Klinsmann versus Menotti
Die Ökonomie und das schöne Spiel

Klinsmann und Menotti unterstreichen mit ihren Philosophien die politische Relevanz und Symbolik des Weltfußballs. Das Milliardengeschäft symbolisiert unsere globalisierte Welt im Mikrokosmos.

César Luis Menotti

Foto: Rob Bogaerts / Nationaal Archief Fotocollectie Anefo / CC BY-SA 3.0 nl via Wikimedia Commons

Von Sebastian Müller

Seitdem der Fußball im Laufe des frühen 20. Jahrhundert zu einem Massenphänomen aufgestiegen ist, rückte er ebenso ins Zentrum der großen Politik. Von ihr ist der Fußball seitdem immer wieder instrumentalisiert worden. Die Liste der internationalen Fußballspiele, die zu einem Politikum avancierten, ist lang. Fußball kann, zumindest auf der internationalen Bühne, folglich mehr als ein einfaches Spiel sein – und ist, um es in den Worten seiner größten Liebhaber zu formulieren, auch das “Spiel des Lebens”.

Das lässt Raum für folgende Interpretation: Fußball ist ein Sport des Kollektivs und zugleich des Individuums, ein Geschehen, ein Widerstreit von Systemen. Fußball kann die Gesellschaft im Mikrokosmos wiederspiegeln, denn genauso wie für die Gesellschaft ist die optimale Austangierung und Abstimmung auch für den Erfolg der Mannschaft abhängig.

Das ist zwar in anderen Mannschaftssportarten genauso, doch kaum eine Sportart kann diese Faszination, dieses besondere Etwas entwickeln, was dem Fußball innewohnt, über den Philosophen resümieren. Denn der Fußball hat eine Dimension, die den anderen Sportarten fehlt: Das Mittelfeld. Die Tiefe des Raumes verleiht dem Fussball sein episches Element. Es ist diese spezielle Mischung von Gewühl und Befreiung, die es nur auf großen Spielfeldern gibt. In keinem anderen Mannschaftssport gibt es eine solche Vielfalt an Spielsituationen.

Damit ist Fußball dem Leben näher als Basketball oder Handball, wo das Spiel aus der sturen Konfrontation von Angriff und Abwehr besteht.

Beim Fußball gibt es ein Mittelfeldspiel, und das Mittelfeld ist der Ort des Lebens. Aus dem Mittelfeld heraus entwickeln sich Sieg oder Niederlage, Triumph oder Depression, im Mittelfeld droht das Leben zu versacken, im Mittelfeld verbringt man wartend seine Zeit, gleichsam mit müßigen Ballgeschiebe, bis sich vielleicht doch eine Chance ergibt. Aber Tore sind selten, im Leben wie im Fußball“. – Dirk Kurbjuweit

Und wie jede Gesellschaft hat auch der Fußball seine Denker und Lenker, seine Apologeten und Taktiker, seine Persönlichkeiten. Zwei dieser Persönlichkeiten sind Jürgen Klinsmann und César Luis Menotti. Beide stehen für eine eigene Philosophie, ja Interpretation des Spiels – Klinsmann möglicherweise zum Teil unbewusst, Menotti durchaus bewusst. Doch Beide sind im gramscischen Sinne “organische Intellektuelle”.

Antonio Gramsci, von dem der Begriff stammt, bestimmt diesen vor allem in Abgrenzung zum “traditionellen” Intellektuellen. Dabei ist es zum einen nicht die geistige Tätigkeit an sich, die einen zum Intellektuellen macht, sondern allein die Funktion, die jemand innehat. Organische Intellektuelle sind demnach alle, die in einer Gesellschaft auf den verschiedensten Ebenen für die konsensbildenden, hegemonialen Prozesse “zuständig” sind.

Auch wenn Gramsci weniger an Fußballtrainer gedacht hat als an Beamte, Lehrer oder Funktionäre von Parteien und Gewerkschaften, lässt sich mit ein bisschen Phantasie von Klinsmann als einem »Intellektuellen« sprechen. Oder will jemand ernsthaft die enorme integrative Kraft des Fußballs leugnen?” – Internetportal reflect!

Zum anderen artikuliert der organische Intellektuelle im Gegensatz zum traditionellen immer die Weltauffassung einer dominanten oder aufstrebenden Gruppe oder Klasse – mit anderen Worten, einen herrschenden Zeitgeist. Bezogen auf die Welt des Fußballs im Allgemeinen und Klinsmanns Fall im Besonderen sind das die Vertreter des “Sportmanagements”, zu deren prominentesten Köpfen seine beiden Lehrmeister Warren Mersereau und Mick Hoban gehören.

Weiter ist es an dieser Stelle sinnvoll, sich für eine ganze Textpassage auf reflect! zu beziehen, das diese Interessante Herleitung geschaffen hat und Klinsmann ein neoliberales Weltbild attestierte:

Hier hilft ein Blick in ein Gespräch Klinsmanns mit dem Magazin der »Süddeutschen Zeitung« vom Juni 2005, eines der erhellendsten Dokumente in diesem Kontext. Da ist zunächst – natürlich – die allgegenwärtige Marketingrhetorik, die ein offensives Spiel aus der Notwendigkeit begründet, sich am “Kunden Fan“ zu orientieren und die schließlich in folgendem Zitat gipfelt: “Ein Sieg im nächsten Jahr (a.d.R.: bei der WM 2006) böte die Chance zu zeigen, wer wir sind. Wir haben die Möglichkeit, Deutschland neu zu definieren: eine Marke, einen ›Brand‹ zu schaffen.“ Dies ist also Klinsmanns Anspruch, sein Mittel ist die kontinuierliche Umwälzung der Verhältnisse: „Wir müssen alte Rituale und Gewohnheiten hinterfragen. Und zwar andauernd – nicht nur im Fußball. Das ist doch nichts Schlimmes. Reform ist kein Prozess, der in Episoden stattfindet. Das Reformieren muss zu einem permanenten Zustand werden – nicht nur vor der Weltmeisterschaft, auch danach.“

Klinsmann hat dem deutschen Fußball eine „Agenda 2006“ verordnet; und die entsprechende Subjektform hat er auch gleich parat: “Bisher machen die Athleten meist nur, was ihnen vorgegeben wird. Wir geben ihnen Hilfe zu Selbsthilfe. […] Es gibt kein Recht auf Faulheit, sondern eine Pflicht zur Leistungssteigerung. Wir wollen den mündigen Spieler.“ Freilich bleibt dieses Programm nicht auf die semantische Ebene beschränkt; es schlägt sich vielmehr in ganz konkrete »Techniken der Führung« nieder, die man schon aus anderen Zusammenhängen kennt. So wurden für die als autonome Subjekte »angerufenen« Spieler individuell zugeschnittene Trainingspläne erstellt, mit denen diese in Eigenregie die letzten verborgenen Leistungsreserven aus sich herauskitzeln sollen – eine Art zeitgenössisches Selbst­optimierungsprogramm also. Und Klinsmanns bewusstes Offenhalten der Torwartfrage, mit der er die beiden Anwärter Kahn und Lehmann in einen harten Konkurrenzkampf trieb, erinnert an die Methoden, mit denen Unternehmen durch Vermarktlichungsmechanismen den Wettbewerb nach innen tragen.

Mit dem Bundestrainer Klinsmann hat der neoliberale Managementdiskurs Einzug in das Terrain des Fußballs gefunden; er trägt dazu bei, auch unter FußballanhängerInnen ein Gedankengut zu popularisieren, das sich an den einschlägigen Werten von Kundenorientierung, Effizienz und Eigenverantwortung ausrichtet. Nimmt man, etwas polemisch, noch einige eher äußerlichen Punkte hinzu, seine Vorliebe für Powerpoint-Präsentationen oder seine Affinität zu den USA und dem „American Way of Life“ generell, treten deutlich die Konturen eines Angehörigen einer neuen transnationalen (Sport)-Managerklasse hervor, eines »organischen Intellektuellen« des Neoliberalismus eben.

Die zitierte Suada Klinsmanns erinnert stark an die Rhetorik, die in der Politik zu hören war, wenn es darum ging, Deutschland “Wettbewersfähig” zu machen – also Argumente zu finden, um den Sozialstaat in Frage zu stellen. Es werden Parallelen zu den gesellschaftspolitischen Ökonomisierungstendenzen nicht nur in Deutschland, sondern der globalisierten Welt deutlich.

Zu der These also, in Klinsmann einen Apologeten des Neoliberalismus zu sehen, passt, dass Klinsmanns damaliger Kollege im Stab der Nationalmannschaft, der Manager und Betriebswirt Oliver Bierhoff Botschafter der schon häufig erwähnten INSM (Intitiative Neue Soziale Martwirtschaft) ist – eines neoliberalen Think-Tanks. Beide, Bierhoff und Klinsmann stehen rhetorisch als auch wissenschaftlich, für eine klinisch genaue Professionalisierung und Optimierung aller Aspekte des Fußballs, in Zuge derer sich jeder Spieler bis ins Detail in das Kollektiv einzufügen, also anzupassen hat. Das trägt Züge des Totalitären in sich.

Menotti, der Gesellschaftstheoretiker und politische Philosoph hat den Fussball anders begriffen. Er trat für ein freies, phantasievolles Spiel und gegen den ergebnisorientierten Fußball der „Söldner des Punktgewinns“ ein. War also auch er, genauso wie Klinsmann ein Verfechter des Offensivfußballs, hätte er doch die kalte Effizienz und Rationalität Klinsmanns abgelehnt. Das Totalitäre hat er als Merkmale des “rechten Fußballs” ausgemacht, für den Existenzkampf am Ball – den “linken” hingegen als ein Fest der Fantasie. Er beschimpfte die “Bastarde der modernen Kultur”, die “Fußball als reine Ware betrachten” und “den Menschen die Träume und Visionen nehmen”. Damit bekämpfte er die Diktatur der Ökonomie. Wenn Klinsmann der Neoliberale ist, war Menotti der Bohémien, der Sozialromantiker des Fußballs. Für ihn war dieses Spiel vor allem ein Spiel für das Volk, für die Armen.

Für wahr, wer von Politikern nicht mehr ansprechbar ist, ist es vielleicht von Fußballstars. Nur dieses Spiel dringt vor bis in die hintersten Winkel der Gesellschaft.

Von El Flaco, den Dürren, wie er genannt wird, kommt auch dieser Satz: “Eine Mannschaft ohne Abenteurer ist wie ein Land ohne Poesie.” Die Abenteurer können in einer Mannschaft, aber auch in der Politik fehlen. Und sie fehlen heutzutage, in unserer starren, kalten Epoche, die durch Parolen wie “There is no Alternative” – also gedanklichen Stillstand – geprägt ist, durchaus. Die Politik scheint genauso wie die FIFA von skrupellosen, korrupten Funktionären und Managern geleitet zu werden, wie sie Menotti immer verabscheute.

Eine WM ist auch immer ein Fest der Globalisierung, einer besseren, wie wir sie sonst erleben. Die Welt trifft sich zum herrschaftsfreien Diskurs. Fußball ist ein Beispiel für eine gerechte Weltordnung“. Dirk Kurbjuweit

Dieses Zitat stimmt nur bedingt. Denn die übermächtige Fifa, die von den europäischen Nationen dominiert wird, steht nicht nur für einen Eurozentrismus, sondern auch für eine unsägliche Kommerzialisierung, Vereinheitlichung und Privatisierung des Weltfußballs. Hierfür ist vor allem der Fifa-Generalsekretär Sepp Blatter verantwortlich. Er versucht die ökonomischen Paradigmen, die die Globalisierung dominieren, auch in der Globalisierung des Fußballs durchzusetzen. Ginge es allein nach ihm, wäre der traditionsreiche Volkssport schon längst zur von Werbepausen zerstückelten, seichten Eventberieselung für Gutbetuchte verkommen. Blatter steht für die Kräfte, die den Sport in ein Korsett der Kommerzialisierung und Privatisierung zwängen möchten, für eine feudale Ordnung, an dessen pyramidenartigen Spitze eine Allianz von wirtschaftsmächtigen Superclubs steht, die von superreichen Investoren kontrolliert werden.

Die Konsequenzen einer solchen Philosophie werden nicht zuletzt bei einer WM in einem armen Land wie Südafrika sichtbar werden dürfen. Während die Fifa die Werbetrommel rührt und Südafrika die massiven sozialen Probleme durch “Potemkinsche Dörfer” eines fröhlichen und bunten Gastgebers zu kaschieren versucht, werden sich möglicherweise die Stadien nicht füllen. Denn ein Großteil der Karten gehen an Unternehmen, die ihr Kontingent aber nicht ausschöpfen. Der andere Teil der Karten wird für viele Afrikaner nicht erschwinglich sein.

Die soziale Selektion erreicht somit den Fußball, dessen moderne Stadien diese Entwicklung befördern: der Verlust der Stehplätze, teure Sitzplätze und noch teurere VIP-Logen, in denen die Reichen das exquisite 4-Sterne Menu genießen können. Das Stadion wird zum multifunktionalen, kommerziellen Freizeitpark, die Innenarchitektur spiegelt zum Teil den Zeitgeist unserer Gesellschaft wieder. Der Fan wird wie im klinsmannschen Verständnis lediglich als Kunde gesehen.

Trotz alledem scheint der Fussball seine Seele behalten zu haben.

Diese Macht des Fußballs überrascht, denn das Spiel ist nur noch ein Überlebender, ist durch tausend Feuer gegangen, wurde missbraucht und versehrt – und überstrahlt dennoch jeden anderen Sport. Der Fußball hat die gnadenlose Kommerzialisierung überlebt, die Explosion der Ablösesummen und Gehälter, die Dominanz der Sponsoren, die sich in den Stadien immer breiter machen“. – Dirk Kurbjuweit

Vielleicht mag das daran liegen, dass dieses Spiel auch durch Kräfte und Gedanken geprägt wurde, ihm innewohnen, wie sie César Luis Menotti repräsentiert. Es ist der Widerstreit zwischen “rechten” und “linken Fussball”, zwei Philosophien der Ordnung, die die Fans erahnen. Menotti selbst, der diese Begriffe erfunden hat, hat den Bogen vom Spiel zur realen Politik gespannt, als er 1978 nach dem argentinischen WM-Triumph dem Militärdiktator Jorge Rafael Videla den Handschlag verweigerte und in doppeldeutigen, pathetischen Worten sagte: „Meine Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt.

Insofern mag auch die globale Ordnung des Fußballs als Parabel für eine globale Welt stehen, in der es sich trotz der Hegemonie des Neoliberalismus noch zu hoffen lohnt. Wahrlich, solange es Akteuren, im spezifischen Fall Abenteurern wie Baggio, Zidane oder Messi immer wieder gelang und gelingt, mit einen Geniestreich die Reihen des starren Systems, des Kollektivs zu durchbrechen, für den Bruchteil eines Augenblicks die herrschende Ordnung des Spiels aus den Angeln zu heben, sich aus der Umklammerung zu befreien und für eine kurze, fußballerische Revolution auf dem Feld zu sorgen, solange bleibt auch noch Platz für Träume und Visionen.

Artikelbild: Rob Bogaerts / Nationaal Archief Fotocollectie Anefo / CC BY-SA 3.0 nl via Wikimedia Commons

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2 Kommentare zu "Klinsmann versus Menotti
Die Ökonomie und das schöne Spiel"

  1. nachrichten sagt:

    Wirklch sehr informativ! Werde aufjedenfall wieder kommen. Danke fuer den Beitrag.

    Gruss
    Andres

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