Der «Buchhalter von Auschwitz»
Schuld und Sühne

Wie weit geht Verantwortung? Was genau ist Schuld? – Überlegungen anlässlich der Geschichte von Oskar Gröning, der als “Buchhalter von Auschwitz” in die Geschichte eingehen wird.

Auschwitz

Foto: Abel Francés Quesada / flickr / CC BY-NC 2.0

Von Walter Beutler

Auf meiner kurzen Reise nach Berlin im vergangenen Monat ist mir die bewegte Vergangenheit dieser Stadt auf Schritt und Tritt begegnet – und mit ihr die Vergangenheit Deutschlands. Gleich mehrere Male besuchte ich die Ausstellung «Topographie des Terrors», in der die Strukturen und die wichtigsten Vertreter des Naziregimes charakterisiert, aber auch der Aufstieg der Nazis, die rasante Gleichschaltung der Bevölkerung und die erbarmungslose Beseitigung zunächst der Gegner, später aller Menschen, die nicht den menschenverachtenden Idealen der Nazis entsprachen, aufgezeigt werden. Wie war es möglich, dass in so kurzer Zeit so viele Menschen sich von einer so zerstörerischen, abstrusen Ideologie verblenden liessen und sich ihr unterwarfen – mehr noch: sie mittrugen? Und worin liegt die Schuld der Mitläufer?

Mit dieser Frage im Bewusstsein wurde ich auf die Geschichte von Oskar Gröning aufmerksam, der – 93-jährig – im voraussichtlich letzten Prozess in Deutschland gegen NS-Täter, in ebendiesen Tagen, als ich in Berlin war, zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Er kann einem Leid tun, der alte, gebrechliche Mann, der sich nur noch auf einen Rollator gestützt fortbewegen kann, und als «Buchhalter von Auschwitz» in die Geschichte eingehen wird. Er ist einer jener verblendeten Deutschen, die zum Mittäter wurden, ohne ein wirkliches Monster zu sein, in denen zeitweise sogar der verstörende Ruf des Gewissens hallte, die dieses Gewissen aber in entscheidenden Momenten verstummen liessen, sei es aus Angst, sei es weil sie sich daraus einen Vorteil erhofften.

Auf dem Weg nach oben

Die Biografie Oskar Grönings ähnelt wohl der Biografie vieler Deutscher, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren wurden: der Vater Kriegsinvalide, die Mutter stirbt, als er vier Jahre alt war, Eintritt zunächst in die Hitlerjugend, später in die NSDAP – durchaus aus Überzeugung. Als Siebzehnjähriger macht er eine Banklehre und tritt nach Kriegsbeginn 1940 aus Patriotismus der Waffen-SS bei, wo er zunächst seiner Ausbildung entsprechend in einer Besoldungsstelle der SS-Verwaltung tätig ist.

Im Jahr 1942 wird ihm eine «Sonderaufgabe» zugewiesen, von der er laut eigenen Angaben zunächst nicht weiss, worum es sich handelt, und in deren Zusammenhang er eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen muss. Er wird im Konzentrationslager Auschwitz mit der Aufgabe betraut, das Geld und die Wertgegenstände zu verwalten, die den Deportierten abgenommen werden.

“Wertgegenstände der Häftlinge wurden in der Effektenkammer des KZ gelagert. Nach der Sortierung des Geldes in die verschiedenen Währungen sicherte er die Devisen in einem Tresor und verbrachte diese in gewissen Abständen in das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt nach Berlin.”[1]

Natürlich muss ihm schnell klar geworden sein, was in Auschwitz geschieht. Die Vernichtungsmaschinerie rattert ja in unmittelbarer Nähe. Doch es regt sich in ihm zunächst kein Widerstand. Zu sehr vertraut er den Vorgesetzten – und dem «Führer».

“Der Gedanke, im falschen Boot zu sitzen, ist mir nicht gekommen.”[2]

Pflichtbewusst erfüllt er sein Amt als Säckelwart, schätzt die Kameradschaft unter den SS-Leuten, ebenso die Annehmlichkeiten, die der Dienst mit sich bringt. Er dient dem Vaterland und ist auf dem Weg nach oben.

Zeit der Anpassung, Zeit des Duckmäusertums

Bald nach seiner Ankunft wird er ein erstes Mal aushilfsweise als Wachmann an der Rampe eingesetzt, dort wo immer häufiger Züge mit erschöpften, von Durst und Krankheit gepeinigten Juden ankommen. Dort, wo die Verschleppten aus den Viehwaggons getrieben werden, ihr letztes Hab und Gut abgeben müssen und für die industrielle Ermordung aussortiert werden. Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass kein Gepäck weg kommt. Nachdem die Ankömmlinge aussortiert und weitergetrieben worden sind – die einen direkt in die Gaskammern, die anderen in die Gefangenenbaracken –, bleibt auf der Rampe zwischen den Gepäckstücken ein weinender Säugling zurück. Einer der SS-Aufseher packt diesen vor den Augen Grönings an den Füssen und schmettert ihn mit dem Kopf gegen die Motorhaube eines Lastwagens. Gröning ist schockiert, protestiert und wendet sich an den Vorgesetzten, wo er um seine Versetzung bittet.

“Du bist in einen Laden geraten, der stinkt, denkt er. Er unterscheidet zwischen Exzessen durch Einzelne und Massenmord durch das Ganze. Die Exzesse sind für seine Begriffe Barbarei, der Massenmord legitimiert.”[3]

Als man ihm gut zuredet – und an die Verschwiegenheitserklärung erinnert, statt ihn zu versetzen, gibt er klein bei. Es ist nicht die Zeit, dem Gewissen Raum zu geben. Und Rückgrat ist gefährlich, sehr gefährlich. Es ist die Zeit der Anpassung, des Duckmäusertums, und so geht er weiter seinem Dienst nach. Der Schock legt sich, die Krämerseele und ein verblendeter Patriotismus gewinnen wieder überhand.

Doch Oskar Gröning wird mit weiteren Greueltaten konfrontiert und stellt wieder ein Versetzungsgesuch. Erst beim dritten Mal wird dem stattgegeben. Im September 1944, nach zwei Dienstjahren im KZ Auschwitz, wird er in eine Feldeinheit entlassen, kämpft während der Ardennenoffensive gegen die Alliierten und gerät gegen Ende des Krieges in britische Kriegsgefangenschaft.

Nach dem langen Schweigen

Als SS-Mitglied, das in Auschwitz tätig war, taucht er nach dem Krieg auf einer Liste mit dreihundert Deutschen auf, die wegen Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden sollen. Doch die United Nations War Crimes Commission (UNWCC) entscheidet – gedrängt vom britischen Aussenministerium, dem der Wiederaufbau Deutschlands wichtiger ist als eine lückenlose Ahndung der Kriegsverbrechen –, keine weitere Verfahren gegen SS-Leute der niederen Ränge zu eröffnen. In der Folge werden die Verdächtigten ohne Verhandlung oder Auflagen freigelassen.

Oskar Gröning kommt zurück nach Deutschland, findet eine Anstellung als Buchhalter in einer Glasfabrik und steigt später zum Personalchef auf. Er führt ein bürgerliches Leben, mit Ehefrau, zwei Söhnen – und Dackel. Er sammelt Briefmarken und schweigt wie so viele über seine Zeit während des Zweiten Weltkriegs. Erst viele Jahre später kommt die Vergangenheit wieder ans Licht, und zwar in unerwarteter Weise: Ein Briefmarkenkollege beklagt sich an einem Vereinsanlass, dass neuerdings sogar strafrechtlich verfolgt werde, wer den Holocaust leugne. Das sei doch der Hammer. Dabei habe der Holocaust doch gar nie stattgefunden.

“Es ist ein großer Moment im Leben von Oskar Gröning. Eine Explosion, so, als wenn jemand eine Nadel in einen Luftballon sticht, der ans Äußerste gedehnt ist. Gröning sagt: «Ich weiß da etwas mehr, wir können bei Gelegenheit darüber sprechen.» Der Sammlerfreund schenkt ihm ein Buch, «Die Auschwitz-Lüge» des Altnazis Thies Christophersen. Gröning schickt das Buch zurück, er legt ein paar Blätter Papier dazu, Selbstgeschriebenes, seine Antwort auf Christophersen. Ich habe alles gesehen, schreibt er. Die Vergasungen, die Verbrennungen, die Selektionen. In Auschwitz sind 1,5 Millionen Juden ermordet worden. Ich war dabei. Es ist ein Brief an sein Gewissen.”[4]

Nun schreibt Gröning seine Erinnerungen auf, seine Sicht auf die Ereignisse in Auschwitz. Er schweigt nicht mehr, möchte sich verständlich machen. Er möchte Entlastung, Vergebung, Absolution. Doch er erntet – Schweigen, stummes Unverständnis, ja Desinteresse … Seine beiden Söhne, an die er sich zunächst mit seinen Aufzeichnungen und Bekenntnissen wendet, können und wollen ihm die Absolution ebensowenig erteilen wie er sich selbst. Hat er sich überhaupt schuldig gemacht? Er war doch nur eine Rädchen im Getriebe, hat nie einem Juden direkt Leid angetan. Kann allein aus der Tatsache, dass er in Auschwitz als Angestellter tätig war, eine Mittäterschaft abgeleitet werden? Ist er schuldig – oder nur mitschuldig – oder weder noch?

“Der Mensch Oskar Gröning, ein Kästchen im Organigramm von Auschwitz. So sah er das, so sieht er das. Er bleibt einsam mit diesem Blick.”[5]

Es ist nun ein Damm gebrochen. Und es gibt kein Zurück mehr hinter die Mauer des Schweigens. Im November 1984 wird er als Zeuge in einem Prozess gegen einen SS-Mann vernommen – und für seine Kooperationsbereitschaft, für seine Offenheit gelobt. Seine bereitwilligen Auskünfte haben die Verurteilung des SS-Mannes zu lebenslanger Haft ermöglicht. Zu diesem Zeitpunkt gilt er als juristisch unschuldig. Doch wie ist das mit seiner moralischen Schuld? Er hat darauf keine Antwort – und sucht sie doch schon so lange. Ohne diese Antwort kann Oskar Gröning nicht ins Reine kommen, nicht mit sich, nicht mit seiner Umgebung, nicht mit seiner Vergangenheit – nicht mit dem Leben.

***

Am 15. Juli 2015 wird Oskar Gröning nach einem viermonatigen Prozess der Beihilfe zum Mord in 300’000 Fällen schuldig gesprochen und zu vier Jahren Haft verurteilt. Dank einer juristischen Neubewertung ist seit wenigen Jahren die Verurteilung zur Beihilfe am Massenmord auch möglich, ohne dass eine direkte Tatbeteiligung nachgewiesen werden muss. Er genügt, dass der Beschuldigte Teil einer Tötungsmaschinerie ist, also das berühmte und vielfach bemühte Zahnrädchen – und sei es zum Beispiel als Koch, der für die Ernährung der Schergen sorgt. Allein schon dies kann fortan zu einer Anklage führen.

Oskar Gröning hat detailliert Auskunft über die Vorgänge in Auschwitz gegeben. Gleich am ersten Verhandlungstag bekannte er sich zu einer «moralischen Mitschuld», zeigte Reue und bat die Opfer um Vergebung. Womöglich hat der Prozess und die juristische Neubewertung von Mittäterschaft auch in Grönings selbst für Klärung gesorgt. Womöglich kann jetzt Oskar Gröning ins Reine kommen.

Könnte die Geschichte Oskar Grönings stellvertretend für die Geschichte vieler Deutscher jener Generation stehen, die sich nicht dagegen wehrten, ein Spielball der Geschichte zu sein, und dadurch mitschuldig wurden – und die, hätten sie in ihrer Vielzahl Rückgrat gezeigt, das monströse Regime hätten stoppen können? Wie hätte ich mich als Mitglied jener Generation in Deutschland verhalten? Hätte ich jenen Todesmut gehabt, den ich hier vom Schreibtisch aus unschwer behaupten kann? Hinzu kommt die Verblendung, jener überdrehte Patriotismus, der den Massenmord an den Juden als patriotischen Akt erscheinen liess, als Selbstverteidigung. Es muss diese Verblendung sein, die unentschuldbar ist. In Nazideutschland muss es für den Bürger drei Optionen gegeben haben: Widerstand (und möglicher Tod), Exil – oder Mitschuld.


Anmerkungen:

[1] Wiki-Artikel über Oskar Gröning
[2] Hans Holzhaider, «Meine Schuld», in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Juli 2015, online nicht frei verfügbar
[3] Matthias Geyer, «Der Buchhalter von Auschwitz», Der Spiegel vom 5. Mai 2015
[4] ebenda
[5] ebenda

Artikelbild: Abel Francés Quesada / flickr / CC BY-NC 2.0

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Ein Kommentar zu "Der «Buchhalter von Auschwitz»
Schuld und Sühne"

  1. Anja Böttcher sagt:

    “In Nazideutschland muss es für den Bürger drei Optionen gegeben haben: Widerstand (und möglicher Tod), Exil – oder Mitschuld.”

    Ich denke, auf die Ebene der Alltagssituation vieler “kleiner Leute” übertragen, die sich durch ihre soziale Position eher als politisch wenig ausschlaggebende Personen erfuhren, ist die oben skizzierte Optionentrias zu holzschnittartig.

    Nehmen wir Exil: Die prototypischen Exilanten (von den jüdischen ausgenommen) waren in der Regel akademisch gebildet, verfügten – notwendigerweise – über Kontakte in anderen Staaten, die für sie bürgten (was meist für eine Aufnahme von den Zielländern absolut essentiell waren) und waren tendenziell weniger familiär eingebunden (etwa aus Altersgründen) als NIcht-Exilanten. Dazu kamen aber viele Flüchtlinge, die schlichtweg aus Nazideutschland in Nacht- und Nebelaktionen fliehen mussten, weil sie die Henker im Nacken fühlten, nachdem sie aufgrund als konspirativ bewerteter Aktivitäten und Kontakte aufgeflogen waren. (Das Wort “Entscheidung” trifft hier für die Flucht in ein anderes Land nicht, da viele dieser Menschen nie freiwillig gegangen wären.)

    Widerstand: Was aber rangiert unter Widerstand, wenn jemand sich nicht in der Position befindet, dem Regime ernsthaft schaden zu können? Sabotageakte in der Rüstungsindustrie? Oder bereits die heimliche Zusatzversorgung ausgemergelter Zwangsarbeiter? Das Verstecken von Menschen? Oder schon das subversive Aufrechterhalten alternativer sozialer und politischer Netzwerke im Verborgenen? Alleine die Sopade-Berichte, die ja auf den Alltagsbeobachtungen unzähliger vieler miteinander noch lose vernetzter Genossen beruhten, dokumentieren ja, dass es das durchaus im größeren Umfang gab. Auch auf regionaler oder lokaler Ebene, in bestimmten Berufsfeldern usw. gab es heimliche dezidiert nicht-nazistische soziale Verbundnetze, in denen sich Menschen gegenseitig stützten, aber auch bemühten, anderen Verfolgten oder Zwangsarbeitern solidarisch Hilfe zukommen zu lassen.

    Aber auch für Nicht-Organisierte gab es im Alltag immer noch beschränkte Handlungsoptionen, sich den moralischen Zumutungen des Systems zu entziehen oder unterzuordnen. Selbst im Krieg. Auch eine totalitäre Staatsmacht kann das Verhalten der Menschenmasse, auf die sie zugreifen kann, nicht komplett diktieren. Selbst im Krieg nicht vollständig, wobei die durch die Kriegsmaschinerie institutionell abgesicherte Gewalteskalation hier die wenigstens Möglichkeiten des Ausscherens erlaubt, höchstens die des Sich-Entziehens vor den schlimmste Zumutungen, welches dennoch nicht unbedingt gezielt reflektiert werden muss.

    Mir fällt hierzu eine im familiären Umkreis erfolgte Schilderung ein, die ich für ziemlich exemplarisch fand: Mein Großvater, Funker bei einer Versorgungseinheit der Kurlandarmee, erzählte immer wieder, ab 1942 seien bei seiner Einheit ständig Werber aufgetaucht, die Freiwillige für Einsätze gesucht hätten, die nicht nur mit einem höheren Rang, sondern einem erheblich höheren Anteil an Heimaturlaub vergolten gewesen wären. Hierzu äußerte er: “Und da wusste jeder anständige Mensch, dass er stur auf den Boden gucken musste, bis diese Leute wieder weg waren.” Fragen, was er denn glaubte, was diese Freiwilligen hätten tun sollen, brachten keine wesentlich konkreteren Ergebnisse als “Man hörte so allerhand Gerüchte” und die Bemerkung “Darüber sprach man aber besser nicht”. Intuitiv gab es für viele Menschen immer wieder Situationen, in denen sie eine moralische Zumutung spürten und sich dann entscheiden mussten, sich zu entziehen oder sich erwartungskonform zu verhalten.

    Für viele einfache und gewöhnliche, in Familie und Nachbarschaft eingebundene Menschen war es also weniger so, dass sich im Alltag die Haltung zum NS-Regime und seinen Verbrechen als eine einmalige Grundsatzentscheidung gestellt hätte, auf die dann eine monolithische Charakterprägung erfolgt wäre, die in der Folge ein der Entscheidung entsprechendes widerspruchsfreies Verhaltensmuster ‘aus einem Guss’ hätte prägen können, sondern die Konfrontation mit den Erwartungen des Systems bestand vielmehr aus vielen punktuellen Entscheidungssituationen, die teilweise zu auch oft widersprüchlichen Verhaltensreaktionen führen konnten.

    Ich denke, dass bei vielen Menschen, die sich nicht als Anhänger Hitlers und des Nazismus empfanden, sich in der Summe das Verhalten im NS einerseits aus einer Vielzahl konformer, andererseits aber auch immer wieder einzelnen unterschwellig widerständischer Einzelhandlungen zusammensetzt. Oft ist eine scharfe Unterscheidung von Menschen nach der obigen Typologie ziemlich schwer. Selbst der durchgänig dem sozialdemokratischen oder kommunistischen Untergrund verhaftete Deutsche funktionierte in der Regel als Soldat eben auch als “Rädchen im Getriebe”, der es vielleicht schaffte, selbst aktiv nicht an ausgesprochenen Kriegsverbrechen beteiligt zu sein. Noch unklarer ist das Gesamtbild bei vielen, die sich weniger scharf hätten politisch positionieren können. Statt Schwarz und Weiß ergibt der geschärfte Blick doch viel komplexere Grauschattierungen.

    Jeder Versuch einer historischen Rekonstruktion findet sich zudem mit der Schwierigkeit konrontiert, dass selbst aufrichtigste Zeitzeugen, die um eine redliche Rekapitulation ihrer Erlebnisse bemüht sind, natürlich dazu neigen, die sie entlastenden Handlungsentscheidungen klarer zu erinnern als diejenigen, die schambesetzt sind (aber noch unterhalb der Schwelle wirklich traumatischer Ereignisse liegen).

    Der tagtägliche schäbige kleine Verrat an uns selbst, den totalitäre Herrschaft, im Alltag zigfach von Menschen einfordert, die an jeder Hecke einen Bückling vor Gesslers Hut machen müssen, ist das allererste, was nach dem blutigen Ende der Tyrannenherrschaft im milden Meer des Vergessens verschwindet. Es sind aber die vielen harmlosen kleinen Feigheiten, die Menschen unnötig begehen, die das moralische Fundament so zum Schmilzen bringen, sodass es ihnen in den entscheidenden Situationen, in denen es wirklich um Tod und Leben, um Beihilfe zum Mord oder ihrer Verweigerung geht, nicht mehr zur Verfügung steht.

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