Staatsphobie und Manipulation

Das Thema Gesundheitsreform lässt in den USA die alten Ressentiments und Urängste wieder aufleben; Weil die Lobbyisten und Demagogen des neokonservativen Lagers sie bewusst schüren.

Von Sebastian Müller

Der heftige Widerstand der Amerikaner gegen die von Barack Obama geplante Gesundheitsreform ist aus europäischer Sicht nicht nachzuvollziehen. Die Meinungsmache ihrer Gegner und die Angst vor jeglichen Eingriffen des Staates nimmt Dimensionen an, die auf der anderen Seite des Atlantiks (noch) nicht vorstellbar sind.
Die geballte Macht der privaten Versicherungskonzerne und der Republikaner schafft etwas, was auf dem ersten Blick unmöglich, ja absurd erscheint: Sie bringen die Bevölkerung dazu – insbesondere die priveligierteren Schichten – gegen eine staatliche Krankenversicherung auf die Strasse zu gehen, von der die meisten Amerikaner nur profitieren würden.

Dabei existiert diese Krankenversicherung noch gar nicht. Allein das ist im Grunde eine unerhörte Tatsache für eine reiche Industrienation; und ein Hiweis darauf, wie verkümmert die soziale Daseinsfürsorge in den Staaten ist. Was Obama nun möchte, ist die Einführung einer staatlichen – parallel zu den Privaten existierende – Krankenversicherung, die Millionen von prekarisierten, unversicherten Amerikanern endlich Versicherungsschutz bieten soll. Ein Unterfangen, an dem schon mehre Präsidenten vor ihm gescheitert sind. Und zwar aus einem Grund, der die Ohnmacht der Politik und den unsäglichen Einfuss der Lobbyisten verdeutlicht: Die großen privaten Versicherungskonzerne scheuen die geplante staatliche Konkurrenz, da sie befürchten, die Preise für ihre Versicherungsleistungen durch den Konkurrenzdruck senken zu müssen.

Als Konsequenz ist die amerikanische Versicherungslobby Sturm gelaufen. Neben zahllosen Medienkampagnen, Desinformationen und Diffamierungen, – Teils mit den Mitteln übelster Ressentiments -, investieren die Konzerne beträchtliche Summen in die Schmierung von konservativen Kongressabgeordneten. Neben der legalen Bestechung von Abgeordneten, – was de facto nichts anderes als die Konterkarierung eines demokratischen Willensbildungsprozesses ist -, werden die amerikanischen Urängste in der Bevölkerung wiedererweckt. Eine Allianz aus Neocons, Lobbyisten, Republikanern und rechten Medienmogulen entdecken altbackene Kampfbegriffe, um die Angst vor der “Renaissance des Sozialismus” im eigenen Mutterland zu schüren. Und sogar vor Hitler-Vergleichen wird nicht Halt gemacht. Um Obama weiter zu diskreditieren, werden ihm gar Euthanasiepläne unterstellt.

Es sind die Auswüchse einer zutiefst staatsfeindlichen, vom Kalten Krieg geprägten und traumatisierten Gesellschaft. Das zutiefst Irrationale, die Angst vor einem unsichtbaren Totalitarismus wird von den fundamentalistischen und neokonservativen Eliten instrumentalisiert, um eine schlichte, wenn auch umgreifende Sozialreform zu dämonisieren.

Dies gelingt mit einem derartigen Erfolg, dass man schon gar nicht mehr zu erkennen im Stande ist, wer hier wen manipuliert. Freilich ist die irrationale Urangst vor dem Staat, und erst recht vor einem ausgebauten Sozialstaat, ganz im Sinne der neoliberalen Apologeten und ihrer amerikanischen Außenstelle, der Chicago-Boys. Denn der Sozialstaat muss – gemäß ihrer Ideologie – wie auch jeder sonstige staatliche Interventionismus, in den Totalitarismus und die (wirtschaftliche) Unfreiheit führen.

Die plumpen Manipulationen der staatsfeindlichen Demagogen werden derart oft wiederholt und aufgesogen, dass ein rationaler Diskurs kaum mehr möglich ist. Genausogut könnte Obama die fundamentalen Evangelikalen davon zu überzeugen versuchen, dass der Teufel nicht existiert. Es ist fraglich, ob Obama die Kraft haben wird, seine Pläne auch nur annähernd in seiner ursprünglichen Form durchzusetzen.

Bemerkenswert aber ist, dass er diesen Schritt zu einem Zeitpunkt wagt, in dem sich die staatlichen Krankenversicherungssysteme in Europa – durch Privatisierung oder Kürzungen – auf dem Rückzug befinden. Das Problem ist zudem, dass genau jene Amerikaner, die von einer staatlichen Krankenversicherung profitieren würden, eben weder Lobby noch Chance haben, ihre Position medial und öffentlichkeitswirksam Publik zu machen. Sie sind ganz auf Obama angewiesen. Doch am Ende könnte aus Obamas ursprünglichen Projekt ein Reförmchen entstanden sein, das mehr Konzessionen als wirkliche Änderungen enthält.

Die Schauspiel, das gegenwärtig in den USA zu beobachten ist, ist eine amerikanische Parabel über die auch in Europa verstärkt stattfindende Verteufelung des Staates und seiner Sozialsysteme – mit allen Mitteln der medialen Manipulation. Und ein erschreckendes Beispiel dafür, wie weit die Macht der Konzerne und ihr Einfluss auf die Politik schon ausgeufert ist. Es ist eine Parabel über den Neoliberalismus.

Mehr zum Thema US-Politik:

– Obamas Chance

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