RAF 2.0?

Die internationale Manifestierung des “kommenden Aufstandes”

Von Sebastian Müller

Der Pleitegeier geht um, und das Rad der Zerstörung zivilgesellschaftlicher Errungenschaften dreht sich immer schneller. Es mag einem ob des atemberaubenden Tempos fast schwindelig werden, so unmittelbar sind die ständig neuen Nachrichten über den wahnwitzigen europäischen Kürzungswettlauf.

Der französische Präsident Nicolas Sarkozy plant eine Anpassung des französischen Steuersystems mit dem Deutschlands – sprich die “Harmonisierung” (also Senkung der Unternehmenssteuern) und die Abschaffung der Vermögensteuer.[1] Irland, bis zum bekanntwerden des englischen Radikalsparplans Weltmeister im Sparen, hat sich nun – den Geldhäusern sei Dank – pleite gespart. Das europäische Rettungspaket wollte das Land bis jüngst dennoch nicht in Anspruch nehmen, denn es befürchtete nicht zuletzt eine von der EU geforderte Anpassung der unterirdisch niedrigen irischen Unternehmensteuern von 12,5 Prozent auf den europäischen Durchschnitt von etwa 25 Prozent – das könnte ja die Staatseinnahmen erhöhen. Die nächsten Staaten, die sich dem von den Ratingagenturen herbei prognostizierten Kollaps nähern, sind weitere eifrige Schüler der Ökonomie des Economizing: Spanien und Portugal.

Während wir Zeuge eines historisch beispiellosen Enteignungsprozesses werden, scheint die EU nur noch am Erhalt der Währungsunion, dem goldenen Kalb der Technokraten, interessiert zu sein. Subventioniert werden im Zuge der neoliberalen Lehre – deren Rezepte desto mehr um sich greifen, je eindeutiger sie versagen – lediglich die ohnehin privilegierten Schichten und Institutionen, also die funktionale Elite des europäischen Systems. Doch da die geplanten, und von den Ratingagenturen geforderten Spar- und Kürzungsorgien nicht zum erhofften Ergebnis führen, wird die Schraube im dogmatischen Irrsinn bald weiter angezogen werden. Mit jedem neuen Haushaltsplan der Mitgliedsländer wartet eine weitere “Überraschung” für die Bürger. Solange wird sich die Spirale des Kahlschlags ziehen, bis von den sozialen und öffentlichen Institutionen alles abgerissen ist, nichts mehr bleibt, oder – der angestaute Zorn der Menschen explodiert.

Selbst der Chef des IWF, Dominique Strauss-Kahn, wagt nun auszusprechen, was von dem Großteil der politischen Elite doch lieber geflissentlich verschwiegen wird: Europa müsse sich darauf gefasst machen, dass eine ganze Generation an den Rand der Gesellschaft gedrückt werde. Strauss-Kahn spricht hier vornehmlich von den bildungsfernen Schichten, der sogenannten Unterschicht. Doch auch immer mehr ältere und junge Menschen aus der Mitte der Gesellschaft haben zunehmend schlechtere Karten auf dem Arbeitsmarkt. Die Weisheit, das Bildung vor Arbeitslosigkeit oder Armut schützt, relativiert sich fortlaufend. Studien diagnostizieren nicht nur das Schrumpfen der Mittelschichten, sondern auch das Phänomen der prekarisierten Akademiker.

Die Wut der zunehmenden Verzweiflung, der Klassenkampf von oben (der Begriff kommt zu neuen Ehren), treibt die Menschen in Griechenland, Spanien, Frankreich, Deutschland und nun auch England ohnehin schon auf die Strasse. Dabei kristallisieren sich zusammengefasst zwei elementare Ursachen heraus, die für die zunehmende Protestbereitschaft verantwortlich sind: Erstens die bereits angeschnittene, abnehmende Bereitschaft des Staates für die soziale Sicherheit und Lebensqualität seiner Bürger einzustehen, also den Gesellschaftsvertrag aufrechtzuerhalten. Zweitens die parallel dazu stattfindende und damit zusammenhängende Abkopplung der politischen Entscheidungsprozesse von den Wünschen und Interessen des eigentlichen Souveräns, dem Volk.

Je länger und eindeutiger aber die europäischen Regierungen die Stimmen der Bevölkerung ignorieren werden, je offensichtlicher sich das offenbar korrupte System der liberal-repräsentativen Demokratie selbst diskreditiert, desto heftiger werden die Proteste werden – zumindest vorerst. Die europäischen Staaten bauen ihre Überwachungssysteme wohlwissend aus, die Frage nach dem Einsatz der Bundeswehr im Innern wird nicht erst seit der ernsten Belastungsprobe für die Polizeikräfte in Gorleben diskutiert. Doch noch ist die Gefahr des islamischen Terrorismus die offizielle Begründung für den stetigen Ausbau des Überwachungsstaates.

Denn dass die Bereitschaft eines auch zu Mitteln der Gewalt greifenden Ungehorsams größer werden wird, ja jetzt schon allenthalb zu spüren ist, lässt sich seit 3 Jahren in wahrsten Sinne des Wortes schwarz auf weiß – und seit kurzem auch in der deutschen Sprache – verfolgen. Ein anonymer Autorenkreis, der sich “Unsichtbares Komitee” nennt, hat ein selbst von den bürgerlichen Feuilletons breit beachtetes Manifest, eine radikale und kompromisslose Streitschrift verfasst. Erschienen ist Der kommende Aufstand zuerst – wohlgemerkt noch vor der Finanzkrise – 2007 in Frankreich (L‘insurrection qui vient). Bereits ein Jahr später wurde die Schrift ins englische übersetzt, seit August 2010 liegt nun die deutsche Fassung vor. Seitdem mutiert das Buch zu einem heimlichen Bestseller, dem sogar die zweifelhafte Ehre zu Teil wurde, Gegenstand eines Monologes des rechtskonservativen Fernsehpredigers Glenn Beck auf Fox News zu werden.

Die französische Regierung betrachtete Titel und Inhalt des Werkes indes für einen derart ernstzunehmenden Aufruf für den Terrorismus, dass sie in dem französischen Dorf Tarnac mutmaßliche Verfasser festnahm. Nach Sabotage an einer Eisenbahnstrecke, auf der im November 2008 ein Castortransport mit radioaktivem Material geplant war, wurde es von der französischen Regierung als einziges Beweisstück eines mittlerweile international bekannten »Terrorismusfalls« gehandelt, als ein »Handbuch des Terrorismus« also, und als Vorwand für die skandalöse, zum Teil monatelange Inhaftierung von neun Menschen benutzt. Unter den Inhaftierten befand sich auch Julien Coupat, der zu dem philosophischen Autorenkollektiv Tiqqun gehört. Tiqqun und dem Unsichtbaren Komitee werden Verbindungen, ja Teils eine gemeinsame Identität nachgesagt.

Tatsächlich ist Der kommende Aufstand erst einmal “…eine pointierte, situationistisch geprägte Analyse der Reaktionen von Regierungen auf die verschiedenen Unruhen und Volksaufstände in den letzten Jahren. Die brennenden Vorstädte in Frankreich, die Straßengewalt in Griechenland usw. werden von den Regierungen als Gefahr gesehen, die polizeilich und militärisch gebändigt werden müsse, wobei das »Krisenmanagement« die Gesellschaft auch zusammenhalten soll. Für die Autoren dieses Manifests hingegen sind die Revolten revolutionäre Momente, Symptome des Zusammenbruchs der westlichen Demokratien, die sich gegenseitig verstärken und sich ausbreiten.” (Syndikat-A)

Man muss nicht alle Thesen dieses Werkes teilen. Ob man tatsächlich so weit gehen möchte wie die Autoren, die letztendlich von einer Stunde null ausgehen – in der der Staat und das Parlament tot sind – sei einmal dahingestellt. Dennoch ist das Werk als ein wichtiges Zeitdokument zu werten, das die Berechtigung des gefühlten historischen Moments besitzt.  Die Autoren haben etwas formuliert, was in der Konsequenz der Gegenwartsanalysen in den letzten 20 Jahren des “entideologisierten”, rationalisierten Zeitalter so oft gefehlt hat: den Mut zu einer radikalen Utopie. Nicht umsonst wird die Schrift in französischen und englischen Universitäten bereits diskutiert.

Dass es sich bei dem kommenden Aufstand um ein utopisches Manifest handelt, wird aber vor allem dann deutlich, wenn man die bisherige Wirkung und Schlagkraft der internationalen Protestbewegung relativiert, die doch letztendlich die Grundlegende, theoriebildende Basis des Werkes ist. So bezweifelt der Politikwissenschaftler Peter Grottian, dass man von einem Aufstand der Bürger, geschweige denn von vorrevolutionären Zuständen sprechen könnte. Zu recht weist Grottian darauf hin, dass vor allem in Deutschland ein massiver Protest zu den wesentlichen und zentralen politischen Fragen überhaupt nicht stattfindet: bei der Frage Bankenmacht, bei der Frage der Folgen der Finanzmarktkrise, bei der Frage des Sozialen, der Arbeitslosigkeit und Armut, sowie der Gesundheitspolitik – überall dort ist ein scharfer Protest überhaupt nicht zu sehen.

Brisant würde es also erst dann, wenn der kommende Aufstand sozusagen zur self-fulfilling prophecy werden, für eine Mobilisierung, Anleitung und damit einer Manifestierung eines großen, international vernetzten Aufbegehrens sorgen würde. Doch das bleibt vorerst im Raum der Spekulation. Realistischer erscheint es da, dass das Werk als intellektuelle Grundlage von sich verselbständigten und radikalisierten kleinen Gruppen dient. Parallel zur Rückkehr des Bürgertums zur Apathie, zum Ende der am langen Arm des Staates verhungerten, bürgerlichen Protestbewegung, erscheint das Szenario einer Renaissance des politischen, westeuropäischen Terrorismus nicht einmal so unrealistisch. Dieser Meinung scheint auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) zu sein, so verurteilte er jüngst zivilen Ungehorsam in Form von Straftaten als die Vorstufe zu einer “neuen RAF”.

Wäre es abwegig, sich – fernab von jeglicher Moralisierung – die Frage zu stellen, ob die RAF in gewisser Weise nicht ihrer Zeit voraus war?

[1] Generell wäre eine europäische Harmonisierung der Steuersysteme sogar zu begrüßen, jedoch nicht zum Preis weiterer Senkungen für ohnehin privilegierte Unternehmen, sondern gerade um dem wichtigsten Druckmittel der Konzerne – ihrer Transnationalität – entgegenzuwirken und das progressive Steuersystem weiter auszubauen. Ein harmonisches, gesamteuropäisches Steuermodell wäre als Riegel gegen das Steuerdumping im internationalen Wettbewerb zu verstehen.

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5 Kommentare zu "RAF 2.0?"

  1. Ole sagt:

    Da wundert es nicht, dass wir nach Terrorwarnungen mehr Polizei und militärische Bewaffnung der Polizei brauchen…

  2. diego armando sagt:

    http://de.wikipedia.org/wiki/Argentinien-Krise

    argentinien als bsp., was uns in europa blühen wird… prekarisierung der mittelschicht, soziale unruhen, armut…

    g&g ist das motto der zukunft: gold & glock

  3. klamueserich sagt:

    Dass nur noch Drogen oder Terrorismus einen Ausweg aus dem trostlosen Leben zu sein scheinen zeigt Rainer Werner Fassbinder im Film die Dritte Generation von 1974.
    Die Freiheit manifestiert sich dort nur noch an den Wänden der öffentlichen Toiletten.

    tweet tweet, ich bin so Frei! Ich darf auf dem Spielplatz eines Unternehmens ein paar Datenspuren hinterlassen!

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