In der Nachkriegszeit führte die US-Army systematisch geheime Experimente an der eigenen Bevölkerung durch. Die Geschichte dieser biologischen Tests ist bis heute weitgehend unbekannt.
Von Florian Osrainik
Im Rahmen der Nürnberger Prozesse begann am 9. Dezember 1946 auch der Nürnberger Ärzteprozess gegen KZ-Ärzte. Offiziell wurde der Fall als „Vereinigte Staaten vs. Karl Brandt et al.“ bezeichnet. Der NS-Arzt Brandt war der ranghöchste Angeklagte. Anlass waren Verbrechen, insbesondere Menschenversuche, im Namen der medizinischen Forschung im Dritten Reich.
Im Prozess erkannten die Richter das grundsätzlich moralische Problem von Versuchen am Menschen an. Es entstand ein zehn Punkte umfassender Verhaltenskodex, eine ethische Richtlinie für die Durchführung von Experimenten am Menschen. Im Grundsatz fordert der Kodex die freiwillige Zustimmung der Versuchspersonen und untersagt Tests die zum Tod oder zu dauerhaften Schäden führen können. Seit der Urteilsverkündung von 1947 gehört der Nürnberger Kodex zu den ethischen Grundsätzen in der Ausbildung von Medizinern – oder sollte es jedenfalls.
Operation Sea-Spray
Nur wenige Jahre später brach die US-Führung jenen Kodex. Am 9. März 1977 schrieb George C. Wilson in der Washington Post, dass die US-Army 239 geheime Experimente zur biologischen Kriegsführung an der eigenen Bevölkerung durchgeführt hatte. Zweck war es, Erkenntnisse in der Anwendung von biologischen Kampfstoffen sowie in der Verteidigung dagegen zu gewinnen. Die Gesundheit der Bevölkerung wurde weder in den Planungen berücksichtigt, noch in den Dokumenten der US-Army erwähnt. Bei den Experimenten wurden in acht amerikanischen Städten, unter anderem New York, Washington und San Francisco sowie auf mehreren US-Militärbasen, wie in Fort Detrick, verschiedene Bakterien in Freiluftversuchen an Zivilisten und Armeeangehörigen getestet – ohne deren Wissen.
In Washington begannen die Experimente 1949 an nicht genannten Orten und wurden 1965 am Flughafen und dem „Greyhound bus terminal“ fortgeführt. Es war einer der größten Menschenversuche und Angriffe auf den Nürnberger Kodex in der Geschichte, wie Rebecca Kreston im Discover Magazin schreibt.
In New York wurden Keime im U-Bahn-System ausgesetzt und im September 1950 versprühte die US-Navy die Erreger Bacillus globigii und Serratia marcescens in sechs simulierten Attacken rund eine Woche lang aus riesigen Schläuchen von Schiffen vor der Küste von San Francisco. Durch die Tests bildeten sich bis zu zwei Meilen lange Wolken, dabei wurden sämtliche Parameter dokumentiert, nur das Wohlergehen der Bewohner wurde übergangen. Das Bakterium vermischte sich mit dem Dunst der Stadt und wurde später in mehreren anliegenden Gemeinden von der Navy nachgewiesen. Man schätzte, dass alleine in San Francisco rund 800.000 Einwohner die Keime während der Testphase inhalierten.
Wilson schrieb in seinem Artikel, dass die Army 27 Versuche mit simuliertem Gift in der Öffentlichkeit, darunter auch im Tunnelsystem der Autobahn von Pennsylvania, durchführte. Kurz vor Erscheinen des Artikels in der Washington Post gab die US-Army in einem teilweise zensierten Report an den Gesundheitsausschuss des Senats an, in geheimen Operationen von 1949 bis 1969 angeblich harmlose Bakterien in Freiluftversuchen an Menschen getestet zu haben. Obwohl Präsident Richard Nixon den Gebrauch biologischer Waffen leugnete, geht der Report der US-Army auf die Geschichte des US-Programms zur biologischen Kriegsführung ab 1942 ein, wie Wilson schreibt.
Das Bakterium Serratia
Das theoretisch harmlose Bakterium Serratia marcescens ist dafür bekannt, dass es Brot durch die Herstellung eines roten Pigments blutrot werden lässt und war, auch in Kalifornien, selten. Man findet das Bakterium im Wasser, im Boden, auf Pflanzen und bei Tieren. Die US-Armee ging davon aus, dass der Keim aber nur selten Auslöser von Krankheiten ist. Heute weiß man: Serratia marcescens kann Krankheiten verursachen und stellt für ältere Menschen, Kleinkinder sowie Menschen mit einem schwachen Immunsystem eine Gefahr dar.
Nachdem man die Bevölkerung von San Francisco tagelang mit den Keimen besprüht hatte, wurden in der Folge elf Patienten mit schweren Infektionen der Harnwege gemeldet. An der Stanford Universitätsklinik von San Francisco starb ein Patient, nachdem das Bakterium bis in seine Herzklappe vorgedrungen war. Der Name des Verstorbenen: Edward Nevin. Über mögliche weitere zivile Opfer durch die Tests ist nichts dokumentiert. Da Serratia selten war und im Stanford Universitätshospital bisher nicht vorkam, wurde der Ausbruch der Krankheit umfassend von Forschern der Klinik untersucht und dokumentiert. Die Ursachen der Erkrankungen konnten allerdings nicht identifiziert werden.
Als die Regierung von der Studie erfuhr, wollte man die Spuren der Tests verwischen. Rebecca Kreston schreibt, dass es der erste belegte Ausbruch des Bakteriums in der Geschichte der Mikrobiologie war. Die US-Army berichtete in ihrem Report von drei Mitarbeitern an der US-Basis in Fort Detrick, die in der Folge von Krankheiten starben, nachdem sie in direktem Kontakt mit dem Organismus gewesen waren.
Enthüllung und der Fall Edward Nevin
Über die geheimen Experimente zur biologischen Kriegsführung an der eigenen Bevölkerung gab es, neben detaillierten Zeugenaussagen, in den siebziger Jahren auch Veröffentlichungen in der New York Times und bei Associated Press. Leonard Cole von der Rutgers New Jersey Medical School dokumentierte die verdeckten Tests in seinem Buch „Clouds of Secrecy“, auf das die US-Army nach einer Anfrage aus dem Jahr 2009 über die Experimente von San Francisco verweist. Gemäß Cole inhalierte jeder Einwohner mindestens 5000 Partikel in der Minute und Millionen an Keimen über die ganze Testwoche. Die Öffentlichkeit erfuhr laut Cole aber erst aus einem Zeitungsbericht von 1976 über die ersten Experimente. Nach einem Artikel von Newsday aus dem Jahr 1995 hatte ein Ausschuss des Senats aber schon 1975 von den Tests in New York erfahren.
Im August 1952 wurde eine geheime Untersuchung von General William Creasy, dem Befehlshaber von Fort Detrick in Frederick, Maryland, einem von 1943 bis 1969 für die Entwicklung und Tests mit biologischen Waffen genutzten Standort der US-Army, zur Einschätzung von Serratia marcescens angeordnet. Obwohl man das Bakterium als ursächlich für den Tod von Edward Nevin sah und das Bakterium für die Tests als nicht ideal befand, wurde Serratia marcescens als seltener Auslöser von Krankheiten für weitere Experimente legitimiert.
Es ist wohl dem Enkel von Edward Nevin und den Bemühungen des Newsweek-Journalisten Drew Fetherston zu verdanken, dass die geheimen Tests publik wurden. Fetherston berichtete 1976 von mehreren biologischen Tests der US-Army und der CIA in Großstädten. Seine Recherche wurde vom San Francisco Chronicle aufgegriffen, der wiederum über das verdeckte Experiment berichtete. Ein junger Anwalt in San Francisco las davon. Sein Name: Edward Nevin III, der Enkel von Edward Nevin.
Sein ganzes Leben in der falschen Annahme, dass sein Großvater an einer Nierenerkrankung starb, wollte er Gerechtigkeit. Er schrieb die Regierung an, um die Freigabe entsprechender Dokumente zu verlangen. Trotz des damals erst seit Kurzem in Kraft getretenen „Freedom of Information Act“ und der Berichterstattung über die aufgedeckten Experimente mit der unwissenden Bevölkerung durch die Medien, wurden die Unterlagen als geheim eingestuft und sein Antrag abgelehnt. Im Gegenzug verklagte Nevin die Regierung. Die ging davon aus, dass sie gegen Klagen über grundlegende politische Entscheidungen immun sei. Der Fall wurde für Mitte 1977 angesetzt. In der Folge änderte die Regierung ihre Strategie und gab einige der Information frei. Im Februar 1977 veröffentlichte die US-Regierung das Dokument „U.S. Army Activity in the U.S. Biological Warfare Program, 1942-1977” über Freiluftversuche an der eigenen Bevölkerung.
Der Nürnberger Kodex?
Seit dem Ende des ersten Weltkriegs experimentieren US-Regierungen mit biologischen und chemischen Kampfstoffen. Unter strikter Geheimhaltung häufte die US-Army über die Jahre ein massives Arsenal mit biologischen Waffen an. Die Überwachung der Aktivitäten oblag dem „War Research Service“ unter der Leitung von George W. Merck von der Merck Pharmaceutical Company. Fort Detrick wurde zum US-Hauptquartier in Sachen biologischer Kriegsführung und die Entwicklung und Forschung biologischer Waffen wurde mit der Notwendigkeit für die nationale Sicherheit begründet. Merck warnte, dass die Arbeit in diesem Bereich auch in Friedenszeiten nicht vernachlässigt werden darf.
Nur ein Jahr nach der Operation Sea-Spray veröffentlichte die US-Regierung Hinweise unter den Bürgern, wie man sich im Fall einer Attacke mit biologischen Waffen verhalten soll. Ein solcher Angriff gegen die US-Bevölkerung fand während des Kalten Krieges nie statt.
Das britische Militär führte ein ähnliches Experiment mit biologischen Waffen an der englischen Küste durch. Die wahren Ausmaße der „Angriffe“ auf die eigene Bevölkerung bleiben weiter geheim und der Nürnberger Kodex ungehört.