgrades durch den amtierenden Verteidigungsminister wird geradezu systemisch provoziert durch den Status, den ein solcher Titel innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie garantiert. Es ist symptomatisch für eine deutsche Titelgläubigkeit, die bereits Heinrich Mann – freilich in einem anderen Kontext – in seinem Roman Der Untertan schilderte.  Allein Guttenbergs Adelstitel sorgt ja bereits allenthalben für Begeisterung, hohe Umfragewerte und neofeudalen Schick. Ein Doktor- oder Professorentitel ist desweiteren die Grundvoraussetzung für Glaubwürdigkeit und Resonanz in der Öffentlichkeit. Dafür geht man auch über Plagiate.

Das alles geht auf Kosten des wissenschaftlichen Ethos, ja auf Kosten der Wissenschaftlichkeit als solches. Wenn Publikations- und Leistungsdruck, als auch das Aufpolieren der persönlichen Vita zum Selbstzweck entartet, dann kann nur noch von oberflächlichen Selbstdarstellungsfetischismus die Rede sein. Wissenschaftlichkeit aber erfordert Zeit und Ruhe zum Hinterfragen, Reflektieren und Analysieren. Wissenschaftliche Ergebnisse und Erkenntnisgewinn lassen sich nicht erzwingen, und schon gar nicht rationalisieren.

Doch der Trend geht in die andere Richtung. Guttenberg, der nach eigenen Angaben auch auf Druck der Familie seine Dissertation fertig stellen wollte, hatte ganz offensichtlich nicht die Zeit dafür. Seit 2002 war Guttenberg Mitglied des deutschen Bundestages, gehörte von 2002 – 2008 dem Vorstand des CSU-Kreisverbands Kulmbach an und war von 2005 bis November 2008 Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Auswärtigen Ausschuss und Sprecher der CDU/CSU-Fraktion für Abrüstung, Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle. Dazu kamen noch diverse andere Posten und Ämter.

Doch kann von wissenschaftlichen Arbeiten überhaupt noch die Rede sein, wenn sie zur Nebentätigkeit verkommt oder gar von Ghostwritern erledigt wird? Es ist zu einer Erwartungshaltung in unserer westlichen Gesellschaft geworden, möglichst viele Aufgaben, Prüfungen, Praktikas, berufliche Erfahrungen in einem möglichst kurzen, und effizient genutzten Zeitraum abzudecken – und das am besten noch möglichst exzellent. Sinnbildlich für diese Entwicklung steht die Bologna-Reform, sprich die Bachelor- und Masterisierung des Studiums und das Turboabitur “G8”, die Verkürzung der Schulzeit bei gleichem zu bewältigenden Stoff. Die Schüler und Studenten sollen möglichst frühzeitig fit für den Arbeitsmarkt gemacht, bzw. auf diesen geworfen werden. Zeit für Hobbys, Sport und ehrenamtliche Tätigkeiten – auch wichtige Komponenten für die persönliche Entwicklung – bleibt da immer weniger. Das führt bisweilen soweit, das Schüler in der Oberstufe freiwillig eine Klasse wiederholen, um den Stoff überhaupt bewältigen zu können.

Die Ökonomisierung des persönlichen Werdegangs findet immer öfter auch bereits in der frühkindlichen Erziehung anklang. Junge Eltern eines von Abstiegsängsten geplagten Mittelstandes legen bereits Kleinkindern einen Fulltime-Job auf, damit ihre Zögline schon möglichst früh die nötigen Kompetenzen erwerben, um als Humankapital auf dem Arbeitsmarkt unserer Turbo-Gesellschaft konkurrenzfähig zu bleiben. Mit dem humboldschen Bildungsideal kann all dies jedenfalls nicht mehr viel zu tun haben. Tatsächlich wird im Extremfall bereits im Kindesalter ein Leistungsdruck erzeugt, der über alle Institutionen des schulischen und beruflichen Werdegangs hinweg im Falle einer Überforderung dazu nötigt, auf unlautere Methoden zurückzugreifen.

Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass der Hang zu immer mehr Geschwindigkeit und Effizienz – ergo der ökonomischen Ausschlachtung und Rationalisierung von Zeit, Freizeit und Erholung – mehr Probleme verursacht, als er zu lösen im Stande ist. Welcher finale Sinn steht dahinter? Bleibt uns überhaupt noch die Zeit, diese grundlegende Frage zu stellen? Wie der Fall Guttenberg verdeutlicht, verleitet dieses System nicht nur zum schlampigen Arbeiten und Betrug, sondern auch zu oberflächlichen Betrachtungsweisen in jederlei Hinsicht.

Die Frage, die wir uns aber stellen sollten, ist, ob uns die bedenkenlose Ausreizung des Leistungsgedankens nicht auch an Grenzen, wie die Erschöpfung des sozialen Lebens führt? Die Menschen sind selbst in ihrer Privatsphäre nicht mehr vom Profitdruck abgeschirmt. Sogar in den Ferien, beim Fernsehen oder Zeitunglesen bleiben sie bewußt oder unbewußt immer ein Teil eines immer weiter ausufernden Verwertungszyklus. Doch auf Dauer wird das die Persönlichkeit und den Lebenszusammenhang der Menschen zerstören. Und die Erschöpfung der Gesellschaft wird auch irgendwann eine Erschöpfung der Demokratie – die von Engagement und Aufklärung zehrt – zur Folge haben.

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7 Kommentare zu "Das Guttenberg-Syndrom"

  1. Danke für den höchst interessanten Hinweis!

  2. EuroTanic sagt:

    Das ist das eigentliche Ergebnis dieser Betrügerei. Ein Politiker der betrügt und lügt ist für ein politisches Amt nicht geeignet.
    Bürger die einen Betrüger und Lügner als Minister unterstützen sind einer Demokratie unwürdig.

  3. Dr. Gustav Bergmann sagt:

    Danke für den erhellenden Beitrag.
    Guttenberg ist eine Lichtgestalt, eben ohne Substanz und blendend.
    Ein Lügenbaron 2.0

  4. Michi sagt:

    Die Aufregung um zu Guttenbergs Doktorarbeit ist auch ein Beispiel für die Entpolitisierung der politischen Debatte.
    Es gibt viele gute politische Gründe um zu Guttenberg zu kritisieren, allen voran Afghanistan.
    Aber da bei dem Thema bei 5 von 6 Parteien im Grunde Einigkeit herrscht, möchte man keine Debatte darüber vom Zaun brechen. Deshalb konzentriert sich die Opposition lieber auf persönliche Fehler. “Moralische Probleme sind so viel interessanter als wirkliche Probleme.” (Elaine May)

  5. MonoLoge sagt:

    Das mit diesen “Notwendigkeiten” mag stimmen, auch dass einer mitgerissen wird. Hier kommt zum “Turbo” aber noch etwas anderes hinzu: liest man Guttenbergs “Arbeit” kann man auch Abschnitte lesen, die wahrscheinlich von ihm selbst geschrieben sind, und da kriegt man nur noch das Lachen. Phrasendrusch reinster Art, umständlichste Formulierungen, denen deutlicher EIndruckschinderei, als die Absicht, etwas auszusagen, anzumerken ist. Der Guttenberg musste abschreiben, damit wenigstens etwas Rationales in die Arbeit kommt! Der Typus narzisstisches Windei ist gar nicht imstande, etwas Solides zu erarbeiten, dazu fehlt ihm weniger die Zeit als vielmehr jede Anlage. Aber zu dem, was der intelligente Mr. zu Guttenberg in Vollendung repräsentiert, muss man auch geboren sein, dazu muss alles passen inkl. dass sich Gleich und Gleich gern gesellen, die Nullen sich vor, neben, hinter die Nullen stellen. Was wir hier erleben ist die reinste geistige und sittliche Not, in der die Generation Guttenberg keine Tugenden mehr machen müsste, wollte sie nicht mit den alten Tugenden glänzen.

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